Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.11.2017, Az.: L 10 VE 40/14

Alkohol; Alkohol-Embryopathie-Spektrumstörung; Cannabis; fetales Alkoholsyndrom (FAS); Nasciturus; Nikotin; tätlicher rechtswidriger Angriff; Vergiftung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.11.2017
Aktenzeichen
L 10 VE 40/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53673
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 19.06.2014 - AZ: S 42 VE 10/12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ist kein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne von § 1 OEG und löst daher keinen opferentschädigungsrechtlichen Anspruch aus.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. Juni 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um den Anspruch auf Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der Kläger ist am J. 2001 geboren und lebt in einer Pflegefamilie. Seine Pflegeltern haben für ihn im März 2012 beantragt, Schädigungsfolgen festzustellen und Versorgungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, die leibliche Mutter des Klägers habe während der Schwangerschaft Alkohol, Cannabis und Nikotin zu sich genommen. Dies habe zu einer Schädigung des Klägers im mütterlichen Leib geführt. Der Kläger sei daher Opfer einer schädigenden Einwirkung im Sinne des OEG geworden.

Das beklagte Land lehnte den Antrag mit hier streitigem Bescheid vom 21. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2012 ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, bei den angeschuldigten Verhaltensweisen der leiblichen Mutter des Klägers handele es sich nicht um schädigende Einwirkungen im Sinne des OEG.

Am 26. Juni 2012 ist Klage erhoben worden. Zur Stützung des Klagebegehrens hat der Kläger – wie schon im Verwaltungsverfahren - ein Schreiben des Arztes für Kinder-  und Jugendpsychiatrie K. vom 12. Januar 2012 vorgelegt. Dieser hatte bei dem Kläger eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, eine emotionale Störung des Kindesalters mit Hinweisen einer Bindungsstörung sowie ein embryofetales Alkoholsyndrom diagnostiziert.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage mit Urteil vom 19. Juni 2014, welches dem Kläger am 16. Juli 2014 zugestellt worden ist, abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei den angeschuldigten Einwirkungen handele es sich nicht um Tatbestände des OEG. Zum einen handele sich schon deshalb nicht um einen tätlichen Angriff im Sinne des OEG weil es insoweit an einem strafbaren Verhalten fehle. Hinsichtlich der Körperverletzungstatbestände ergebe sich dies schon daraus, dass es hier nicht zu einem Angriff auf eine andere Person im Sinne des Strafrechts gekommen sei. Daher könne dahingestellt bleiben, ob und in welchem Ausmaß die Mutter des Klägers tatsächlich während der Schwangerschaft Alkohol, Cannabis oder Nikotin zu sich genommen habe. Die angeschuldigten Verhaltensweisen könnten auch nicht als Vergiftung im Sinne des OEG verstanden werden.

Am 5. August 2014 ist Berufung eingelegt worden.

Der Kläger ist nach wie vor der Auffassung, die angeschuldigten Verhaltensweisen seiner leiblichen Mutter erfüllten einen Schädigungstatbestand nach dem OEG.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. Juni 2014 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 21. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2012 aufzuheben,

2. das beklagte Land zu verurteilen, bei dem Kläger ab März 2012 ein embryofetales Alkoholsyndrom als Schädigungsfolge festzustellen und ihm Beschädigtenrente nach dem OEG zu gewähren.

Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht es sich auf seinen angefochtenen Bescheid sowie die erstinstanzliche Entscheidung.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das SG hat die Klage mit seinem hier angefochtenen Urteil vom 19. Juni 2014 zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des beklagten Landes vom 21. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2012 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat aus § 1 OEG in Verbindung mit den Vorschriften des BVG keinen Anspruch gegen das beklagte Land, bei ihm Schädigungsfolgen festzustellen und Versorgungsleistungen zu gewähren.

Zur Begründung nimmt der Senat zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung von § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des SG in seinem Urteil vom 19. Juni 2014. Das SG hat darin auch nach Auffassung des Senats zutreffend dargelegt, selbst wenn unterstellt würde, die leibliche Mutter des Klägers habe sich so verhalten, wie dies nunmehr von den Pflegeeltern des Klägers dargestellt wird, könne hierin kein Verhalten gesehen werden, was unter rechtlichen Gesichtspunkten als schädigendes Ereignis im Sinne des § 1 OEG angesehen werden könne (vgl. dazu auch SG Magdeburg, Urteil vom 10. Juli 2015, AZ: S 14 VE 18/11 – juris mit Anmerkung von Dau in jurisPR-SozR 21/2015 Anm. 5; SG Düsseldorf, Urteil vom 8. Dezember 2015, AZ: S 1 VG 83/14; SG Aurich, Beschluss vom 20. August 2015. AZ: S 7 VE 12/10; differenzierend Heinz in ASR 2017, 134 ff).

Bei einem – unterstellten – Alkohol-, Nikotin- oder Cannabiskonsum der leiblichen Mutter des Klägers handelt es sich zunächst nicht um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG gegen die Person des Klägers. Dies ergibt sich aus mehreren Gesichtspunkten.

Zunächst hat das SG zutreffend darauf hingewiesen, dass die Mutter des Klägers nicht rechtswidrig gehandelt hätte, wenn unterstellt wird, sie hätte die drei angeschuldigten Substanzen während der Schwangerschaft konsumiert. Die leibliche Mutter hätte damit gegen keine Norm des geschriebenen Rechts verstoßen, da es keine Norm gibt, die ihr ein solches Verhalten verbieten würde (so im Hinblick auf strafrechtliche Normen auch SG Düsseldorf a.a.O. Rn 36; Heinz a.a.O. S. 135; vgl. auch Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 29. Aufl., § 223 Rn 1b; zusammenfassend auch Dau a.a.O. sub D.) Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Mutter sich durch dieses legale Handeln möglicherweise Schadensersatzansprüchen ihres Kindes ausgesetzt sieht (dazu im Überblick Heinz a.a.O. S. 134 f., Dau a.a.O. sub C.; Wagner in MüKo BGB 7. Aufl., § 823 Rn 205; Hager in Staudinger, BGB § 823 Rn B 49).

Die schwangere Frau kann also in Ausübung ihrer Grundrechte aus Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) autonom entscheiden, ob sie während der Schwangerschaft etwa Alkohol zu sich nimmt (so zutreffend auch Hager a.a.O. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG`es). Sie hat die grundrechtliche Freiheit, den Umgang mit ihrem Körper während der Schwangerschaft im Rahmen der geltenden Gesetze selbst zu gestalten – auch wenn dies aus der Sicht anderer möglicherweise unvernünftig oder sogar unethisch erscheint. Aus der Literatur ergibt sich auch, dass dies ca. 27 % der schwangeren Frauen tun (Dau a.a.O. sub. A unter Bezugnahme auf eine Pressemitteilung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung; vgl. auch die vom LSG Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 27. Januar 2017, AZ: L 13 VG 11/16, zitiert nach juris dort Rn 35, zitierten Presseartikel). Das akzeptiert letztlich auch die Rechtsprechung des BVerfG`es, wenn sie einerseits postuliert, der Embryo könne gegen die Mutter ein Recht auf Leben geltend machen, was sich aus seiner schon vorhandenen Menschenwürde ergebe, andererseits aber weiter ausführt, der Schutz des Lebens sei nicht in dem Sinn absolut geboten, dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut, also auch der grundrechtlichen Position der Mutter, Vorrang genösse (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993, Az: 2 BvF 2/90 u.a. = BVerfGE 88,203 ff dort S. 251 einerseits und 253 andererseits).

Daneben weist Dau (a.a.O.; so auch SG Düsseldorf a.a.O. Rn 35) in seiner Anmerkung zur Entscheidung des SG Magdeburg unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zutreffend darauf hin, dass zur Rechtswidrigkeit des Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG noch die „feindselige Willensrichtung“ der Täterin hinzutreten müsse. Mit diesem, dem „Angriff“ im Wortsinn immanenten Merkmal, grenzt das Opferentschädigungsrecht sozial adäquates und gesellschaftlich noch toleriertes Verhalten von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln der Täterin ab, welches allein zur Entschädigung eines Opfers führen kann.

Nach diesem Maßstab handeln Schwangere, die Alkohol trinken – oder wie hier unterstellt Cannabis oder Nikotin konsumieren – nicht „rechtsfeindlich“. Embryonal durch Substanzkonsum ihrer Mütter geschädigte und deshalb behindert geborene Kinder haben also auch mangels „Rechtsfeindlichkeit“ der schädigenden Handlung keinen Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen und Zuerkennung von Beschädigtenrente nach dem OEG.

Zudem setzt § 1 Abs. 1 OEG voraus, dass sich die schädigende Handlung gegen „eine Person“ wendet. Auch dies dürfte in der vorliegenden Konstellation nicht der Fall sein. Ein Nasciturus kann noch keine „Person“ im Sinne des Gesetzes sein (dazu eingehend BSG, Urteil vom 24. Oktober 1962, AZ: 10 RV 583/59 = BSGE 18,55 zitiert nach juris dort Rn 15 ff). Dies ergibt sich schon aus dem Normtext von § 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Danach beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Vor der Geburt lassen sich die Mutter und der Embryo personal noch nicht differenzieren. Das BSG weist darauf hin, dass das werdende Kind vor der Geburt mit der Mutter eine biologische Einheit bildet (Urteil vom 15. Oktober 1963, AZ: 11 RV 1292/61 = BSGE 20,41 ff zitiert nach juris dort Rn 20). Die Entstehung des Lebens ist insoweit ein Entwicklungsprozess, der nicht an einzelnen Merkmalen festgemacht werden kann. Rechtlich ordnet § 1 BGB die Rechtsfähigkeit und damit die Personalität des Rechtssubjekts eben erst mit Vollendung der Geburt an. Dies vermag zivilrechtlich möglicherweise nichts an entstehenden Schadensersatzansprüchen zu ändern, führt aber dazu, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 1 Abs. 1 OEG nicht erfüllt werden. In den von BSG entschiedenen Konstellationen, in denen ungeborenen Kindern opferentschädigungsrechtlichen Ansprüche zugesprochen worden sind, lagen insoweit andere Konstellationen vor, als sich die schädigenden Handlungen gegen eine Person, nämlich die Mutter oder die Schwangere richteten. Dieser kommt ohne Zweifel Personenqualität im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG zu. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass ein wesentlicher Unterschied auch darin besteht, dass im Versorgungsrecht nach dem BVG eine andere rechtliche Regelung getroffen ist. Dort besteht - im Unterschied zur Formulierung in § 1 OEG – ein Anspruch auf Versorgung nur für die Schädigung der eigenen Person (vgl. dazu die ausführliche Darstellung und Auseinandersetzung bei BSG, Urteil vom 24. Oktober 1962 a.a.O. und Urteil vom 15. Oktober 1963 a.a.O.; vgl. auch differenzierend zum Opferentschädigungsrecht BSG Urteil vom 16. April 2002, B 9 VG 1/01 R = BSGE 89,199 ff zitiert nach juris dort Rn 19,24; mit einleuchtenden Gründen kritisch zu dieser Entscheidung Schimmelpfeng-Schütte, MedR 2003 S. 401 ff und Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 1 OEG Rn 15; vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. Januar 2017, L 13 VG 11/16 zitiert nach juris dort Rn 27).

Selbst wenn der Wortlaut von § 1 OEG – wie dies in der Rechtsprechung des BSG vereinzelt geschehen ist (BSG Urteil vom 16. April 2002, B 9 VG 1/01 R = BSGE 89,199 ff zitiert nach juris dort Rn 21 ff; dazu mit überzeugenden Gründen unter Hinweis auf das Verfassungsrecht kritisch Rademacker a.a.O., der zutreffend schon das Vorliegen einer für eine Analogie erforderlichen Regelungslücke bestreitet und auch auf das Urteil des BSG vom 18. Oktober 1995, AZ: 9 RVg 7/93 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 7 zitiert nach juris hinweist) durch Analoganwendung erweitert würde – so wären dennoch die Voraussetzungen auch dieser analogen Anwendung von § 1 OEG nicht erfüllt. Auch das BSG hat nämlich in der zitierten Entscheidung einen rechtswidrigen, vorsätzlichen Angriff gegen eine Person vorausgesetzt (a.a.O. Rn 24). Das könnte hier nur der Substanzkonsum der Mutter als Angriff gegen sich selbst also nicht eine andere Person sein. Da das – hier unterstellte - Verhalten der Mutter aber - wie gezeigt – weder rechtswidrig noch rechtsfeindlich war, könnte selbst bei einer analogen Anwendung von § 1 OEG im Sinne der zitierten BSG – Rechtsprechung kein anderes Ergebnis erzielt werden.

Der unterstellte Substanzkonsum der leiblichen Mutter des Klägers kann auch nicht durch Anwendung von § 1 Abs. 2 Nr. 1 OEG zu einem Anspruch des Klägers führen. Danach steht einem tätlichen Angriff im Sinne des Abs. 1 die vorsätzliche Beibringung von Gift gleich. Auch in dieser tatbestandlichen Alternative bedürfte es einerseits der „Rechtsfeindlichkeit“ und andererseits der Vergiftung einer anderen Person. Beide tatbestandlichen Voraussetzungen werden aber in der vorliegenden Konstellation – wie gezeigt – nicht erfüllt (anderer Ansicht Heinz a.a.O. S. 137, der allerdings insoweit wenig überzeugend  unter Bezugnahme auf zivilrechtliche Kategorien umstandslos von der Rechtswidrigkeit des Handelns der Mutter ausgeht).

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.

Anlass die Revision in Anwendung von § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen besteht nicht. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass die Revision hier aus grundsätzlichen Erwägungen zuzulassen ist. Die aufgeworfenen Rechtsfragen lassen sich vielmehr – wie gezeigt - anhand der bereits ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung klären.