Landgericht Oldenburg
Urt. v. 22.10.2008, Az.: 5 O 1466/08

Bibliographie

Gericht
LG Oldenburg
Datum
22.10.2008
Aktenzeichen
5 O 1466/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 44205
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LGOLDBG:2008:1022.5O1466.08.0A

Fundstellen

  • NZV 2008, IV Heft 12 (amtl. Leitsatz)
  • NZV 2009, 36-38 (Volltext mit red. LS)

In dem Rechtsstreit

...

hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg auf die mündliche Verhandlung vom 01.10.2008 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht Kramarz als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Die Klage wird abgewiesen.

  2. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.

  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagten wegen eines Sturzes als Fahrradfahrer in Anspruch.

2

Am 19.06.2007 befuhr der Kläger mit seinem Fahrrad gegen 15.10 Uhr den aus seiner Sicht rechts neben der Straße "Amtsfreiheit" in Harpstedt verlaufenden Radweg. Dieser ist für beide Fahrtrichtungen freigegeben.

3

Ihm begegnete der damals 8 Jahre und 7 Monate alte Beklagte zu 2), der ebenfalls auf dem Fahrrad unterwegs war. Beide Radfahrer stießen zusammen und stürzten. Der Kläger erlitt Hautabschürfungen und Prellungen. Wegen der Einzelheiten wird auf das ärztliche Attest vom 12.10.2007 verwiesen. Außerdem wurde das Fahrrad beschädigt, das der Kläger für 129,90 € reparieren ließ.

4

Der Kläger behauptet, der Beklagte zu 2) sei ihm auf seiner Radweghälfte entgegengekommen. Er habe den Jungen auch nicht vorher sehen können, da der Radweg unstreitig an der Unfallstelle zweifach verschwenkt. Zudem seien Äste von Bäumen und Büschen so weit in die Radweghälfte des Beklagten zu 2) hineingewachsen gewesen, dass dieser auf seine linke Radwegseite ausweichen musste und daher mit dem Kläger zusammengestoßen ist.

5

Der Kläger vertritt den Standpunkt, dass die Beklagte zu 1) als Unterhaltspflichtige für den Radweg ihre Verkehrspflichten verletzt habe. So sei der Bauhof mit der Bemerkung beauftragt worden, an der Unfallstelle die Zweige zurückzuschneiden, weil diese sehr stark in den Rad-/Gehwegbereich hineinragten, wobei insbesondere der untere Bereich sehr stark betroffen sei. Die Zweige sind sodann abgeschnitten worden.

6

Der Kläger beantragt,

  1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 129,90 € sowie ein angemessenes, in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 1 000 € jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.02.2008 zu zahlen.

7

Die Beklagten beantragen,

  1. die Klage abzuweisen.

8

Die Beklagte zu 1) vertritt den Standpunkt, dass sie ihre Verkehrspflichten nicht verletzt habe. Die Zweige seien bereits von weitem sichtbar gewesen.

9

Der Beklagte zu 2) behauptet, der Kläger hätte ihn sehen müssen und wenn überhaupt sei der Unfall durch die in den Radweg hinragenden Äste verursacht worden.

10

Die Akten 523 Js 39718/07 der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Oldenburg lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage hat keinen Erfolg. Der Kläger kann für seinen bedauerlichen Unfall die beiden Beklagten nicht verantwortlich machen.

12

Eine Haftung des Beklagten zu 2) kommt nach § 823 BGB in Betracht. Danach hat derjenige Schadensersatz zu leisten, der ein fremdes Rechtsgut wie Gesundheit und Eigentum eines anderen widerrechtlich und schuldhaft verletzt.

13

Hier fehlt es an einem Verschulden des Beklagten zu 2). Ob ein Minderjähriger schuldhaft handelt, ist nach § 828 BGB zu beurteilen. Danach haftet ein Minderjähriger bis zum 7. Lebensjahr überhaupt nicht. Diese Grenze hat der Beklagte zu 2) um gut 1 1/2 Jahre überschritten. In Absatz 2 des § 828 BGB ist geregelt, dass ein Minderjähriger, der das 7., aber noch nicht das 10. Lebensjahr vollendet hat, bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug nur bei Vorsatz haftet. Bei dem hier vorliegenden Unfall unter Radfahrern ist dieser Absatz nicht unmittelbar anwendbar. Maßgebend ist vielmehr Absatz 3 des § 828 BGB, wonach der Minderjährige für einen Schaden dann nicht verantwortlich ist, wenn ihm die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht fehlt.

14

Es stellt sich also hier die Frage, ob ein knapp 9 Jahre altes Kind so verkehrstauglich ist, dass es die Gefährlichkeit des Passierens einer Engstelle mit Sichtbehinderung auf einem Radweg erkennt und darauf angemessen reagiert.

15

Bei erneuter rechtlicher Überprüfung verneint der zur Entscheidung berufene Richter die Verantwortlichkeit des Beklagten zu 2) aus folgenden Gründen:

16

Der Gesetzgeber hat in zwei den Straßenverkehr betreffenden Vorschriften sich deutlich zu der Verkehrstauglichkeit von Kindern geäußert. In § 2 Abs. 5 StVO ist geregelt, dass Kinder bis zum vollendeten 8. Lebensjahr mit ihren Fahrrädern Gehwege benutzen müssen, bis zum vollendeten 10. Lebensjahr benutzen dürfen.

17

Der Zusatz, dass Kinder bis zum 10. Lebensjahr den Gehweg benutzen dürfen, ist 1997 mit dem Argument in die Verordnung eingefügt worden, dass vor diesem Zeitpunkt die schulische Radfahrausbildung nicht abgeschlossen werden kann (Bundesratsdrucksache 374/97 S. 7, 8).

18

Die Regelung, dass Kinder bis zu 10 Jahren im motorisierten Verkehr nur bei Vorsatz haften, wurde im Jahr 2002 eingeführt. Damit hat der Gesetzgeber die Konsequenz aus der Erkenntnis gezogen, dass Kinder aufgrund ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten regelmäßig nicht vor Vollendung des zehnten Lebensjahres imstande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Dabei spielen typische Eigenschaften von Kindern, wie etwa Lauf- und Erprobungsdrang, Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und gruppendynamisches Verhalten, eine besondere Rolle (Müller VersR 03, 1).

19

Impulsivität und Affekt haben ersichtlich auch bei dem hier zu beurteilenden Unfall eine Rolle gespielt. Der Kläger hat selbst im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren angegeben, dass der Beklagte zu 2) mit hoher Geschwindigkeit und ungebremst die für ihn linke Radwegseite benutzt hat. Der Beklagte zu 2) hat in seiner Anhörung bei der Polizei berichtet, dass es für ihn bergab gegangen sei und er sich habe rollen lassen.

20

Daraus ist zu entnehmen, dass der Beklagte zu 2) durch die Verkehrssituation überfordert war. Er ist einfach unbedacht ausgewichen, ohne zu berücksichtigen, dass hinter der Verschwenkung des Weges Gegenverkehr kommen könnte. Es fehlt kindheitstypisch das Bewusstsein für gefährliche Situationen. Wenn ein Hindernis kommt, wie es der Kläger in Form der in den Weg hineinragenden Äste beschreibt, weicht ein Kind unbedacht aus. Die konkrete Verkehrssituation an der Unfallstelle stellt sich für ein Kind ebenso da, wie im motorisierten Straßenverkehr. Der Gesetzgeber hat die Fassung des § 828 BGB nicht bewusst und eng ausschließlich für den motorisierten Verkehr verstanden wissen wollen, sondern es steht ein allgemeiner Gedanke für die Haftung von Kindern dahinter (Müller, a.a.O.).

21

Der Beklagte zu 2) war am Unfalltag in einem Alter, von dem der Gesetzgeber annimmt, dass die Verkehrserziehung noch nicht abgeschlossen ist. Schon die Schilderung des Klägers, aber auch die Anhörung des Kindes führen zu der Erkenntnis, dass der Beklagte zu 2) verkehrstechnisch überfordert war.

22

Eine Haftung der Beklagten zu 1) kommt nach § 839 BGB in Betracht. Danach haftet eine Kommune nach Amtshaftungsgrundsätzen, wenn sie ihren Pflichten nach § 10 NdsStrG verletzen.

23

Nach dieser Norm obliegen der Bau und die Unterhaltung der öffentlichen Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen sowie die Überwachung ihrer Verkehrssicherheit den Organen und Bediensteten der damit befassten Körperschaften als Amtspflicht in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit. Diese öffentlichrechtlich gestaltete Amtspflicht zur Sorge für die Verkehrssicherheit entspricht inhaltlich der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht (vgl. BGHZ 60, 54 = NJW 1973, 460; Kodal, StraßenR, 3. Aufl., S. 999). Ihr Umfang wird dabei von der Art und der Häufigkeit der Benutzung des Verkehrsweges und seiner Bedeutung maßgebend bestimmt. Sie umfasst die notwendigen Maßnahmen zur Herbeiführung und Erhaltung eines für den Straßenbenutzer hinreichend sicheren Straßenzustandes. Grundsätzlich muss sich der Straßenbenutzer allerdings den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet. Der Verkehrssicherungspflichtige muss in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag ( BGH NJW 80, 2193, 2194; 79, 2043, 2044) .

24

Dabei kann eine mit zumutbaren Mitteln nicht erreichbare völlige Gefahrlosigkeit nicht verlangt werden (Sörgel/Zeuner, BGB, 12. Aufl., § 823 Rdnr. 195 mwNw.; Geigel/Schlegelmilch, Der Haftpflichtprozeß, 23. Aufl., 14. Kap. RN 37).

25

Aus dem vorgetragenen Sachverhalt und dem Inhalt der Strafakten kann nicht mit dem genügenden Grad an Gewissheit entnommen werden, dass die sichtbehindernden Zweige eine Gefahrenstelle in einem solchen Maß darstellten, dass der übliche und durchschnittliche Nutzer des Geh- und Radweges sich nicht darauf einstellen konnte. So ist nicht bekannt, wann der Radwegnutzer erkennen konnte, dass ein Ausweichen notwendig war. Weiter ist nicht bekannt, wie weit die Zweige in den Weg hineinreichten. Zwar heißt es in dem Bericht an den Bauhof, dass die Zweige sehr stark hineinragten und zwar insbesondere im unteren Bereich. Daraus kann aber nicht entnommen werden, ob im mittleren bis oberen Bereich der Oberkörper und der Kopf von Radfahrern so verdeckt waren, dass der übliche Radfahrerverkehr diese Stelle trotz der gebotenen Aufmerksamkeit nicht mehr gefahrlos meistern konnte.

26

Aus dem Umstand, dass die Zweige nach dem Unfall zurückgeschnitten wurden, kann nicht auf einen haftungsbegründenden Zustand geschlossen werden. Dem Verkehrspflichtigen bleibt es unbenommen,, einen nicht pflichtwidrigen Zustand zu verbessern ( OLG Hamm VersR 83, 466; PWW/Kramarz, BGB, 3. Aufl., § 839 Rn 136).

27

Es bleibt offen, ob die Zweige wirklich für den Unfall kausal waren, zumal der Beklagte zu 2) in seiner Anhörung gesagt hat, dass er den Kläger "übersehen" hat.

28

Ungeklärt bleibt auch die genaue Unfallstelle. Nach dem Polizeibericht im Ermittlungsverfahren und den Schilderungen des Klägers geschah der Unfall beim Durchfahren der Verschwenkung. Das ist nicht dasselbe wie eine durch Zweige verursachte Engstelle. Dem Polizeibericht lässt sich nur entnehmen, dass der Beklagte zu 2) keine Sicht auf den weiteren Verlauf des Radweges hatte.

29

Dass Prellungen und Hautabschürfungen ohnehin nicht die Schwelle erreichen, um ein Schmerzensgeld zuzusprechen, wurde mit den Parteien bereits im Verhandlungstermin erörtert.

30

So gesehen scheitert die Klage daran, dass der Kläger keinen Dritten für seine Schäden verantwortlich machen kann. In dem hier betroffenen Bereich hat ein Geschädigter nur Ansprüche, wenn ein anderer nachweislich pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt hat. Ist das nicht der Fall, sind Einbußen an Rechtsgütern schicksalhaft hinzunehmen. Es verwirklicht dann ein allgemeines Lebensrisiko. Es gibt eben nachteilige Situationen, die man hinnehmen muss, ohne immer einen anderen verantwortlich machen zu können. Die Lebenserfahrung zeigt, dass man gerade als Radfahrer so manchen Sturz erleidet, ohne dass man sich selbst oder einem anderen Vorwürfe machen kann.

31

Die Nebenentscheidungen haben ihre Rechtsgrundlage in den §§ 91, 708 Ziff. 11, 711 ZPO.

Kramarz