Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 20.09.2004, Az.: 4 A 4121/02
Abschiebungshindernis; Analphabet; Anfechtung; Asylanerkennung; Asylantrag; Asylantragsrücknahme; Asylberechtigter; Ausländerbehörde; Beweislast; Geistesstörung; Geistestätigkeit; Heimatstaat; Krankheit; Nichtigkeit; Rechtsschutzbedürfnis; Russland; Rücknahme; Rücknahmeerklärung; Sprachkenntnisse; Therapie; Therapiekosten; Therapiekostenbedarf; Tschetschenien
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 20.09.2004
- Aktenzeichen
- 4 A 4121/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 51005
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 51 Abs 1 AuslG 1990
- § 53 Abs 6 S 1 AuslG 1990
- § 32 AsylVfG 1992
- § 13 Abs 3 S 2 AsylVfG 1992
- § 14 Abs 2 S 2 AsylVfG 1992
- § 19 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 119 BGB
- § 121 BGB
- § 105 Abs 2 BGB
- Art 3 MRK
- § 53 Abs 6 S 2 AuslG 1990
- § 54 AuslG 1990
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Ein Asylantrag kann auch gegenüber der Ausländerbehörde zurückgenommen werden.
2. Die Anfechtung der Rücknahme des Asylantrages ist regelmäßig ausgeschlossen.
3. Der Ausländer trägt die Beweislast für seine Behauptung, die von ihm erklärte Rücknahme des Asylantrages sei nichtig, weil er sich im Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung in einem Zustand vorübergehender Störung seiner Geistestätigkeit befunden habe.
4. Die Rücknahme des Asylantrages umfasst das Begehren als Asylberechtigter anerkannt zu werden und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 I AuslG vorliegen.
5. Hält der Ausländer seine Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen nach § 51 I AuslG trotz wirksamer Rücknahme des Asylantrages aufrecht, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.
6. Trifft das BAFl keine Entscheidung nach § 32 AsylVfG einschließlich einer neuen Entscheidung nach § 53 AuslG, bleibt die anhängige Klage auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 AuslG auch im Falle der wirksamen Rücknahme des Asylantrages zulässig.
7. Zum Vorliegen eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses nach § 53 VI 1 AuslG im Falle einer 66jährigen chronisch mehrfach erkrankten Analphabetin aus Tschetschenien ohne russische Sprachkenntnisse mit monatlichem Therapiekostenbedarf von 240 Euro.
Tatbestand:
Die 1938 geborene Klägerin ist russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit moslemischen Glaubens und verwitwet. Ersichtlich ist sie Analphabetin und beherrscht ausschließlich die tschetschenische Sprache. Ihr letzter Wohnort sei J. gewesen. Zuvor habe sie sich in K. fast ein Jahr lang bei Bekannten bzw. in Flüchtlingslagern aufgehalten. Zu einem unbekannten Zeitpunkt im März 2002 reiste die Klägerin zusammen mit ihrem Enkel, dem am ... 1978 geborenen Zeugen L. M., der in Tschetschenien Taxifahrer gewesen war, für 1.000 US-$ pro Person von J. aus über K. mit dem Bus aus. Sie wechselte auf Lkw und Pkw. Am ... 2002 wurden die Klägerin und ihr Enkel bei der illegalen Einreise in das Bundesgebiet auf der Bundesautobahn festgenommen. Die Klägerin wurde noch am gleichen Tag mit dem Rettungswagen in das N. Krankenhaus O. -P. eingewiesen, wo sie sich bis zum 2. April 2002 in stationärer Behandlung befand. In dem Arztbrief vom Entlassungstag heißt es:
"Diagnosen
1. Inkarzerierte Narbenhernie im Unterbauch bei Zustand nach Kaiserschnitt (ICD: 45.0).
2. Postop. Entwicklung eines Wundhämatomes im Unterbauch bei Zustand nach Majo-Plastik (ICD: T 81.0).
3. Arterieller Hypertonus (ICD: I 15.9).
4. Diabetes mellitus (diätkontrolliert) (ICD: E 11.9).
5. Latente Herzinsuffizienz (ICD: I 50.9)
Therapie
– Diagnostik incl. Abdomen-Sonographie
– Hernienversorgung mittels Mayo-Plastik am 19.03.2002 (ICPM: 5-536.3).
– Postoperativ tägliche Wundkontrolle sowie Applikation von kühlenden Umschlägen und Reso-Stromtherapie im Hämatombereich."
Am 2. April 2002 sollte die Klägerin in ihr Heimatland zurückgeführt werden. Nach einem Vermerk der Ausländerbehörde des Landkreises Q. in P. scheiterte dies wegen ihres Gesundheitszustandes (Bl. 15 BA B), woraufhin sie mit einem ersichtlich von einem Dritten verfassten (undatierten) Schreiben ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragte, das am 5. April 2004 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge – Bundesamt – einging. Zur Begründung verwies sie auf ihr zerstörtes Wohnhaus in J. und auf einen Genozid an ihrem tschetschenischen Volk.
Zugleich beantragte auch ihr Enkel aus der Sicherungshaft heraus seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung führte er im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt am ... 2002 aus: Die Ausreise habe überwiegend die Klägerin organisiert (Bl. 27 f. BA C). Sein Vater R. M., der auf Seiten der tschetschenischen Rebellen gekämpft habe, sei seit 1995 verschollen. Kurz vor der Ausreise hätten ihn russische Föderationstruppen über seinen verschollenen Vater befragt und ihm – dem Enkel der Klägerin – unterstellt selbst den Rebellen anzugehören. Er sei inhaftiert und wiederholt geschlagen worden. Die Klägerin habe ihn freikaufen müssen. Den Asylantrag des Enkels lehnte das Bundesamt mit einem Bescheid vom 24. April 2002 ab und stellte fest, dass auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes – AuslG – nicht vorliegen. Ferner wurde festgestellt, dass auch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Schließlich wurde dem Enkel die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat, in den er ausreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Die hiergegen vom Enkel erhobene Klage wies das VG Braunschweig mit einem Urteil vom 14. Oktober 2002 unter Hinweis auf das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative ab – 8 A 221/02 –. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit einem Beschluss vom 10. Januar 2003 ab – 13 LA 320/02 –. Nach einem Vermerk der Ausländerbehörde des Landkreises S. äußerte der Enkel der Klägerin am 25. Februar 2003, dass er nicht freiwillig ausreisen werde. Der Aufenthalt des Enkels wird seit 26. Februar 2003 geduldet.
Zur Begründung ihres eigenen Asylantrages führte die Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 7. Mai 2002 aus: Die Russen würden Leute umbringen. Sie habe Probleme wegen ihres Enkels gehabt. Sie habe auf die Knie fallen und bitten müssen, dass man sie in Ruhe lasse. Bei "Säuberungsaktionen" habe sie sich bei Nachbarn im Keller versteckt. Wann die Russen das letzte Mal gekommen seien, könne sie nicht sagen. Die Russen hätten ihr ihren in K. ausgestellten Reisepass abgenommen. Sie hätten sie geschlagen und Geld verlangt. Bei einer Rückkehr nach Russland befürchte sie umgebracht zu werden.
Auch den Asylantrag der Klägerin lehnte das Bundesamt mit einem Bescheid vom 11. Juli 2002 ab (Entscheidung 1)) und stellte fest, dass auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen (Entscheidung 2)). Ferner wurde festgestellt, dass auch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen (Entscheidung 3)). Schließlich wurde der Klägerin die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat, in den sie ausreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Entscheidung 4)). Zur Begründung wird ausgeführt, dass ihr eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation zur Seite stehe. Im Übrigen sei sie über einen sicheren Drittstaat eingereist.
Mit ihrer am 19. Juli 2002 beim Verwaltungsgericht Göttingen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter.
Während des Klageverfahrens unterzeichnete sie am 27. Januar 2004 im Ordnungsamt des Landkreises S. vor der Kreisbediensteten Zeugin T. folgende Verhandlungsniederschrift:
"Ich ... erkläre hiermit, dass ich meinen Asylantrag vom 05.04.2002 zurücknehme und mich freiwillig dazu bereit erkläre, mir einen gültigen Nationalpass zu beschaffen, damit ich anschließend über die IOM aus der Bundesrepublik Deutschland ausreisen kann."
Diese Niederschrift leitete die Ausländerbehörde mit Verfügung vom 27. Januar 2004 an das Bundesamt weiter.
Unter dem 26. Februar 2004 unterzeichnete die Klägerin ein ersichtlich von ihrem Enkel verfasstes Schreiben, das folgenden Wortlaut hat:
"Passangelegenheiten für Rückkehr nach Tschetschenien
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit möchte ich Sie ganz freundlich bitten, mir bei meinen Passangelegenheiten für meine Rückkehr nach Tschetschenien zu helfen.
Da ich z. Zt. keine gültigen Papiere und auch keinen Pass besitze, muss ich diesen beim Konsulat in Hamburg beantragen, um wieder ausreisen zu können.
Da ich bereits 66 Jahre alt und sehr krank bin, vom 5.-11.2.04 wurde ich zuletzt wieder als Notfall in das Krankenhaus nach S. eingeliefert, und außerdem nicht über die notwendigen Barmittel verfüge, um nach Hamburg zu kommen (ich erhalte nur monatlich 40,90 € Taschengeld), möchte ich Sie bitten, die notwendigen Anträge für mich zu stellen.
Da ich des Lesens und Schreibens nicht mächtig bin, kann ich auch diese Anträge nicht selber ausfüllen oder anfordern.
Um meine Ausreise nicht unnötig zu verzögern, möchte ich Sie fragen, ob Sie diese Formalitäten zusammen mit meinem Enkel L. M. in die Wege leiten können. Er wohnt mit mir in einer Wohnung zusammen."
Am 31. März 2004 unterzeichnete die Klägerin im Ordnungsamt des Landkreises S. folgende weitere Verhandlungsniederschrift:
"Ich ... widerrufe hiermit meine Erklärung vom 27.1.2004. Ich will doch nicht mehr freiwillig aus der Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Ich beantrage weiterhin, dass das Asylverfahren wieder aufgenommen wird."
Gegenüber dem Verwaltungsgericht erklärte die Klägerin mit Schriftsatz vom 30. Juni 2004, dass ihre Erklärung vom 27. Januar 2004 nichtig sei, weil sie diese in einem Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben habe. Sie habe sich in einem schlechten Gesundheitszustand befunden, in dem sie außerstande gewesen sei, die Situation zu überblicken. Sie habe sich dem Tode nahe gefühlt, weil sie mehrfach unter Anfällen von Bewusstlosigkeit gelitten hätte. Sie habe kurz nach Abgabe der Erklärung einen Krankenhausaufenthalt antreten müssen. Sie legt einen von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Zeugen U. V., E., am 4. August 2004 für ihren Rechtsanwalt gefertigten Befundbericht vor, der Bezug nimmt auf zwei Schreiben ihrer Rechtsanwälte vom 28. Juni und 26. Juli 2004. Der Befundbericht lautet:
Die Klägerin "wird erst seit 10.11.2003 hausärztlich durch uns betreut. An Erkrankungen sind bei ihr folgende Diagnosen bekannt:
– Typ II Diabetes mellitus nicht aethetisch (richtig wohl: diätetisch) und mit oralen Antidiabetika eingestellt
– Art. Hypertonus im Rahmen des Diabetes zugehörigen metabolischen Syndroms, verbunden mit Adipositas
– Cholelithiasis (= Gallensteinleiden durch Gallensteine, hervorgerufene häufigste Erkrankung der Gallenblase),
– Herzrhythmusstörungen mit ventrikulärer Extrasystole der Klasse LOWN IV-b trotz antiarrhythmischer Behandlung mit Beta-Rezeptorenblockern
– Anhaltende depressive Episode mit Angstträumen, Schlafstörungen im Sinne der posttraumatischen Störung
– V.a. beginnendes Demenzsyndrom
– Fersenschmerzen bei Gonarthrose und sensibler Polyneuropathie im Rahmen des Diabetes mellitus sowie
– Degeneratives LWS-Syndrom
– Am 28.01.2004 erkrankt die Pat. akut an reseitigen Oberbauchschmerzen, krampfartig ohne Fieber, sonographisch Cholelithiasis mit V.a. Cystinstein sowie laborchemisch Hinweis auf Harnwegsinfekt, Behandlung mit Analgetika und Antibiotika. Anhaltende Schmerzsymptomatik, daher am 5.2.2004 stationäre Aufnahme im Albert-Schweitzer-Krankenhaus S.. Dort zusätzlich zur Cholelithiasis Diagnose: Multipra (richtig wohl: Multiple) Magengeschwüre im Antrum und Pyloruskanal.
– Zusätzlich Hypokaliämie
– Thrombozytopenie unklarer Genese
In dieser Weise ist subjektiv durchaus eine Todesgedankensymptomatik der Pat. anzunehmen. Die psychotherapeutische Exploration ist durch die sprachlichen Hindernisse erheblich erschwert, da eine Kontaktaufnahme nur über den Enkel möglich ist. In der Folgezeit überwiegend Behandlung wegen Schmerzen im Bereich der Gelenke und des Rückens. Aufgrund der Ulcusanamnese im Magenbereich Behandlung mit NSAR-freien Schmerzmitteln. Dauertherapie mit Protonenpumpenblockern. Im Juli diesen Jahres wird durch den Enkel für uns erstmals auch eine psychogene Genese der Symptomatik Angstträume/Schlafstörung/Hypertonus/Herzrhythmusstörung aufgrund der vorausgegangenen Kriegserlebnisse beschrieben. Darüber hinaus Orientierungsstörungen im Sinne der beg. Demenzentwicklung. Daraufhin Einleitung einer antidepressiven Behandlung zunächst mit Mirtazapin. Eine Vorstellung beim Neurologen/Psychiater ist geplant. Die Prognose von Diabetes, Hypertonus und degenerativen Wirbelsäulenveränderungen ist bei ordnungsgemäßer Behandlung gut. Die beschriebenen Herzrhythmusstörungen bedürfen weiter kardiologischer Abklärung und gegebenenfalls auch Behandlung. In jedem Fall ist eine Fortsetzung der Behandlungsmaßnahmen lebenswichtig. Die Höhe der derzeitigen Tagestherapiekosten liegen bei ca. 7-8 Euro. Die Kostenrahmen evtl. Psychotherapien und weiterer Medikamente ist derzeit nicht abzusehen."
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11. Juli 2002 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass in ihrem Fall die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG,
hilfsweise
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beteiligte
hat sich nicht geäußert.
Das Gericht hat gemäß Beschluss vom 20. August 2004 Beweis erhoben über die Behauptung der Klägerin, sie habe sich bei der Unterzeichnung der Erklärung vom 27. Januar 2004 in einem Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befunden, durch Vernehmung der Zeugen M., T. und U. V.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschriften vom 20. August und 20. September 2004 verwiesen. Einen weiteren Beweisantrag der Klägerin hat das Gericht in der Sitzung am 20. September 2004 abgelehnt.
Wegen der übrigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und des Landkreises S. Bezug genommen, die dem Gericht zur Einsicht vorgelegen haben. Des weiteren hat dem Gericht die vom Landkreis S. geführte Ausländerakte des Enkels der Klägerin vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage der Klägerin auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist wegen ihrer Erkrankungen in Bezug auf die Russische Föderation begründet (s. unten 2b). Im Übrigen ist die Klage unzulässig bzw. hinsichtlich der Abschiebungsandrohung unbegründet.
1. Soweit die Klägerin die Verpflichtung der Beklagten begehrt, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und in ihrem Fall die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, nachdem die Klägerin ihren Asylantrag mit Erklärung vom 27. Januar 2004 gegenüber der Ausländerbehörde zurückgenommen hat. Wie dem Gesetzestext und der -systematik der §§ 13 Abs. 1 und 2, 32 AsylVfG, 53 AuslG zu entnehmen ist, umfasst der Asylantrag das Begehren, als Asylberechtigter anerkannt zu werden und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Dementsprechend bezieht sich auch die Rücknahme des Asylantrages jedenfalls auf diese beiden Begehren (VGH München, Beschluss vom 21.1.1999, NVwZ-Beil. I 1999, S. 67). Wird die Verpflichtungsklage trotz Rücknahme des Asylantrages insoweit aufrechterhalten, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis (s. bereits OVG Münster, Beschluss vom 15.12.1992 – 19 A 10315/87 – juris).
a. Die Antragsrücknahme ist wirksam. Die Ausländerbehörde ist zur Entgegennahme von Rücknahmeerklärungen befugt, weil auch Asylanträge bei ihr eingereicht werden können (§§ 13 Abs. 3 Satz 2, 14 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 1 AsylVfG; OVG Münster, ebd.). Die Klägerin konnte auch noch wirksam über ihren Asylantrag verfügen, weil die Ablehnung durch das Bundesamt aufgrund der von ihr anhängig gemachten Klage noch nicht bestandskräftig war (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 25.2.1993 – 12 L 7079/01 – juris).
b. Der am 31. März 2004 erfolgte Widerruf beseitigt nicht die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung vom 27. Januar 2004. Der Widerruf hätte nach dem für das öffentliche Recht maßgeblichen Rechtsgedanken des § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB dem Bundesamt oder der Ausländerbehörde vor oder gleichzeitig mit der Rücknahme zugehen müssen (VG Düsseldorf, Urteil vom 16.5.2003 – 1 K 3502/02.A – juris). Dies ist bei dem erst mehr als zwei Monate später erfolgten Widerruf nicht der Fall.
c. Der Widerruf vom 31. März 2004 ist auch dann unbeachtlich, wenn er als Anfechtung der Rücknahme ausgelegt wird. Denn letztere ist in entsprechender Anwendung der §§ 119 ff. BGB unabhängig von der Frage, ob eine solche in entsprechender Anwendung des § 121 BGB unverzüglich erfolgte, nicht möglich. Eine entsprechende Anwendung der §§ 119 ff. BGB für die Rücknahme eines Asylantrages nach § 32 AsylVfG ist wie bei Prozesshandlungen aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich ausgeschlossen. Dafür spricht vor allem die Nähe zu den Regelungen über die Klagerücknahme. Es wäre kaum nachvollziehbar, die Rücknahme der Asylklage als grundsätzlich nicht anfechtbar, die Rücknahme des Asylantrages dagegen als anfechtbar anzusehen. Der Rechtssicherheit kommt gerade im asylrechtlichen Verwaltungsverfahren kein geringeres Gewicht als im Prozess zu (VG Düsseldorf, ebd.; vgl. auch OVG Lüneburg, ebd.). Ausnahmen vom Grundsatz der Unanfechtbarkeit bei arglistiger Täuschung, Drohung, unzulässigem Druck, unzutreffender Empfehlung oder Belehrung durch das Bundesamt oder die Ausländerbehörde, beim Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen oder im Falle des offensichtlichen Versehens (VG Düsseldorf, ebd.) sind vorliegend nicht gegeben. Insbesondere liegt kein offensichtliches Versehen der Klägerin vor, nachdem diese sich noch einmal unter dem 26. Februar 2004 schriftlich an die Ausländerbehörde gewandt hatte, um Ausreisepapiere zu erhalten.
d. Die am 27. Januar 2004 erfolgte Rücknahme des Asylantrages ist auch nicht nach § 105 Abs. 2 BGB nichtig. Die Nichtigkeit einer während einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegebenen Willenserklärung tritt nur dann ein, wenn die Störung ein solches Ausmaß erreicht, dass die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist. Die freie Willensbestimmung fehlt bei der Abgabe einer Willenserklärung nur dann, wenn sie nicht nur geschwächt oder gemindert, sondern völlig ausgeschlossen ist (BGH, Urteil vom 5.6.1972, WM 1972, S. 972 mwN). Für ihre erstmals mit Schriftsatz vom 30. Juni 2004 aufgestellte Behauptung, sie habe sich bei der Unterzeichnung der Verhandlungsniederschrift am 27. Januar 2004 in einem Zustand vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befunden, ist die Klägerin beweispflichtig. Verbleiben ernstliche Zweifel, so ist der Beweis nicht geführt (BGH, ebd.).
Vorliegend hat die Klägerin den Beweis für das Vorliegen einer von ihr erstmals nach dem Wechsel ihrer Prozessbevollmächtigten unter dem 30. Juni 2004 behaupteten vorübergehenden Störung ihrer Geistestätigkeit am 27. Januar 2004 nicht erbracht. Die vom Gericht durchgeführte Beweisaufnahme durch Vernehmung ihres Enkels L. M., der die Klägerin am 27. Januar 2004 begleitet hatte, der Kreisbediensteten T., die die Verhandlungsniederschrift über die Rücknahmeerklärung aufgenommen hatte, und ihres Hausarztes U. V., der sie ca. eine Woche vor und einen Tag nach der Rücknahmeerklärung untersucht hatte, beweisen die behauptete vorübergehende Störung der Geistestätigkeit nicht. Darüber hinaus sprechen auch weitere Umstände gegen das Vorliegen der behaupteten Störung.
Die Klägerin war am 27. Januar 2004 von der Ausländerbehörde nicht einbestellt worden und hatte die Rücknahmeerklärung auch nicht etwa lediglich anlässlich eines Besuchs der Ausländerbehörde unmotiviert abgegeben. Sie hat sich vielmehr ausschließlich zu dem Zweck zur Ausländerbehörde begeben, um dort die Rücknahme ihres Asylantrages aus eigenem Entschluss zu erklären. Darüber hinaus gelang es ihr auch noch, ihren Enkel zu überreden, sie als Dolmetscher zu begleiten, um die Rücknahme auch erklären zu können. Die Klägerin hat es auch nicht bei der Rücknahmeerklärung bewenden lassen, sondern zusätzlich erklärt, sich einen Reisepass beschaffen zu wollen, um ihre Ausreiseabsicht auch tatsächlich verwirklichen zu können. Die Klägerin hat auch ca. einen Monat später unter dem 26. Februar 2004 zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus, in dem sie sich vom 5. bis 11. Februar 2004 aufgehalten hatte, nochmals ihre Ausreiseabsicht zum Ausdruck gebracht, indem sie die Ausländerbehörde schriftlich bat, ihr bei der Passbeschaffung behilflich zu sein. Danach kann von einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit am 27. Januar 2004 keine Rede sein. Eine solche wird auch nicht durch die Aussage des Enkels der Klägerin, des Zeugen L. M. belegt. Dieser hat ein eigenes Interesse an dem weiteren Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet. Denn es entspricht seinem in der Vernehmung bekundeten Willen, dass seine Großmutter weiterhin in Deutschland bleibt. Zudem fehlt ihm jegliche Fachkenntnis in der Beurteilung von Störungen der Geistestätigkeit. Seine Beobachtung, dass seine Großmutter schon zwei Wochen vor der Rücknahmeerklärung geweint, geschrieen und gezittert hat, sie außerdem manchmal ohnmächtig geworden ist, mag zutreffen, weil bei der Klägerin bereits anlässlich ihrer Einreise in das Bundesgebiet zahlreiche Grunderkrankungen festgestellt wurden, die allerdings keine psychiatrischen Befunde erkennen lassen. Auch die Vernehmung der Kreisbediensteten T., die die Verhandlungsniederschrift am 27. Januar 2004 in den Räumen des Ordnungsamtes aufgenommen hatte, beweist die Behauptung der Klägerin, sie habe sich in einem Zustand vorübergehender Störung ihrer Geistestätigkeit befunden, nicht. Diese hat lediglich ausführen können, dass die Klägerin während der Verhandlung, die vollständig über den Zeugen M. lief, ruhig da gesessen hätte. Schließlich ist der Beweis auch nicht durch die Vernehmung des Facharztes für Allgemeinmedizin U. V., der die Klägerin hausärztlich betreut und sie am 21. ebenso wie am 28. Januar 2004 körperlich untersucht hatte, erbracht worden. Am 21. Januar 2004 hatte die Klägerin über Schmerzen im Rückenbereich geklagt. Am 28. Januar 2004 hatte sie über Schmerzen im Oberbauch, Erbrechen, Fieber und Übelkeit geklagt. Im Ultraschall waren Gallensteine nachzuweisen. Der Urinbefund ergab einen Harnwegsinfekt. Möglicherweise litt die Klägerin am 28. Januar 2004 auch bereits an Magengeschwüren. Der Zeuge erklärte jedoch ausdrücklich, dass in dem fraglichen Zeitraum des 21./28. Februar 2004 ein psychiatrischer Befund nicht auffällig und ihm auch vom Enkel der Klägerin nicht vorgetragen war. Auch konnte er keine Aussage zu der ihm gestellten Frage machen, ob er für den Zeitraum des 21./28. Januar 2004 eine vorübergehende Störung der Geistestätigkeit der Klägerin feststellen konnte. Vielmehr habe die Klägerin ihm gegenüber erstmals am 21. Juli 2004 über Depressionen und Schlaflosigkeit geklagt und am 4. August 2004 habe sie bei einem Hausbesuch auf dem Boden gelegen und hyperventiliert. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn jedoch bereits die nunmehrigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit der Bitte um einen Befundbericht angeschrieben und bei ihm angefragt, ob bei der Klägerin eine Todesgedankensymptomatik vorliegt. Ausgehend von dem Ereignis am 4. August 2004 konnte der Zeuge nach eigenem Bekunden allenfalls spekulieren, ob entsprechende Zustände auch früher vorgelegen hätten. Nach alledem ist der Beweis einer vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit bei der Rücknahmeerklärung am 27. Januar 2004 nicht geführt. Der Beweisantrag der Klägerin, hierzu ein psychologisches Sachverständigengutachten einzuholen war abzulehnen, weil die Klägerin die von ihr behauptete vorübergehende Störung der Geistestätigkeit mit Schriftsatz vom 30. Juni 2004 in einen ausdrücklichen Zusammenhang mit ihrem absolut schlechten Gesundheitszustand, Anfälle von Bewusstlosigkeit und einen nachfolgenden Krankenhausaufenthalt (vom 5. bis 11. Februar 2004) gestellt hatte. Werden entsprechende Zusammenhänge mit medizinischen Grunderkrankungen hergestellt, ist die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens untauglich, weil in diesem Befunde von Multimorbiden und ihre Einflüsse auf die Geistestätigkeit nicht bewertet werden können. Dessen ungeachtet ist das angebotene Beweismittel untauglich, weil ca. acht Monate nach dem 27. Januar 2004 eine vorübergehende Störung der Geistestätigkeit am Tag der Rücknahmeerklärung nicht mehr festgestellt werden kann. Eine entsprechende Beweiserhebung befände sich – wie der Zeuge V. als behandelnder Arzt der Klägerin zutreffend ausgeführt hat – im Bereich der Spekulation.
e. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin am 27. Januar 2004 in einem dauerhaften die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit gehandelt hat, wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung am 20. September 2004 unter Berufung auf § 104 Nr. 2 BGB behauptet hat, bestehen nicht. Dieser Vortrag ist bereits unschlüssig, weil die Klägerin die Rücknahmeerklärung vom 27. Januar 2004 später am 31. März 2004 widerrufen hat.
2. Hingegen ist der von der Klägerin gestellte Hilfsantrag begründet (s. unten 2b). Sie kann beanspruchen, dass vom Bundesamt in ihrem Fall ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in Bezug auf die Russische Föderation festgestellt wird. Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung als solcher bleibt gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 und 3 AuslG unberührt.
a. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die wirksame Rücknahmeerklärung der Klägerin vom 27. Januar 2004 im Hinblick auf ihre in diesem Zusammenhang ausdrücklich erklärte Ausreiseabsicht auch auf die Feststellung der Voraussetzungen nach § 53 AuslG bezogen hatte. Der Klägerin fehlt jedoch insoweit bereits deshalb nicht das Rechtsschutzbedürfnis, weil das Bundesamt gemäß § 32 AsylVfG verpflichtet ist, im Falle der Rücknahme des Asylantrages nicht nur festzustellen, dass das Asylverfahren eingestellt ist, sondern auch (erneut) festzustellen, ob Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Da eine Entscheidung des Bundesamtes nach § 32 AsylVfG auf die Antragsrücknahme vom 27. Januar 2004 nicht ergangen ist, kann sich die Klägerin – nach erfolgter Aufgabe ihrer Rückkehrabsicht in die Russische Föderation – weiter gegen die in dem ursprünglichen Bescheid vom 11. Juli 2002 enthaltene Feststellung wenden, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen.
b. Es besteht kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG i.V.m. Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK –. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt werden. Art. 3 EMRK schützt jedoch ebenso wie das Asylrecht nicht vor den allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen, Bürgerkriegen und anderen bewaffneten Konflikten. Denn der Begriff der Behandlung setzt ein geplantes, vorsätzliches und auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C 15.95 – BVerwGE 99, S. 331 mwN; Urteil vom 18.4.1996, NVwZ-Beil. 1996, S. 58; Urteil vom 4.6.1996, InfAuslR 1996, S. 289). In Fällen der Abschiebung durch einen Vertragsstaat ist ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK nur dann in Betracht zu ziehen, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Abgeschobene im aufnehmenden Land einer von diesem Artikel verbotenen Behandlung unterworfen wird (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C 15.95 – aaO). Ferner kann grundsätzlich nur eine vom Staat ausgehende oder von ihm zu verantwortende Misshandlung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK sein. Nur ausnahmsweise können auch Misshandlungen durch Dritte eine unmenschliche Behandlung darstellen, sofern sie dem Staat zugerechnet werden können. Das ist der Fall, wenn er veranlasst, bewusst duldet oder ihnen gegenüber keinen Schutz gewährt, obwohl er dazu in der Lage wäre (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 – 9 C 15.95 – aaO). Der Begriff der Gefahr, in der sich der Ausländer befinden muss, ist auch im Rahmen der Prüfung von § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegter; das Element der Konkretheit der Gefahr für diesen Ausländer kennzeichnet jedoch das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation (BVerwG, Urteil vom 18.4.1996, aaO; Urteil vom 4.6.1996, aaO). Gegen eine Behandlung, die lediglich als möglich vorstellbar ist, besteht kein Abschiebungsschutz (BVerwG, Urteil vom 5.7.1994, NVwZ 1995, S. 391,393 [BVerwG 05.07.1994 - BVerwG 9 C 1.94]). Dass sich eine Vielzahl von Personen in derselben Situation befindet, schließt die Anwendung des § 53 Abs. 4 AuslG allerdings nicht aus, denn eine dem § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG entsprechende Einschränkung enthält § 53 Abs. 4 AuslG nicht (BVerwG, Urteil vom 4.6.1996, aaO). In Anwendung dieser Grundsätze kann im Falle der Klägerin kein Abschiebungshindernis i.S.v. § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt werden, weil keine ausreichenden Anzeichen dafür bestehen, dass sie in der Russischen Föderation landesweit mit Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung bedroht ist.
c. Hingegen ist nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Erkenntnislage der letzten mündlichen Verhandlung die Verpflichtung des Bundesamtes auszusprechen, im Falle der Klägerin ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezogen auf die Russische Föderation festzustellen.
Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Beruft sich der Ausländer dagegen lediglich auf allgemeine Gefahren i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, die nicht nur ihm persönlich, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe im Zielland drohen, soll der Abschiebungsschutz auch für den einzelnen ausschließlich durch eine – möglichst bundeseinheitliche – generelle Regelung nach § 54 AuslG gewährt werden (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 – 9 C 9.95 – BVerwGE 99, S. 324; – 9 C 15.95 – aaO). § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfasst allgemeine Gefahren i.S.d. Satzes 2 der Vorschrift auch dann nicht, wenn sie den einzelnen Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen (BVerwG, Urteil vom 29.3.1996, NVwZ-Beil. 1996, S. 57). Nur dann, wenn dem einzelnen Ausländer keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2, 3, 4 und 6 Satz 1 AuslG zustehen, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden darf, ist bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG im Einzelfall Schutz vor der Abschiebung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Das ist dann der Fall, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von ihrer Ermessensermächtigung aus § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht haben, einen generellen Abschiebestopp zu verfügen. Dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG Abschiebungsschutz zu gewähren (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995, 29.3.1996, jeweils aaO). Für die Annahme einer konkreten Gefahr i.S.d. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG genügt aber ebenso wenig wie im Asylrecht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist auch hier der Begriff der Gefahr i.S. dieser Vorschrift kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegte, wobei allerdings auch hier das Element der Konkretheit der Gefahr für diesen Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995, 29.3.1996, jeweils aaO).
Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil dort die Behandlungsmöglichkeiten unzureichend sind, kann zwar kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK begründen (BVerwG, Urteil vom 2.9.1997, BVerwGE 105, S. 187 = NVwZ 1999, S. 311; Urteil vom 9.9.1997, InfAuslR 1998, S. 125), jedoch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG darstellen (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, BVerwGE 105, S. 383 = NVwZ 1998, S. 524). Auf die Frage, ob die Verschlechterung der Gesundheit durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt oder mitbedingt ist, kommt es nicht an. Voraussetzung der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ist allerdings, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers nach der Abschiebung in den Heimatstaat wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Konkret wäre die Gefahr, wenn diese Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers in den Heimatstaat einträte, weil er dort nur auf unzureichende Behandlungsmöglichkeiten seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 29.7.1999 – 9 C 2.99 –). Bei weit verbreiteten Erkrankungen wie AIDS kann hingegen eine Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG vorliegen, die eine ausländerpolitische Leitentscheidung nach § 54 AuslG erfordert (BVerwG, Urteil vom 27.4.1998, NVwZ 1998, S. 973). Dem gegenüber sind krankheitsbedingte Gefahren, die sich unabhängig von den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat allein als Folge der Abschiebung ergeben können, nicht vom Bundesamt, sondern von der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu prüfen (BVerwG, Urteil vom 21.9.1999, NVwZ 2000, S. 206 [BVerwG 21.09.1999 - BVerwG 9 C 8/99]).
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medikamentöse Versorgung nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, NVwZ-Beil. 2003, S. 53). Solche Gründe liegen hier vor.
Die 66-jährige Klägerin leidet nach dem Befundbericht ihres Hausarztes U. V. vom 4. August 2004, der auch Gegenstand der Vernehmung des Arztes war, an einem Diabetes mellitus Typ II, an Hypertonus, einer Cholelithiasis, Herzrhythmusstörungen, einer depressiven Episode, Fersenschmerzen bei Gonarthrose und einem degenerativen LWS-Syndrom. Der Hausarzt hat eine Fortsetzung der Behandlungsmaßnahmen für lebenswichtig erachtet und die Höhe der Tagestherapiekosten mit ca. 7 bis 8 € ohne Psychotherapie angegeben. Dies führt gegenwärtig zu einem monatlichen von der Allgemeinheit aufzubringenden Therapieaufwand von ca. 240,00 € für die Erhaltung der Gesundheit der chronisch kranken Klägerin. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Klägerin bereits das Rentenalter erreicht hat, sie Analphabetin ist und ausschließlich die tschetschenische Sprache beherrscht, besteht zur Überzeugung des Gerichts die konkrete Gefahr, dass sie im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation nicht die unverzüglich notwendige medizinische Anschlussbehandlung und Medikamentenversorgung erhält. Nach dem Ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes über die Lage in Tschetschenien vom 16.2.2004 (508-516.80/3 RUS, S. 21) ist die medizinische Versorgung in Tschetschenien selbst völlig unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe – besonders in der Hauptstadt J. – sind medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Wichtige medizinische Einrichtungen in J. und Umgebung sind nach Augenzeugenberichten stark beschädigt oder zerstört. Der Wiederaufbau verläuft weiterhin sehr schleppend. Auf bestehende medizinische Versorgungsmöglichkeiten im russischen Kernland kann die 66-jährige Klägerin als Analphabetin mit ausschließlich tschetschenischen Sprachkenntnissen in Anbetracht des monatlichen Therapieaufwands von gegenwärtig 240,00 € ausnahmsweise nicht verwiesen werden. Zwar ist die medizinische Grundversorgung nach dem aktuellen Lagebericht Russische Föderation des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004 (508-516.80/3 RUS, S. 18) in Russland theoretisch grundsätzlich ausreichend. Zumindest in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg sind auch das Know-how und die technischen Möglichkeiten für einige anspruchsvollere Behandlungen gegeben. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage. Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in Planung begriffen. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei. Neben russischen Produkten sind gegen entsprechende Bezahlung auch viele importierte Medikamente erhältlich. Das Gericht ist aufgrund der vorerwähnten besonderen Umstände in der Person der Klägerin sowie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks von ihr in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass sie bei einer Rückkehr in das russische Kernland gegenwärtig nicht in der Lage sein wird, ihr Existenzminimum zum Zwecke der Bezahlung notwendiger Therapie- und Medikamentenkosten selbst zu erwirtschaften. Auf einen in Russland zu realisierenden Unterhaltsanspruch gegen ihren Enkelsohn kann sie gegenwärtig nicht verwiesen werden, wenngleich dieser ausreisepflichtig ist und mit der Klägerin nach Russland zurückkehren könnte, weil der Aufenthalt des Enkels im Bundesgebiet gegenwärtig von der Ausländerbehörde geduldet wird. Deshalb ist die unverzügliche medizinische Weiterversorgung der chronisch kranken Klägerin in Russland zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht gesichert mit der Rechtsfolge, dass die Beklagte zu verpflichten ist, in ihrem Falle ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezogen auf die Russische Föderation festzustellen. In dieser Beurteilung sieht sich das Gericht durch den Umstand bestätigt, dass der Landkreis Q. ausweislich eines in den Verwaltungsvorgängen enthaltenen Vermerks auf eine Rückführung der Klägerin in ihr Heimatland bereits am 2. April 2002 auch nach Entlassung aus dem Krankenhaus O. -P. wegen ihres Gesundheitszustandes verzichtet hatte (Bl. 15 BA B).
Rechtsfolge der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des entsprechenden Abschiebungshindernisses ist gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Aussetzung der Abschiebung in den betreffenden Staat für die Dauer von drei Monaten. Das Gericht hat im vorliegenden Verfahren nicht der Frage nachzugehen, ob das Abschiebungshindernis entfällt, sobald der Erkrankten bei der Abschiebung ein Medikamentenvorrat mitgegeben wird. Denn ungeachtet der Frage, ob vorliegend die Mitgabe eines Medikamentenvorrats ausreichend ist, hat die Beklagte ein solches Angebot nicht unterbreitet.
3. Die Abschiebungsandrohung, die auch im Falle der wirksamen Rücknahme des Asylantrages zu ergehen hat und die keine Ermessensentscheidung darstellt, findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylVfG i.V.m. § 50 AuslG. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die auf asylverfahrensrechtlicher Grundlage ergangene Abschiebungsandrohung des Bundesamtes auch dann nicht der Aufhebung unterliegt, wenn das Bundesamt zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu verpflichten ist (BVerwG, Urteil vom 15.4.1997, BVerwGE 104, S. 260 = NVwZ 1997, S. 1132; Urteil vom 5.2.2004, AuAS 2004, S. 12 = NVwZ-RR 2004, S. 534).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der von den Klägerin insgesamt angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 11. Juli 2002 enthält vier Regelungen. Nur hinsichtlich der Entscheidung 3) war die Klage begründet. Insoweit hatte die Klage zu 1/4 Erfolg und blieb zu 3/4 erfolglos.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten findet ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.