Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 07.09.2004, Az.: 2 A 162/03

Beurteilungszeitraum; Hilfe zum Lebensunterhalt; Kraftfahrzeug; PKW; Vermögen

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
07.09.2004
Aktenzeichen
2 A 162/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50738
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Kläger reisten im Dezember 1999 im förmlichen Verfahren als Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid des Grenzdurchgangslagers L. vom 4. Januar 2000 wurden sie der Samtgemeinde M. im Kreisgebiet des Beklagten zugewiesen. Am 8. August 2000 schloss der Kläger zunächst einen befristeten Arbeitsvertrag mit der Fa. N. GmbH in E., der mit Arbeitsvertrag vom 7. Februar 2001 unbefristet weiter geführt wurde. Bereits zum 1. Januar 2001 waren die Kläger von O. nach E. umgezogen. Von Dezember 2001 bis Ende 2002 war der Kläger arbeitslos.

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Am 4. Oktober 2002 beantragten die Kläger bei der in Sozialhilfeangelegenheiten namens und im Auftrage des Beklagten handelnden Stadt E. die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt Eigentümer eines PKW des Fabrikats P., Baujahr 1997, für den das Autohaus Q. GmbH aus E. unter dem 30. Oktober 2002 einen Händlereinkaufswert von 1.925,00 Euro festgestellt hat. Zudem war der Kläger Inhaber eines Bausparguthabens bei der R., das am 31. Dezember 2001 auf 377,27 DM valutierte.

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Mit Bescheid vom 5. November 2002 lehnte die Stadt E. die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt mit der Begründung ab, den Klägern stünde verwertbares Vermögen in einer die Freibeträge übersteigenden Höhe zur Verfügung, sodass Sozialhilfe nicht gewährt werden könne. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. März 2003 zurück. Der anzurechnende Vermögensbetrag belaufe sich auf 224,00 Euro (Wert des PKW 1.925,00 Euro + Wert des Bausparguthabens 192,90 Euro) abzüglich Freibetrag von 1.893,00 Euro), so dass Sozialhilfe nicht bewilligt werden könne.

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Hiergegen haben die Kläger im Wesentlichen mit der Begründung Klage erhoben, der Wert des PKW sei inzwischen gesunken und es seien die Grundsätze des sog. fiktiven Vermögensverbrauchs anzuwenden.

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Nachdem die Kläger zunächst eine Verpflichtung des Beklagten zur Leistungsgewährung ab 4. Oktober 2002 ohne zeitliche Einschränkung begehrt haben, beantragen sie nunmehr nach Vorlage einer entsprechenden Bedarfsberechnung durch den Beklagten,

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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides der Stadt E. vom 5. November 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 31. März 2003 zu verpflichten, ihnen Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat Oktober 2002 in Höhe von 206,33 Euro, sowie für die Monate November und Dezember 2002 in Höhe von jeweils 228,44 Euro zu bewilligen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er ist der Ansicht, den Klägern stünde gegen ihn überhaupt kein Anspruch zur Seite, da sie sich im Zuständigkeitsbereich der Stadt E. entgegen dem Zuweisungsbescheid vom 4. Januar 2000 aufhielten. Im Übrigen betrage der Zeitwert des PKW 3.214,75 Euro. Die Grundsätze des fiktiven Vermögensverbrauchs seien bei der Leistungsbewilligung unbeachtlich und der den gesetzlichen Freibetrag übersteigende Vermögenswert sei dem täglichen Bedarf der Kläger gegenüber zu stellen, da Sozialhilfe quasi täglich zu den dann jeweils vorliegenden Verhältnissen gewährt werde.

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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer - weiteren - mündlichen Verhandlung verzichtet.

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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Stadt E. verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Darin, dass die Kläger ihr Klagebegehren mit Schriftsatz vom 11. September 2003 entgegen ihrem ursprünglichen Ansinnen, das sich auf eine Leistungsbewilligung bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2003 bezog, auf den Zeitraum vom 4. Oktober bis 31. Dezember 2002 beschränkt haben, liegt eine (verdeckte) Klagerücknahme. Insoweit ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und sind den Klägern gemäß § 155 Abs. 2 VwGO die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt an die Kläger haben ab dem 1. Januar 2003 nicht mehr vorgelegen, da ihre Einkünfte ihren sozialhilferechtlich anzuerkennenden Bedarf überstiegen haben. Deshalb handelt es sich bei dem zeitlich eingeschränkten Klageantrag um eine (verdeckte) Klagerücknahme.

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Die zulässige Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

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Der Bescheid der Stadt E. vom 5. November 2002 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 31. März 2003 sind rechtswidrig und den Klägern steht der begehrte Anspruch zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

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Der Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt steht nicht § 3a Abs. 1 des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler (BGBl 1996 I Seite 225, i.d.F. des Gesetzes vom 2. Juni 2000, BGBl I Seite 775) entgegen. Diese Regelung, die den Sozialhilfeanspruch von Spätaussiedlern, die sich außerhalb des ihnen zugewiesenen Aufenthaltsortes aufhalten auf das unabweisbar gebotene Maß beschränkt, endet gemäß § 3a Abs. 2 zwei Jahre nach der Aufnahme des Spätaussiedlers im Geltungsbereich des Gesetzes. Da die Kläger im Dezember 1999 in die Bundesrepublik eingereist sind, endet die einschränkende Regelung mithin im Dezember 2001. Streitgegenständlich ist indes der Zeitraum ab Oktober 2002.

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Die Kläger haben einen Anspruch auf Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt im Zeitraum 4. Oktober 2002 bis 31. Dezember 2002 wie tenoriert, dessen Berechnung sich aus der Anlage zum Schriftsatz des Beklagten vom 27. Juli 2004 ergibt, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird. Diesem Anspruch hält der Beklagte zu Unrecht entgegen, die Kläger hätten im fraglichen Bewilligungszeitraum über Vermögenswerte verfügt, die ihren Bedarf überstiegen hätten.

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Gemäß §§ 11 Abs. 1, 12 i.V.m. 88 BSHG hat nur derjenige Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Über derartige Vermögenswerte verfügten die Kläger im Streitzeitraum in Form des PKW P. (vgl. zur Vermögenseigenschaft eines PKW nur BVerwG, Urteil vom 19.12.1997 -5 C 7.96-, BVerwGE 106, 105 sowie OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.10.2003 -12 ME 342/03) und des Bausparguthabens. Es greifen, wie das Bundesverwaltungsgericht in der zitierten Entscheidung überzeugend ausgeführt hat, hier nicht die Grundsätze des sog. fiktiven Vermögensverbrauchs, so dass sich die Kläger vorhandenes und nicht verwertetes Vermögen stets auf Neue bei der Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt entgegenhalten lassen müssen. Die von den Klägern für ihre Rechtsansicht herangezogene Rechtsprechung der Kammer betrifft eine andere, nicht vergleichbare Sachverhaltskonstellation, nämlich die der Rückforderung von bereits bewilligter Sozialhilfe.

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Dies vorausgeschickt verfügten die Kläger im streitbefangenen Zeitraum über Vermögen im Wert von 2117,90 Euro, wovon der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid vom 31. März 2003 zutreffend ausgeht. Den Wert des PKW nimmt das Gericht dabei auf der Grundlage der individuellen Kaufpreisermittlung durch das Autohaus Q. vom 30. Oktober 2002 mit 1.925,00 Euro an. Soweit der Beklagte im Klageverfahren unter Berufung auf eine allgemeine Wertschätzung einen höheren Wert für zutreffend hält, folgt das Gericht dem nicht. Denn eine derartige, ausschließlich an allgemeinen Wertfaktoren orientierte Wertermittlung lässt individuelle, fahrzeugbezogene Faktoren außer Acht, die jedoch bei der konkreten Wertermittlung durch das Autohaus Q. ihre Berücksichtigung gefunden haben und deshalb den Vorrang genießen.

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Von diesem Vermögenswert ist der sog. kleine Barbetrag nach § 88 Abs. 2 Nr. 8 BSHG i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 1a, Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des § 88 Abs. 2 Nr. 8 des Bundessozialhilfegesetzes, der nach der zitierten Rechtsprechung auf als Vermögen anzusehende PKW entsprechend Anwendung findet, abzuziehen. Diesen Betrag hat der Beklagte zutreffend mit 1.893,00 Euro ermittelt, so dass sich anzurechnendes Vermögen in Höhe von 224,00 Euro ergibt.

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Entgegen der Ansicht des Beklagten steht vorhandenes Vermögen jedoch nicht unabhängig von seiner Höhe der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt entgegen. Die Rechtsansicht des Beklagten würde dazu führen, dass bereits ein einzusetzender Vermögensbetrag in Höhe von 1,00 Euro Hilfe zum Lebensunterhalt in Gänze ausschlösse. Dies kann schon vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund, vor dem Sozialhilfe gewährt wird, nicht sein. Denn die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums, der die Bewilligung von Sozialhilfe dient, wäre bei dieser Rechtsansicht nicht erreicht. Diese Auslegung des Beklagten entspricht auch nicht der einfachgesetzlichen Rechtslage. Denn schon aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG ergibt sich, dass Hilfe zum Lebensunterhalt auch zu gewähren ist, wenn der notwendige Lebensunterhalt nicht ausreichend aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschafft werden kann. Dies erfordert einen Wechselblick zwischen dem jeweiligen Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts einerseits und dem jeweiligen Einkommens- bzw. Vermögenswert auf der anderen Seite. Anders gewendet: Reicht der jeweils zur Verfügung stehende Einkommens- bzw. Vermögensbetrag zur Bedarfsdeckung nicht aus, ist in Höhe der Differenz Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren (so auch BVerwG, Urteil vom 19.12.1997, a.a.O., S. 114 f.). Dieser Rechtslage entspricht die mit Schriftsatz vom 27. Juli 2004 vorgelegte Berechnung des Beklagten, auf die erneut zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird. Sie liegt der ausgeurteilten Verpflichtung zugrunde.

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Schließlich verfängt das Argument des Beklagten nicht, Hilfe zum Lebensunterhalt werde gewissermaßen täglich gewährt und man habe also täglich zu berücksichtigen, ob ein

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- nicht - auf den Tag geteilter Vermögensbetrag der Leistungsgewährung entgegensteht. Auch mit dieser Betrachtungsweise würde ein verfassungsgemäßer Zustand der Existenzsicherung verfehlt. So schließt sich die Kammer deshalb der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts an, dass bei der Hilfe zum Lebensunterhalt als Bedarfszeit, an die die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen nach Maßgabe des Zuflusszeitpunkts anknüpft, jedenfalls dann, wenn dies - wie hier - auch im Übrigen der Berechnungs- und Anrechnungspraxis des jeweiligen Sozialhilfeträgers entspricht, auf den jeweiligen Kalendermonat abzustellen ist (Urteil vom 22.4.2004 -5 C 68/03-, NJW 04, 2608).

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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 3, 188 Satz 2 VwGO. Den Wert des zurückgenommenen Klageteils bemisst die Kammer mit der Hälfte des ursprünglichen Gesamtwertes, da die Kläger den ursprünglichen Streitzeitraum von sechs Monaten auf drei Monate reduziert haben.

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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.