Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.10.2020, Az.: 10 ME 207/20
Impfdokumentation; Impfschutz; Kindergarten; Kindertagesstätte; Masern; Masern-Schutzimpfung; Masernimpfung; Nachweis; Zugang
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 09.10.2020
- Aktenzeichen
- 10 ME 207/20
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2020, 71948
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 08.09.2020 - AZ: 13 B 2369/20
Rechtsgrundlagen
- § 20 Abs 9 IfSG
- § 20 Abs 8 IfSG
Tenor:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 13. Kammer - vom 8. September 2020 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die Beschwerde des am 26. Februar 2017 geborenen Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
Aus den vom Antragsteller zur Begründung seiner Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Senat sich gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, ergeben sich keine Zweifel an der Richtigkeit des Beschlusses des Verwaltungsgerichts, mit dem dieses seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel des Zugangs zu seiner Kindertagesstätte ohne eine Masern-Schutzimpfung zu Recht abgelehnt hat.
Denn der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht, da er keinen Anspruch auf Zugang zu der von ihm gewünschten Kindertagesstätte hat, in der ihm auch bereits ein Kindergartenplatz zugewiesen worden ist, ohne den gemäß § 20 Abs. 8 und 9 Infektionsschutzgesetz erforderlichen Nachweis eines ausreichenden Impfschutzes gegen Masern, einer Immunität gegen Masern oder einer medizinischen Kontraindikation gegen die Masern-Schutzimpfung, für den nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Infektionsschutzgesetz eine Impfdokumentation oder ein ärztliches Zeugnis über das Bestehen eines ausreichenden Impfschutzes gegen Masern (Nr. 1) oder ein ärztliches Zeugnis über das Vorhandensein einer Immunität gegen Masern oder einer medizinischen Kontraindikation gegen diese Impfung (Nr. 2) oder die Bestätigung einer staatlichen Stelle, dass ein entsprechender Nachweis nach Nummer 1 oder Nummer 2 bereits vorgelegen hat (Nr. 3), vorzulegen ist.
Dies ergibt sich bereits daraus, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, dass die Vorlage der genannten Unterlagen gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist und das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen des Infektionsschutzgesetzes in seinem Beschluss vom 11. Mai 2020 (- 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20 -, juris) nicht festgestellt hat, weil es im Hinblick auf die offenen Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerden eine Folgenabwägung zulasten der Beschwerdeführer vorgenommen hat.
Es kann dahinstehen, ob in einem solchen Fall überhaupt noch Raum bleibt für eine Prüfung der Verfassungswidrigkeit der verfahrensgegenständlichen Norm durch die Verwaltungsgerichte. Denn diese Prüfung ist im Eilverfahren jedenfalls auf evidente Verfassungsverstöße beschränkt, die hier nicht erkennbar sind.
Zu dem Prüfungsmaßstab in einem Eilverfahren hat der 7. Senat des erkennenden Gerichts (Beschluss vom 13.09.2017 - 7 ME 77/17 -, juris Rn. 5; ihm folgend der 12. Senat, Beschluss vom 03.07.2019 – 12 MC 93/19 -, juris Rn. 16 und 17) ausgeführt:
„Im Eilverfahren sind an die Nichtanwendung eines Gesetzes im formellen Sinn durch das Fachgericht wegen Annahme seiner Grundgesetzwidrigkeit mit Blick auf das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (Art. 100 Abs. 1 GG) und des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes (Art. 54 Nr. 4 Nds. Verf) hohe Anforderungen zu stellen. Bei förmlichen Gesetzen fehlt den Fachgerichten zwar nicht die Prüfungskompetenz, sie haben aber keine Verwerfungskompetenz, sondern sind zur Vorlage jedenfalls im Hauptsacheverfahren verpflichtet. Das Fachgericht darf Folgerungen aus der von ihm angenommenen Verfassungswidrigkeit erst ziehen, wenn diese vom Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG festgestellt ist. In Eilverfahren gerät die entsprechende Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG allerdings in Konflikt mit der Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Vorläufiger Rechtsschutz kann daher unter Umständen auch ohne die im Hauptsacheverfahren erforderliche Vorlage gewährt werden, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.6.1992 - 1 BvR 1028/91 -, juris LS 2 u. (Kammer-) Beschl. v. 15.12.2011 - 2 BvR 2362/11 -, juris Rn. 5; Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 123 Rn. 13 ff.; Eyermann/Happ, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 123 Rn. 57; Posser, VwGO, 1. Aufl. 2008, § 123 Rn. 163 ff.; Bader u. a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 80 Rn. 95; krit. Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Loseblatt, § 123 Rn. 127 ff.). Die obergerichtliche Rechtsprechung sieht dies aber nur in engen Grenzen als angängig an; die „Selbstermächtigung“ des Gerichts zur Verwerfung und Nichtanwendung einer als verfassungswidrig erkannten Norm im Eilverfahren muss die Ausnahme und auf Fälle evidenter Verfassungsverstöße beschränkt bleiben (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 21.2.2013 - 2 NB 20/13 -, juris; Beschl. v. 21.12.2006 - 2 NB 347/06 -, OVGE 50, 402; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 10.10.2001 - 3 NC 150/00 -, NVwZ-RR 2002, 747 [OVG Hamburg 10.10.2001 - 3 Nc 152/00]).“
Der Senat folgt dieser Auffassung, gegen die der Antragsteller keine substantiierten Einwendungen erhoben hat. Soweit er gegen die Beschränkung auf evidente Verfassungsverstöße anführt, dass es hier um Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch die Masernimpfung gehe und der Rechtsschutz dagegen leerliefe, wenn die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage auf evidente Verfassungsverstöße beschränkt sei, greift dieser Einwand schon deshalb nicht, weil der Antragsteller insoweit von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgeht. Denn hier geht es nicht um eine Masernimpfung gegen den Willen des Antragstellers bzw. seiner Eltern, sondern lediglich um die Frage, ob der Antragsteller Zugang zu dem von ihm gewünschten Kindergarten hat ohne eine der geforderten Bescheinigungen vorzulegen.
Von einer evidenten Verfassungswidrigkeit der oben genannten Normen des Infektionsschutzgesetzes kann hier jedoch keine Rede sein. Insoweit wird auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2020 (- 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20 -, juris) verwiesen.
Es kann ferner dahinstehen, ob in einem Fall, wie dem vorliegenden, in dem die Verfassungsmäßigkeit der auch hier verfahrensgegenständlichen Normen vom Bundesverfassungsgericht als offen angesehen und vom Bundesverfassungsgericht eine Folgenabwägung zulasten der Beschwerdeführer durchgeführt worden ist, noch Raum für eine Interessenabwägung durch die Verwaltungsgerichte bleibt, da diese jedenfalls zulasten des Antragstellers ausginge: Der bloßen Einschränkung des Rechts des Antragstellers auf Betreuung in einer Kindertagesstätte nach dem SGB VIII steht der Schutz der Gesundheit der anderen Kinder in dieser Kindertagesstätte sowie von deren jüngeren, nicht impffähigen Geschwistern und zudem der Schutz vor einer Weiterverbreitung der gefährlichen Masernerkrankung gegenüber, der die Interessen des Antragstellers klar überwiegt. Auch insoweit wird auf dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2020 (- 1 BvR 469/20, 1 BvR 470/20 -, juris Rn. 13 bis 16) verwiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Gerichtskosten werden gemäß § 188 VwGO nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).