Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.11.2017, Az.: L 13 SB 71/17

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.11.2017
Aktenzeichen
L 13 SB 71/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2017, 53669
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 27.04.2017 - AZ: S 4 SB 123/13

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Auch bei cerebralen Störungen, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, kann eine Blindheit im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bejahen sein (vgl Teil A Nr 6 Buchst a S 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).

2. Die Maßstäbe, die das BSG in seinem Urteil vom 11.8.2015 - B 9 BL 1/14 R = BSGE 119, 224 = SozR 4-5921 Art 1 Nr 3 dargelegt hat, gelten unabhängig davon, ob sich im konkreten Fall die Ursache der Sehstörung feststellen lässt, zumal es seine neue Rechtsprechung auch und gerade mit Verweis auf Art 3 Abs 1 und Abs 3 S 2 GG sowie Art 5 UNBehRÜbk begründet hat.

3. Dem Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde in Niedersachsen (juris: BlindGeldG ND) lässt sich kein Ausschluss cerebral bedingter Sehstörungen entnehmen. Unabhängig davon könnte das Landesblindengeldgesetz nicht die Maßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens Bl modifizieren.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung zur Feststellung des Merkzeichens Bl (Blind) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).

Die 2007 geborene Klägerin leidet seit ihrer Geburt an einer Stoffwechselstörung (nichtketotische Hyperglycinämie [NKH]). Wegen der Funktionsbeeinträchtigung des Stoffwechsels durch nonketonische Hyperglycinämie mit zentralnervöser-epileptogener Beteiligung erkannte der Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 und zuletzt die Merkzeichen H, B, G und aG zu. Für die Klägerin besteht Pflegebedürftigkeit nach der Stufe III (jetzt Pflegegrad 5).

Am 10. Oktober 2012 stellte die durch ihre Eltern vertretene Klägerin einen Neufeststellungsantrag, mit welchem sie die Zuerkennung des Merkzeichens Bl begehrte. Zur medizinischen Sachverhaltsaufklärung forderte der Beklagte einen Befundbericht des Facharztes für Kinderheilkunde und Jugendmedizin K. und das Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 29. Oktober 2012 an. In seinem Befundbericht vom 28. November 2012 führte K. aus, dass die Klägerin nicht mit dem Blick folge und sie die Augenlider zu kleinen Sehschlitzen verschlossen halte. Wenn sie die Augen aufreiße, verdrehe sie die Pupillen nach oben. Man müsse davon ausgehen, dass das Gehirn aufgrund der Stoffwechselstörung und der täglichen Krampfanfälle visuelle Sinneseindrücke bisher gar nicht habe verarbeiten können. Dem Befundbericht waren Berichte des Kinder- und Jugendarztes L. vom 15. November 2011 und vom 18. September 2012, des Kinderorthopäden M. und der Krankengymnastin N. vom 29. August 2012 beigefügt. Nach Auswertung dieses Befundberichtes und von Berichten des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin O. vom 29. Februar 2012, 15. Dezember 2010, 4. Mai 2011 und 25. September 2012 durch den Ärztlichen Dienst des Beklagten (Stellungnahmen von Frau P. vom 16. November 2012 und vom 4. Februar 2013 sowie von Frau Q. vom 20. Dezember 2012) erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Februar 2013 das Merkzeichen RF zu und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens Bl ab. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen kein Anhalt für eine Blindheit nach der Versorgungsmedizin-Verordnung ergebe. Eine weitere apparative medizinische Sachverhaltsaufklärung sei nicht erforderlich und erscheine aktuell auch nicht vertretbar.

Zur Begründung des hiergegen gerichteten Widerspruchs führten die gesetzlichen Vertreter der Klägerin aus, dass die Klägerin in der meisten Zeit des Tages die Augen geschlossen halte oder nur einen kleinen Spalt geöffnet habe. Nach einem Krampfanfall habe sie die Augen oft weit geöffnet, die Pupille drehe sich jedoch im Sichtfeld unkontrolliert hin und her und bewege sich dann nach oben, so dass von der Pupille nur noch der untere Rand zu sehen sei. Im Umgang mit der Klägerin werde immer deutlicher, dass diese kein Interesse an ihren Augen habe. Sie habe sich dahingehend entwickelt, dass sie sogar bei der Nahrungsaufnahme die Augen ganz schließe. Auf Veranlassung des Beklagten erhob die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin O. die Ableitung der Visuell Evozierten Potentiale (VEP) mittels Blitzbrille. In ihrem Bericht vom 21. August 2013 teilte O. hierzu mit, dass sich eine erhebliche Latenzverzögerung für die N1 ergeben habe, so dass von einer ausgeprägten zentralen Funktionsstörung auszugehen sei. Klinisch schließe und öffne die Klägerin die Augen völlig unkontrolliert, es erfolge keine Reaktion auf eine Lichtquelle, kein Fixieren.

Gestützt auf eine weitere Stellungnahme (Frau R.) des Ärztlichen Dienstes vom 19. September 2013 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. September 2013 als unbegründet zurück. Die durchgeführte Blitz-VEP habe eine erhebliche Latenzverzögerung für Ableitung N1 als Hinweis für eine ausgeprägte zentrale Funktionsstörung festgestellt. Visuelle Reize würden, wenn auch verlangsamt, „wahrgenommen“ im Sinne einer visuellen Agnosie (Störung des Erkennens). Nach den Vorgaben der Versorgungsmedizin-Verordnung liege bei gnostischen Störungen keine Blindheit vor.

Die Klägerin hat, vertreten durch ihre Eltern, am 24. Oktober 2013 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Aurich erhoben. Zur Begründung hat sie sich unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Oktober 2004 - B 7 SF 2/03 R - darauf berufen, dass bei einer Störung des Erkennens von Blindheit im Sinne des Gesetzes auszugehen sei. Zudem habe das BSG in seiner Entscheidung vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R - zum bayerischen Landesblindengeldgesetz klargestellt, dass es im Grunde nicht mehr darauf ankomme, ob die Blindheit ursächlich im Sehzentrum anzusiedeln sei oder durch eine cerebrale Störung zumindest mitverursacht werde.

Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung eines augenärztlichen Gutachtens. In seinem Gutachten vom 23. November 2016 ist S. nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin vom 22. November 2016 zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei der Klägerin weitgehend um eine gnostische Störung handele, da sie keinerlei Reaktion auf visuelle Reize zeige. Aufgrund der Speicherkrankheit sei es zu einer allgemeinen Beeinträchtigung des visuellen Systems gekommen. Eine Erhebung der Sehschärfe und der Gesichtsfeldfunktion sei bei der Klägerin aufgrund der fehlenden Reaktion auf visuelle Reize und der fehlenden Kommunikationsfähigkeit nicht möglich. Eine Orientierungsfähigkeit der Klägerin sei nicht gegeben. Auch eine gnostische Störung sei als Blindheit zu werten, wenn keine Reaktion auf visuelle Reize erfolge. Ob eine Rindenblindheit vorliege, könnte nur mit bildgebender Diagnostik festgestellt werden Dies sei aber entbehrlich, da die Voraussetzungen des Merkzeichens Bl auf jeden Fall erfüllt seien.

Unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 19. Dezember 2016 (T.) ist der Beklagte der Klage entgegen getreten. Die Begutachtung durch U. habe den Nachweis, dass Strukturen des optischen Apparates einer Zerstörung entsprechend geschädigt seien, nicht erbracht. Es liege lediglich eine gnostische Störung vor, welche die Voraussetzungen einer Blindheit im Sinne der Versorgungsmedizin-Verordnung nicht erfülle.

Mit Urteil vom 27. April 2017 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der Klägerin ab dem 10. Oktober 2012 das Merkzeichen Bl festzustellen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das BSG mit dem Urteil vom 11. August 2015 seine frühere Rechtsprechung zur Differenzierung zwischen „Benennen- Können“ und „Erkennen- Können“ und die Notwendigkeit einer spezifischen Störung des Sehvermögens im Vergleich zu den sonstigen Sinneswahrnehmungen bei cerebral schwerst geschädigten Menschen bei der Feststellung des Merkmals Bl aufgegeben habe. Der Begriff der Blindheit i.S.d. geänderten Rechtsverständnisses erfasse über die Beeinträchtigung des Sehvermögens durch einen Defekt der Augen, eine Sehnervschädigung und Störung der Hirnrinde („Erkennen“) hinaus auch jene Fälle, in denen der Betroffene möglicherweise ein intaktes Sehvermögen habe, die Sehnervsignale jedoch im Gehirn nicht einordnen könne (sog. „nicht Benennen-Können“), also faktisch blind sei. Ausreichend sei insofern, dass rein final betrachtet, ein unterhalb der Blindheitsschwelle liegendes Sehvermögen (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein) objektiviert werde. Aufgrund des Sachverständigengutachtens von S. sei bei der Klägerin die Blindheitsschwelle erreicht. Auch wenn die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens bei der Klägerin aufgrund der aus ihrer schweren cerebralen Schädigung resultierenden weitest gehenden Untersuchungsunfähigkeit bei unauffälligem Organbefund letztlich nicht genau bestimmt werden könne, so habe der Sachverständige aufgrund der fehlenden Reaktion auf visuelle Reize ausdrücklich, eindeutig und nachvollziehbar ein unter der Blindheitsschwelle liegendes Sehvermögen festgestellt. Zwar lasse sich eine spezifische Störung des Sehvermögens bei den vorliegenden cerebralen Schäden der Klägerin nicht herausstellen, dies sei nach der neueren Rechtsprechung des BSG aber auch nicht mehr erforderlich.

Gegen das ihm am 16. Mai 2017 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. Mai 2017 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er unter Verweis auf eine Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 22. Mai 2017 (V.) im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Rechtsprechungsänderung des BSG nur auf unklare Fälle mit Beteiligung mehrerer Organ- und insbesondere Gehirnstrukturen und insbesondere das Verhältnis der verschiedenen Wahrnehmungsqualitäten zueinander beziehe. Die Rechtsprechung sei nicht einschlägig, wenn eine gravierende Beeinträchtigung des Sehorgans - wie hier- nicht bestehe. Landesblindengeld werde in Niedersachsen nicht für allein cerebral Geschädigte gewährt, das fehlende Sehvermögen müsse jedenfalls auch organisch bedingt sein.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 27. April 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe

Der Senat kann über die Berufung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Urteil des SG Aurich vom 27. April 2017 ist rechtmäßig. Der Bescheid des Beklagten vom 6. Februar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens Bl.

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 1 und Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „Bl“ ergeben sich dabei aus § 3 Abs. 1 Nr. 3 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV), der seinerseits auf den § 72 Abs. 5 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder entsprechende Vorschriften verweist. Hiernach ist ein behinderter Mensch blind, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist aber gemäß § 72 Abs. 5 SGB XII auch derjenige anzusehen, bei dem die beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als 1/50 beträgt oder bei dem nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen, die dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachten sind. Der Begriff der Blindheit wird weiter konkretisiert durch die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), die nach § 159 Abs. 7 SGB IX entsprechend gilt, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist. Nach der VersMedV ist ein behinderter Mensch blind, wenn ihm das Augenlicht vollständig fehlt (Teil A, Nr. 6a Satz 1) oder wenn seine Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt (Teil A, Nr. 6a, Satz 2 Alt. 1) oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie einer solchen Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind (Teil A, Nr. 6a Satz 2 Alt. 2 und b).

Die Klägerin ist blind im Sinne des Gesetzes.

Der erkennende Senat legt seiner Entscheidung die Maßstäbe zugrunde, die das BSG in seinem Urteil vom 11. August 2015 - B 9 BL 1/14 R - aufgestellt hat (so bereits Senatsurteile vom 21. September 2016 - L 13 SB 123/15 und vom 13. Juni 2017 - L 13 SB 145/15). Mit diesem Urteil hat das BSG seine Rechtsprechung geändert. Das BSG hatte bisher zwischen einer Schädigung des Sehapparates (Störungen beim „Erkennen“) und einer Schädigung in der Verarbeitung wahrgenommener optischer Reize (Störungen beim „Benennen“) unterschieden. Diese Differenzierung hat es nun ausdrücklich aufgegeben. Sie könne gerade bei cerebral geschädigten Menschen vielfach kaum nachvollzogen werden, d.h. die Ursache der Beeinträchtigung des Sehvermögens lasse sich nicht genau bestimmen. Denn die Untersuchung visueller Wahrnehmungsleistungen setze die Untersuchungsfähigkeit voraus. Dazu gehörten ausreichende Leistungen in den kognitiven Bereichen Aufmerksamkeit und Gedächtnis, ausreichende Sprachleistungen oder Handfunktionen. Es bestehe auch kein hinreichender sachlicher Grund, eine genaue Lokalisierung der Sehstörung zu verlangen. Entscheidend sei allein, ob es insgesamt an der Möglichkeit zur Sinneswahrnehmung „Sehen“ (optische Reizaufnahme und deren weitere Verarbeitung im Bewusstsein) fehle (BSG, a.a.O., Rn. 17 ff.). Offengelassen hat das BSG die Frage, ob die hinter der bisherigen Rechtsprechung stehende Annahme, der Wahrnehmungsvorgang stelle einen Prozess mit klar abgrenzbaren Phasen dar, überhaupt mit der aktuellen wissenschaftlichen Evidenzlage vereinbar sei (BSG, a.a.O., Rn. 21).

Aufgegeben hat das BSG insbesondere seine bisherige Rechtsprechung, dass bei cerebralen Schäden eine spezifische Störung des Sehvermögens vorliegen müsse, andere Sinne also weniger stark beeinträchtigt sein dürften (BSG, a.a.O., Rn. 22 ff.). Zur Begründung seiner neuen Rechtsprechung hat es zunächst auf die bereits beschriebenen Erkenntnisschwierigkeiten verwiesen. Gerade bei mehrfach schwerstbehinderten Menschen lasse sich eine spezifische Störung des Sehvermögens medizinisch kaum verlässlich feststellen. Es bestehe das Risiko von Zufallsergebnissen. Medizintechnische Untersuchungsmethoden seien wegen der notwendigen Sedierung oder gar Narkotisierung ethisch kaum vertretbar. Darüber hinaus hat das BSG seine Rechtsprechungsänderung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG) und dem Gebot der Gleichbehandlung behinderter Menschen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention) begründet. Diese Gebote verböten es, bei schwer cerebral geschädigten Menschen zu verlangen, dass die zur Blindheit führende Beeinträchtigung ihres Sehvermögens noch deutlich stärker ausgeprägt sei als die Beeinträchtigung ihrer sonstigen Sinneswahrnehmungen. Es existiere kein hinreichender sachlicher Grund, dass zwar derjenige als blind gelte, der „nur“ blind sei, nicht aber derjenige, bei dem zusätzlich noch ein Verlust oder eine schwere Schädigung anderer Sinnesorgane vorliege.

Die Maßstäbe, die das BSG in seinem Urteil vom 11. August 2015 dargelegt hat, gelten unabhängig davon, ob sich im konkreten Fall die Ursache der Sehstörung feststellen lässt, zumal es seine neue Rechtsprechung auch und gerade mit Verweis auf Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 GG sowie des Art 5 UN-Behindertenrechtskonvention begründet hat. Es kommt daher entgegen der Auffassung des Beklagten von vornherein nicht darauf an, ob hier einer der Fälle vorliegt, die das BSG zu einer Änderung seiner Rechtsprechung bewogen haben. Ebenfalls entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich auch dem Niedersächsischen Landesblindengesetz kein Ausschluss cerebral bedingter Sehstörungen entnehmen. Vielmehr ist die Blindheit oder Sehstörung nach § 1 Abs. 7 Niedersächsisches Landesblindengeldgesetz durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB XI nachzuweisen, so dass die oben erwähnten Normen maßgeblich bleiben. Unabhängig davon könnte das Landesblindengeldgesetz nicht die Maßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens „Bl“ modifizieren.

Nach den Maßstäben der neueren Rechtsprechung des BSG hat die Klägerin als blind zu gelten. Zwar fehlt ihr das Augenlicht nicht vollständig. Auch hat sich nicht beweisen lassen, dass ihre Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 1/50 beträgt. Zur Überzeugung des erkennenden Senats liegen jedoch andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vor, dass sie einer solchen Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. Unter Berücksichtigung des Gutachtens von S. und der Berichte von K., L. und O. steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin nicht zu einer differenzierten Sinneswahrnehmung im Stande ist. Nach den Feststellungen von S. zeigt die Klägerin keine Reaktion auf optische Reize. Im Rahmen seiner Untersuchung hat die Klägerin weder auf Licht, noch Gegenstände reagiert. Die Pupillen haben allenfalls eine schwache Reaktion auf Licht gezeigt. Auch die bei der Funduskopie verwendete helle Lichtquelle hat zu keiner Abwehrreaktion bzw. zu einem Lidschlussreflex geführt. O. hat ausgeführt, dass die Klägerin die Augen völlig unkontrolliert schließe und öffne, es erfolge keine Reaktion auf eine Lichtquelle, kein Fixieren. Gleichfalls hat K. ausgeführt, dass die Klägerin nicht mit dem Blick folge und sie die Augenlider zu kleinen Sehschlitzen verschlossen halte. Wenn sie die Augen aufreiße, verdrehe sie die Pupillen nach oben. Man müsse davon ausgehen, dass das Gehirn aufgrund der Stoffwechselstörung und der täglichen Krampfanfälle visuelle Sinneseindrücke bisher gar nicht habe verarbeiten können. Hiermit steht auch die Schilderung der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin, an deren Glaubhaftigkeit der Senat keine Zweifel hat, im Einklang, wonach die Klägerin kein Interesse an einer optischen Sinneswahrnehmung zeige. Bei diesen Befunden ist davon auszugehen, dass die Klägerin aufgrund ihrer Schwerstschädigung nie eine wirkliche Sehleistung erreicht hat. Dieser Einschätzung steht das Ergebnis der VEP mittels Blitzbrille nicht entgegen. Die bloße (schwache) Wahrnehmung von Lichtblitzen ohne die Fähigkeit des Erkennens von Gegenständen oder Personen nebst cerebraler Verarbeitung dieses Erkennens genügt nicht zur Annahme, dass eine Person im Sinne von visueller Sinneswahrnehmung sehen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.