Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.11.2017, Az.: L 15 AS 322/16

Zulässigkeit der Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren bei wahrheitswidriger Verneinung der Mitgliedschaft in einem Sozialverband; Zuständigkeit des Berufungsgerichts

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.11.2017
Aktenzeichen
L 15 AS 322/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 36701
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 23.03.2015 - AZ: S 42 AS 2143/12

Amtlicher Leitsatz

1. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nach § 124 Abs. 1 Nr. 2 ZPO liegen vor, wenn der Kläger eine bestehende Mitgliedschaft in einem Sozialverband, die kostengünstigen Rechtsschutz anbietet, wahrheitswidrig verneint. Der mit der Mitgliedschaft in einem zur Prozessvertretung befugten Sozialverband verbundene Anspruch auf Rechtsschutz in sozialgerichtlichen Angelegenheiten stellt einen vermögenswerten Anspruch auf kostengünstigeren Rechtsschutz dar.

2. In einem solchen Fall liegen auch die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vor, da die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vorgelegen haben.

3. Soweit das Hauptsacheverfahren noch in der Berufungsinstanz anhängig ist, ist für die Entscheidung über die Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung auch für die erste Instanz gemäß § 127 Abs. 1 S. 2 ZPO das Berufungsgericht zuständig.

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine PKH-Aufhebung nach §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 124 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt anders als die Aufhebung gem. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG, § 124 Abs. 1 Nr. 2 ZPO Verschulden des PKH-Antragstellers nicht voraus.

2. Nach § 124 Abs. 1 ZPO "soll" das Gericht die Bewilligung der PKH bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen aufheben; es handelt sich danach um ein intendiertes Ermessen dahingehend, dass im Regelfall die Bewilligung aufzuheben ist und nur bei Vorliegen besonderer Umstände hiervon abgesehen werden kann.

Tenor:

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Kläger durch Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 23. März 2015 wird aufgehoben.

Die Beiordnung von Rechtsanwalt D. wird aufgehoben.

Gründe

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für den Kläger durch Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 23. März 2015 ist aufzuheben. Da das Hauptsacheverfahren noch in der Berufungsinstanz anhängig ist, ist für die Entscheidung über die Aufhebung der PKH-Bewilligung auch für die erste Instanz gem. § 127 Abs. 1 S. 2, 2. Halbs. ZPO das Berufungsgericht zuständig (vgl. Fischer in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 122 Rn. 2 m.w.N.). Die Entscheidung trifft gem. § 73a Abs. 5, Abs. 6 S. 1 und Abs. 7 SGG die für das Hauptsacheverfahren bestellte Berichterstatterin des Senats. Nach § 73a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) soll die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) u.a. dann aufgehoben werden, wenn die Partei absichtlich oder aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hat oder die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH nicht vorgelegen haben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufhebung der bereits bewilligten Prozesskostenhilfe sind vorliegend erfüllt. Der Kläger hat im erstinstanzlichen Verfahren, für das ihm mit Beschluss des SG Bremen vom 23. März 2015 ratenfreie PKH bewilligt worden ist und Rechtsanwalt D. als Prozessbevollmächtigter beigeordnet worden ist, zumindest aus grober Nachlässigkeit unrichtige Angaben über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht. Die Angaben des Klägers in seinem PKH-Antrag vom 21. Dezember 2012, welche dieser mit Datum vom 21. Dezember 2012 unter Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben unterschrieben hat, waren unrichtig, da er seine zum damaligen Zeitpunkt bestehende (und bis einschließlich 31. Dezember 2016 weiter bestehende) Mitgliedschaft bei dem Sozialverband Deutschland (SoVD) nicht angegeben hat. Aufgrund der Mitgliedschaft des Klägers im SoVD haben die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH nicht vorgelegen, da der Kläger gegenüber dem Sozialverband einen vermögenswerten Anspruch auf kostengünstigen Rechtsschutz hatte. Ist ein Beteiligter Mitglied des SoVD, so ist er gehalten, seine satzungsmäßigen Rechte auf kostenlose Prozessvertretung, die als vermögenswerte Rechte anzusehen sind, auszuschöpfen. Einen Anspruch auf PKH kann er erst erwerben, wenn der Verband Rechtsschutz ablehnt (Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 8. Oktober 2009 - B 8 SO 35/09 B). Dies gilt auch, wenn im Falle der Prozessvertretung durch den Verband eine Eigenbeteiligung anfällt. Insoweit kann offen bleiben, ob hinsichtlich der Eigenbeteiligung die Bewilligung von PKH in Betracht kommt oder gemäß § 73a Abs. 2 SGG ausgeschlossen wäre, da mangels Tätigwerden des SoVD eine Eigenbeteiligung zu keinem Zeitpunkt angefallen ist. Ebenso wenig hat der Kläger hierfür (d.h. in Höhe der zu leistenden Eigenbeteiligung) PKH beantragt (vgl. zu dieser Beschränkung bzw. Konkretisierung des PKH-Antrags Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 14. Juni 2006 - B 7b AS 22/06 B). Stattdessen hat der Kläger ausdrücklich und ausschließlich die Übernahme der Kosten für eine Beauftragung von Rechtsanwalt D. beantragt. Es sind auch keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass dem Kläger eine Vertretung durch den SoVD unzumutbar gewesen sein konnte oder dass der SoVD dem Kläger die Rechtsschutzgewährung verweigert hätte. Entgegen der Auffassung des Klägers sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, dass der Kläger trotz der sich aus der Verbandszugehörigkeit ergebenden Vermögensposition der Möglichkeit der Prozessvertretung durch den Verband noch zusätzlich ein Rechtsanwalt auf Kosten des Staates beigeordnet bekommen müsste. Abgesehen davon, dass schon nicht nachvollziehbar ist, warum ein Fachanwalt für Sozialrecht eine höhere Qualifikation aufweisen sollte als der Vertreter eines Sozialverbandes wie dem SoVD, erfolgt zum einen die Bewilligung von PKH ohne Rücksicht auf die fachliche (Sonder-) Qualifikation eines Rechtsanwaltes, ebenso die Beiordnung nach § 121 ZPO. Zum anderen kann auf eine vermögenswirksame Position nicht nach Belieben verzichtet werden, um einen vermeintlich besseren Rechtsschutz zu erreichen, wenn Rechtsschutz bereits besteht (vgl. Bayerisches Landessozialgericht [LSG], Beschluss vom 22. November 2010 - L 7 AS 486/10 B PKH). Das Verschweigen der Mitgliedschaft im SoVD als vermögenswerte Position war zumindest grob fahrlässig. Im Formblatt wird unter B ausdrücklich danach gefragt, ob eine Rechtsschutzversicherung oder andere Stelle/Person (z.B. Gewerkschaft, Arbeitgeber, Mieterverein) die Kosten der Prozessführung trägt. Diese Frage hat der Kläger wahrheitswidrig verneint. Im Übrigen liegen auch die Aufhebungsvoraussetzungen nach §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 124 Nr. 3 ZPO vor. Danach soll die Bewilligung von PKH aufgehoben werden, wenn die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen für die PKH nicht vorgelegen haben. Dies war vorliegend der Fall, da der Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung auf PKH im erstinstanzlichen Verfahren bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des erstinstanzlichen Verfahrens Mitglied beim SoVD war und damit ein vermögenswerten Anspruch auf kostengünstigeren Rechtsschutz hatte. Eine PKH-Aufhebung nach §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 124 Nr. 3 ZPO setzt anders als die Aufhebung gem. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG, § 124 Nr. 2 ZPO Verschulden des PKH-Antragstellers nicht voraus (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. Dezember 2012 - L 6 AS 1448/12 B). Besondere Gründe, warum hier im Einzelfall von einer Aufhebung der PKH-Bewilligung abgesehen werden sollte, sind nicht ersichtlich. Nach § 124 Abs. 1 ZPO "soll" das Gericht die Bewilligung der PKH bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen aufheben. Es handelt sich danach um ein intendiertes Ermessen dahingehend, dass im Regelfall die Bewilligung aufzuheben ist und nur bei Vorliegen besonderer Umstände hiervon abgesehen werden kann (Landesarbeitsgericht Köln, Beschluss vom 11. Juli 2016 - 1 Ta 116/16; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16. Januar 2017 - L 13 AS 83/13; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 3. Februar 2016 - 13 WF 27/16; a.A. OLG Hamm, Beschluss vom 9. Dezember 2015 - II-2 WF 155/15; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl. 2018, § 124 Rn. 16 f.; Geimer in: Zöller, ZPO 32. Aufl. 2017, § 124 Rn. 3, wonach das Gericht keinen Ermessenspielraum mehr hat, sondern die PKH-Bewilligung aufheben muss, wenn eine der in § 124 ZPO genannten Voraussetzungen gegeben ist). Ein Ausnahmefall, welcher es rechtfertigen würde, von der Aufhebung der PKH-Bewilligung abzusehen, liegt hier nicht vor. Insoweit ist zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen, dass die fehlerhafte PKH-Bewilligung allein auf seinen objektiv unrichtigen Angaben in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beruht. Bei der für die Ermessensausübung gebotene Interessenabwägung spricht dies maßgeblich dagegen, dem Interesse des Klägers am Erhalt der PKH gegenüber dem Interesse der Staatskasse daran, allein rechtmäßig zustehende Leistungen auszuzahlen, den Vorrang zu geben. Zudem ist durch das Verschweigen der Mitgliedschaft im SoVD das Vertrauen in die Richtigkeit der Angaben des Klägers in einem Maße erschüttert, dass gesicherte Feststellungen zu seiner prozesskostenhilferechtlichen Bedürftigkeit nicht mehr getroffen werden können.

Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.