Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.10.2020, Az.: 1 MN 47/20
Abänderung; Abwägung; Bebauungsplan; Normenkontrolleilverfahren; Prognose
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 28.10.2020
- Aktenzeichen
- 1 MN 47/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71835
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs 7 BauGB
- § 214 Abs 3 S 2 BauGB
- § 47 Abs 6 VwGO
- § 80 Abs 7 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Grundsätze des § 80 Abs. 7 VwGO sind entsprechend auf Beschlüsse nach § 47 Abs. 6 VwGO anwendbar.
Von der Möglichkeit, Beschlüsse nach § 47 Abs. 6 VwGO über die Fallkonstellationen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hinaus von Amts wegen zu ändern, macht der Senat auf neuen Sachvortrag hin nur ausnahmsweise Gebrauch, etwa wenn sich diese entweder als evident unrichtig erweisen oder schlechthin unerträgliche Nachteile der bislang unterlegenen Partei mit sich bringen.
Zur Möglichkeit, eine vom Rat seiner bauleitplanerischen Abwägungsentscheidung zugrundegelegte Prognose im gerichtlichen Verfahren zugunsten der planenden Gemeinde zu korrigieren.
Tenor:
Der Antrag der Antragstellerin,
den Beschluss des Gerichts vom 15.07.2020 über die Außervollzugsetzung des Bebauungsplans Nr. 100 „E.“ aufzuheben,
wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens; außergerichtliche Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird auf 75.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Der Abänderungsantrag der Antragstellerin - Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens - hat keinen Erfolg.
Richtig ist der Ansatz der Antragstellerin, dass Entscheidungen nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht unabänderlich sind. Dies folgt zwar entgegen ihrer Auffassung nicht aus § 148 VwGO. Der Senat wendet aber mit der h.M. (BVerwG, Beschl. v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 -, BRS 83 Nr. 190 = juris Rn. 9; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz in Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 622 f.; Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand d. Bearb.: Februar 2016, § 47 Rn. 186; Kerkmann/Huber, in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 47 Rn. 195) die Grundsätze des § 80 Abs. 7 VwGO zur Abänderung einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes getroffenen Entscheidung entsprechend auf Beschlüsse nach § 47 Abs. 6 VwGO an. Danach besteht ein Anspruch auf erneute Entscheidung über einen (Normenkontroll-)Eilantrag nur, wenn ein Beteiligter dies unter Berufung auf veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragt. Solche Umstände enthält das Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 17. August 2020 nicht; vielmehr versucht die Antragstellerin, die tragenden Entscheidungsgründe des Senatsbeschlusses vom 15. Juli 2020 mit Vortrag in Frage zu stellen, der ihr auch schon vor Erlass dieser Entscheidung, als Reaktion auf das den Erwägungen des Gerichts im Wesentlichen entsprechende Vorbringen des Antragsgegners, möglich gewesen wäre.
Unberührt davon bleibt die Möglichkeit des Senats, auf der Grundlage des neuen Vortrags der Antragstellerin analog § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen und ohne Bindung an Beschwerdefristen seine Entscheidung erneut auf den Prüfstand zu stellen. Sein diesbezügliches Ermessen übt der Senat allerdings dahingehend aus, dass er die Abänderung einer einmal getroffenen Normenkontrolleilentscheidung nur ausnahmsweise in Betracht zieht, etwa wenn der neue - nicht unverschuldet verspätete - Sachvortrag diese Entscheidung entweder als evident unrichtig erscheinen lässt oder schlechthin unerträgliche Nachteile der bislang unterlegenen Partei aufzeigt. Daran fehlt es vorliegend; vielmehr stellt das neue Vorbringen der Antragstellerin die Gründe des Beschlusses vom 15. Juli 2020 nicht durchgreifend in Frage.
Der Senat hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass der angegriffene Bebauungsplan sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als unwirksam erweisen werde, da er unter einem nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlichen Abwägungsfehler beruhe. Der Rat der Antragstellerin sei davon ausgegangen, dass die planbedingte Verkehrsbelastung auf der Straße „E.“ maximal 1000 Kfz/Tag betragen werde. Die dem zugrundeliegende Prognose sei allerdings fehlerhaft, da ihr eine mit 138 Einheiten nicht hinreichend konservative Annahme zur Anzahl der im Plangebiet entstehenden Wohneinheiten zugrunde liege. Dass der Rat der Antragstellerin bei einer höheren Verkehrsbelastung der Straße „E.“ den Plan so nicht beschlossen hätte, sei nicht auszuschließen.
Ohne Erfolg hält die Antragstellerin dem entgegen, die Annahme, Zweifamilienhäuser würden in den Wohngebieten WA 2-5 nicht oder jedenfalls nur in vernachlässigenswertem Umfang entstehen, lasse sich auf entsprechende Erfahrungswerte in vergleichbaren vorhandenen Baugebieten stützen. Diese Kritik berücksichtigt nicht, dass die gegenwärtige bzw. zum Abwägungszeitpunkt bestehende Nachfrage nach Wohnraum und damit der Druck, Baugrundstücke optimal auszunutzen, gegenüber den frühen 2010er Jahren oder gar früheren Jahrzehnten gestiegen ist, so dass die Ausnutzung vorhandener Baugebiete mit der zu erwartenden Ausnutzung neuer Gebiete nicht ohne weiteres vergleichbar ist. Die Antragstellerin betont selbst den erheblichen Siedlungsdruck, der sie zu ihrer Planung bewogen habe. Im Übrigen lässt das Vorbringen der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 17. August 2020 nicht erkennen, ob die Maßfestsetzungen für die als Vergleichsgrundlage herangezogenen Baugebiete eine ähnlich großzügige Ausnutzung der Baugrundstücke ermöglichen wie der angegriffene Bebauungsplan. Der Schriftsatz setzt sich auch nicht mit der Erwägung des Senats auseinander, die Antragstellerin habe in der Abwägung der Einwendungen des Antragsgegners selbst ausgeführt, sie strebe die Entwicklung eines klassischen Ein- und Zweifamilienhausgebietes an und sei auf die Anregung des Landkreises Ammerland, die Begrenzung der Wohnungszahl baugrundstücksbezogen festzusetzen, nicht eingegangen.
Ebenfalls ohne Erfolg versucht die Antragstellerin - zwar nicht in ihrem Schriftsatz, wohl aber in der von ihr eingereichten Stellungnahme des Ingenieurbüros F. vom August 2020 - ihre eigene Annahme zu relativieren, pro Wohneinheit fielen täglich 10 Kfz-Bewegungen an. Abgesehen davon, dass das Ingenieurbüro selbst angibt, diesem Wert lägen nach Angaben des Bauamtes der Antragstellerin Erfahrungswerte zugrunde, ist der Senat aus Rechtsgründen gehindert, diesen Wert nach unten zu korrigieren. Verkehrsprognosen sind nur eingeschränkt behördlich überprüfbar. Liegen ihnen sachverständige Berechnungen zugrunde, so sind diese darauf zu kontrollieren, ob sie nach einer geeigneten Methode durchgeführt wurden, ob der zugrunde gelegte Sachverhalt zutreffend ermittelt wurde und ob das Ergebnis einleuchtend begründet ist (BVerwG, Urt. v. 13.10.2011 - 4 A 4001.10 -, BVerwGE 141, 1 = juris Rn. 59). Bei einfacheren, auf Erfahrungswerten statt Berechnungen beruhenden Prognosen genügt es, dass die Prognose vertretbar erscheint. So verhält es sich bei der Annahme von 10 Kfz-Bewegungen je Tag und Wohneinheit; dass die Prognose niedrigerer Werte, wie sie das Ingenieurbüro F. in seiner Stellungnahme vom August 2020 detailliert vornimmt, ebenso vertretbar gewesen wäre oder gar nähergelegen hätte, ändert daran nichts. Für die Behauptung der Gutachter, der Wert von 10 Bewegungen/WE/Tag beinhalte einen Sicherheitszuschlag, der gerade auch eine zu niedrig angesetzte Anzahl von Wohneinheiten habe kompensieren sollen, spricht in den ursprünglichen Gutachten nichts. Der Rat der Antragstellerin ist nicht gehindert, in einer neuen Abwägungsentscheidung eine neue Prognose anzustellen und darin einen niedrigeren Wert zu prognostizieren; der Senat kann ihm dies jedoch nicht abnehmen, um seinerseits unvertretbar niedrig prognostizierte Eingangswerte an anderer Stelle des Gutachtens (Anzahl der Wohneinheiten) zu kompensieren.
Der Einwand der Antragstellerin, selbst bei einer Anzahl von 1820 Kfz-Bewegungen liege der Kfz-Verkehr auf der Straße E. noch deutlich im Rahmen desjenigen Verkehrs, den die RASt 06 für Wohnstraßen oder gar Sammelstraßen zugrunde lege, dürfte als Angriff auf die Erwägung des Senats zu verstehen sein, der Fehler bei der Verkehrsprognose sei nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlich, da er möglicherweise das Abwägungsergebnis beeinflusst habe. Als solcher geht er jedoch fehl. Der Senat hat die Abwägungsrelevanz der Verkehrsbelastung der Straße E. nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit nach der RASt 06, sondern unter Lärmschutzgesichtspunkten bejaht; hierzu verhält sich der Schriftsatz der Antragstellerin nicht. Wenn das Ingenieurbüro F. in seiner Stellungnahme ausführt, das Anliegen der Antragstellerin, den Zusatzverkehr auf der Straße E. auf 1000 Kfz/Tag zu begrenzen, sei politisch motiviert gewesen, legt sie letztlich selbst dar, dass eine Überschreitung dieses Wertes die Entscheidung des Rates hätte beeinflussen können. Mehr fordert § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 u. 3, 162 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Maßstab ist das Interesse der Antragstellerin an einer vorgezogenen Ausnutzung des Plans. Das Interesse einer Gemeinde am Bestand eines Bebauungsplans beziffert der Senat in Nr. 15 seiner Streitwertannahmen (NdsVBl. 2002, 192 = NordÖR 2002, 197) mit 5.000 bis 150.000 €. Mit Blick auf die Größe des hier geplanten Baugebiets ist ein Hauptsachestreitwert von 150.000,- € angemessen, der hier mit Blick auf den vorläufigen Charakter des Verfahrens zu halbieren war.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).