Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 22.02.2018, Az.: 6 A 6737/16

Babire; De facto kurdisch verwaltete Gebiete; De jure kurdisch verwaltete Gebiete; Irak; Kurdische Autonomieregion; Kurdistan; Ninawa; Umstrittene Gebiete; Vorverfolgung bejaht; Yeziden; Gruppenverfolgung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
22.02.2018
Aktenzeichen
6 A 6737/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 73971
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15.05.2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, irakischer Staatsangehörigkeit, kurdischer Volks- sowie yezidischer Religionszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach eigenen Angaben reiste er auf dem Landweg über die Türkei sowie im Anschluss über ihm unbekannte Länder am 16. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 29. Februar 2016 bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag,

Nachdem das Bundesamt den Kläger trotz Aufforderung seines damaligen Verfahrensbevollmächtigten noch nicht zu den von ihm geltend gemachten Verfolgungsgründen angehört hatte, erhob dieser mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2016 Klage beim Verwaltungsgericht Göttingen mit dem (Haupt-)Antrag, die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen.

Am 11. Januar 2017 hörte das Bundesamt den Kläger sodann zu seinem Verfolgungsschicksal an. In dieser Anhörung schilderte der Kläger, er sei in Sina im Bezirk Semel in der Provinz Dohuk geboren und habe seit 1995 oder 1996 bis zu seiner Ausreise in der Provinz Ninawa in der Siedlung Babire, Mujamaa Alrisal gelebt. Zunächst habe er bei seinem Vater gelebt, welcher ein Haus besessen habe. Nach seiner Hochzeit habe er dann ein Haus gemietet und später angefangen, selbst ein Haus zu bauen. In Babire habe er bis 2012 als Angestellter gearbeitet, dann habe er sich als Inhaber eines Geschäfts selbständig gemacht und Fenster und Plastiktüren eingebaut. Als die Truppen der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ am 3. August 2014 Shingal überfallen hätten, sei er mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind nach Zakho an die türkische Grenze geflohen. Infolge der geschlossenen Grenze habe er jedoch nicht in die Türkei reisen können. Er sei dann nach Dohuk gegangen und habe sich dort für eine gewisse Zeit in einer Bauruine aufgehalten. Anfang Juli 2015 sei er dann alleine ohne seine Familie in die Türkei gereist, welche er am 23. Juli 2015 wieder verlassen habe.

Hinsichtlich seiner Hochzeit führte der Kläger aus, er habe zum Zeitpunkt der Eheschließung in Babire gelebt, jedoch in Semel geheiratet und in dessen Hauptstadt Dohuk gefeiert. Die Lage in Mosul sei im Jahre 2011 sehr schlecht gewesen, deshalb habe er für seine Hochzeit nicht dorthin gehen können.

Hinsichtlich seiner Familienverhältnisse erklärte der Kläger, seine Frau heiße D. und sei am E. in Semel zur Welt gekommen. Seine Tochter habe den Namen F., sie sei am G. in Dohuk zur Welt gekommen; ihre Ausweispapiere seien in Semel ausgestellt worden. Sein Vater sei zwischenzeitlich verstorben; seine Mutter sei wieder nach Babire zurückgegangen. Seine Geschwister, sieben Brüder und zwei Schwestern, seien ebenfalls wieder in ihren Heimatort Babire zurückgekehrt. Einige von ihnen würden arbeiten, andere nicht. Zudem habe er noch zwei ältere Onkel väterlicherseits, die in Shariyah im Gouvernement Dohuk lebten und von ihren in Deutschland lebenden Söhnen unterstützt würden.

Seine Ehefrau und sein Kind seien nicht mit ausgereist, weil die Reise gefährlich sei; er wolle sie jedoch nachholen. Er wolle mit seiner Familie in Sicherheit leben; im Falle der Rückkehr in den Irak befürchte er Verfolgungen wegen seines Glaubens. So sei er etwa während seiner Arbeit als Fensterbauer oftmals indirekt beleidigt worden; man habe schlecht über seine Religion gesprochen. Dieses sei überall im Irak so, weshalb er auch nicht nach Kurdistan gehen könne.

Der vom Kläger beim Bundesamt vorgelegte Ehevertrag vom 4. Januar 2011 wurde am selben Tag Berufungsgericht Dohuk registriert. Die irakische Staatsangehörigkeitsurkunde des Klägers wurde am 25.05.2006 ebenfalls in Dohuk ausgestellt.

Mit Bescheid vom 15. Mai 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus nicht zu, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen und drohte die Abschiebung in den Irak an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Asylgesetz (AsylG) nicht substantiiert vorgetragen. Dem Vorbringen des Klägers lasse sich bei wohlwollender Beurteilung keine konkrete Handlung entnehmen, die bezwecke, ihn gezielt in einem der abschließend in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Verfolgungsgründe Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu treffen.

Sofern der Kläger vorbringe, aus Angst vor einem Einfall des Islamischen Staates geflohen zu sein, sei dieses Vorbringen nicht flüchtlings- und asylrechtlich relevant. Er habe weder konkrete Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG noch einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG ausreichend substantiiert. Der Vortrag des Antragstellers gestaltete sich dahingehend äußerst detailarm und führe nicht zu der Annahme, dass der Kläger einer Verfolgung mit den Anknüpfungsmerkmalen des § 3 AsylG ausgesetzt sei.

Soweit der Kläger vorgetragen habe, aufgrund der Zugehörigkeit zu den Yeziden einer Verfolgung durch den Islamischen Staat im Irak ausgesetzt gewesen zu sein, könne dies nicht nachvollzogen werden. Mit Verweis auf die eingereichten und durch das Bundesamt geprüften Personaldokumente, die der Kläger als Identitätsnachweis übergeben habe, könne angenommen werden, dass er aus der Region Kurdistan stamme und sich dort auch aufgehalten habe. Sowohl die Staatsangehörigkeitsurkunde, der Personalausweis als auch die Eheurkunde seien in Kurdistan (ausstellende Behörde in Dohuk bzw. Semel) ausgestellt worden. Dem Kläger könne mittels eingereichter Identitätsnachweise unterstellt werden, dass er sich bis zu seiner Ausreise am Registrierungsort in Kurdistan aufgehalten habe. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Annahme, dass sich der Antragsteller mit seiner Familie in Dohuk aufgehalten habe, bestehe auch in der Tatsache, dass gemäß seinen Angaben die Tochter am G. in Dohuk geboren worden und in Semel registriert worden sei.

Dem Bundesamt lägen derzeit keine Erkenntnisse vor, dass Personen yezidischen Glaubens in dieser Region einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien. Auch gebe es keinerlei Anhaltspunkte für eine Verfolgung durch den Islamischen Staat innerhalb der Provinzen, die sich unter kurdischer Kontrolle befänden. Dass der Kläger keiner Bedrohung ausgesetzt sei, ergebe sich auch daraus, dass er keinerlei persönliche Bedrohung habe vortragen können. Er habe mit seiner Familie lediglich aus Angst sein Heimatland verlassen.

Auch das Vorbringen des Klägers, dass er als Yezide oft beleidigt oder beschimpft worden sei, führe nicht zu der Annahme, dass dem Kläger eine Verfolgung aufgrund seiner Religion drohe. Der Kläger habe hierfür keine konkreten Angaben in der Anhörung dargelegt, sondern seine Behauptung lediglich pauschalisiert.

Mit Beschluss vom 9. November 2016 hat sich das Verwaltungsgericht Göttungen für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Hannover verwiesen.

Mit Schriftsatz seiner vorherigen Prozessbevollmächtigten vom 18. Mai 2017 hat der Kläger Klage gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Mai 2017 erhoben und zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung ließ er in der Sache ausführen, er stamme aus der Provinz Ninawa und unterliege als Yezide einer Gruppenverfolgung. Eine inländische Fluchtalternative im Nordirak stünde ihm nicht zur Verfügung, insbesondere nicht auf dem Gebiet der autonomen Region Kurdistan. Die Peshmerga seien nicht in der Lage, in den ländlichen Gebieten ausreichenden Schutz zu vermitteln, allenfalls die größeren Städte Dohuk, Erbil und Sulaymaniyaa böten im Ansatz eine Schutzmöglichkeit. Allerdings fehle es dem Kläger auf dem Gebiet der kurdischen Regionalregierung aufgrund der Verschlechterung der humanitären Situation infolge des massiven Zustroms an Binnenflüchtlingen an einer verlässlichen Existenzgrundlage.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 30. Januar 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 7. Februar 2018 abgelehnt.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Mai 2017 zu verpflichten,

1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Hinsichtlich der Anhörung des Klägers wird verwiesen auf die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2018.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 22. Februar 2018 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

I.

Die Klage ist zulässig. Zudem hat der Kläger seine ursprünglich als Untätigkeitsklage erhobene Klage (§ 75 S. 1 VwGO) nachträglich im Wege der kraft Gesetzes zulässigen Klägeränderung nach § 264 Nr. 2 ZPO, § 173 S. 1 VwGO um die Klage gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 15. Mai 2017 erweitert.

II.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid vom 9. November 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO), weil der Kläger einen Anspruch darauf hat, dass die Beklagte ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt. Der angefochtene Bescheid ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

1.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - GFK - (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erfüllt.

Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c AsylG kann die Verfolgung von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Staat eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).

Die Befürchtung einer Verfolgung ist grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn dem Ausländer für seine Person bei verständiger, objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles solche Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Beachtlich im vorgenannten Sinne ist die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung dann, wenn bei zusammenfassender Bewertung des Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 07.02.2008 - 10 C 33/07 -, juris Rn. 37). Dieser Maßstab entspricht dem für die Verfolgungsprognose unionsrechtlich einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab der "tatsächlichen Gefahr" ("real risk") eines Schadenseintritts, der unabhängig davon Geltung beansprucht, ob der Ausländer verfolgt oder unverfolgt ausgereist ist (BVerwG, Urt. v. 01.06.2011 - 10 C 25/10 -, juris Rn. 22). Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich dabei nicht nur aus gegen den Ausländer selbst gerichteten, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Diese ursprünglich für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar (BVerwG, Urt. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, juris Rn. 13).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers erfüllt.

Der Kläger hat zwar nicht dargelegt, dass ihm im Falle der Rückkehr in den Irak aus individuellen, nur in seiner Person liegenden Gründen in Anknüpfung an eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgung droht. Er hat insbesondere nicht behauptet, aus derartigen Gründen sein Heimatland Irak verlassen zu haben. Jedoch ist er als Angehöriger der yezidischen Glaubensgemeinschaft in seiner Herkunftsprovinz Ninawa mit der Provinzhauptstadt Mosul weiterhin und damit auch im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung
(§ 77 Abs. 1 AsylG) der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre yezidische Religionszugehörigkeit ausgesetzt. Dass der Kläger yezidischer Religionszugehörigkeit ist, wird vom Bundesamt nicht bezweifelt und steht im Übrigen auch zur Überzeugung des Einzelrichters fest, weil der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Einzelrichters zu den Besonderheiten des yezidischen Glaubens substantiiert und nachvollziehbar geantwortet hat.

Dem Kläger kommt darüber hinaus bei der Beurteilung der Frage, ob ihm weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urt. 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urt. v. 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12) die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rats vom 13.12.2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. Nr. L 337 S.9) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.

Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A - juris Rn. 38). Das VG Gelsenkirchen hat dazu im Urteil vom 8. März 2017 (a.a.O., Rn. 29 - 37) ausgeführt:

„Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU - dieser hat keine nationale Entsprechung - ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits vorverfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Dies entspricht dem der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedanken, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht.

Vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, (360 f.); dem folgend BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 5/09 -, BVerwGE 136, 377-388 und vom 31. März 1981 - 9 C 237.80 -, juris.

Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt,

vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 5/09 - und vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 (101 ff.), juris,

beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 5/09 - und vom 27. April 1982 - 9 C 308.81 -, BVerwGE 65, 250 (252), juris.

Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 5/09 - und vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97 (99), juris.

Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Sie misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für Ihre Wiederholung bei und begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei der Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden und entlastet sie von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür vorzulegen, dass sich die vorverfolgungsbegründenden oder einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in das Heimatland erneut realisiert werden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5/09 -; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 28. Februar 2008 - 37201/06 -, Saadi, Rn. 128 m.w.N., juris.“

Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist dabei unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urt. v. 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urt. v. 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 - juris Rn. 27).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, fällt der Kläger in den persönlichen Anwendungsbereich der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie. Die vor der Ausreise unmittelbar drohende religiöse Verfolgung des Klägers ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist.

Der Kläger war vor seiner Ausreise aus dem Irak von Verfolgungsmaßnahmen bedroht, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen. Er hat Anfang August 2014 und damit unmittelbar vor dem Einmarsch der Kampftruppen des IS in der Provinz Ninawa, Bezirk Sindschar, in dem Ort Babire gelebt.

Es steht aufgrund der glaubhaften Schilderungen des Klägers in der mündlichen Hauptverhandlung zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger tatsächlich aus der Ortschaft Babire stammt.

Ausweislich eines Gutachtens des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 25. Juli 2008 liegt das yezidische Dorf Babire in der Provinz Ninawa nordwestlich des Heiligtums Lalisch (EZKS, Gutachten in der Verwaltungsstreitsache M 4 K 08.50049, 25.07.2008, Quelle: Asylfact; vgl. auch VG München, Urteil vom 10.02.2011 – M 4 K 10.31264 -, juris Rn. 16). Dieses entspricht auch der Lage des Ortes auf der dem Einzelrichter vorliegenden Karte zum Irak (National Geographic Reference Map, 1. Januar 2010, Skala: 1:1.778.000, 1 cm = 18 km). Obgleich das Dorf formal in der Provinz Ninawa zu verorten ist, liegt es dem vorgenannten Gutachten zufolge auf de jure kurdisch verwalteten Gebiet. Hierunter versteht man all diejenigen Gebiete, die am 19. März 2003, d.h. dem Zeitpunkt des Einmarsches der alliierten Truppen in den Irak, von den damals noch zwei kurdischen Regionalregierungen kontrolliert wurden. In Artikel 53 der irakischen Übergangsverfassung, der auch nach Verabschiedung der endgültigen Verfassung nach wie vor in Kraft ist, wird die inzwischen vereinigte Kurdische Regionalregierung explizit als diejenige Regierung anerkannt, die dieses Gebiet, welches sich aus Teilen der Provinzen Dohuk, Erbil, Suleymaniya, Diyala und Ninawa zusammensetzt, rechtmäßig verwaltet.

In diesen Gebieten stellt die kurdische Regionalregierung die effektive Staatsgewalt dar, bildet also einen „Staat im Staat“. Sie verfügt über Polizei und Geheimdienste und befehligt einen Teil der regulären irakischen Armee, die früheren Peschmergastreitkräfte, die sie im de jure Gebiet unabhängig von der Zentralregierung einsetzen kann. Des Weiteren stellt die kurdische Autonomieregierung die Verwaltung, erlässt über das kurdische Regionalparlament die Gesetze und garantiert die Gerichtsbarkeit (EZKS, a.a.O., S. 2-4). Abzugrenzen sind diese Gebiete von den de facto kurdisch verwalteten Gebieten, in denen bestimmte begrenzte Verwaltungs- bzw. Schutzaufgaben von der kurdischen Regionalregierung organisiert werden. Hierbei handelt es sich um einen halblegalen Zustand, der durch keinerlei rechtliche Bestimmungen (etwa in der irakischen Verfassung) abgesichert wäre. Die de facto kurdisch verwalteten Gebiete gehören sämtlich zu den sogenannten „umstrittenen Gebieten“, also denjenigen, die sowohl von der kurdischen Regional- als auch von der irakischen Zentralregierung beansprucht werden (EZKS, a.a.O., S. 3, Fn. 3).

Aufgrund des aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindrucks steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aus diesem Ort stammt und im August 2014 vor den heranrückenden Truppen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ floh.

So hat der Kläger zum einen substantiiert und detailliert geschildert, wie er zunächst im Haus seines Vaters in Babire wohnte und sodann nach Familiengründung ein eigenes Haus bezog. Er war zudem in der Lage, die anderen drei Dörfer zu benennen, welche gemeinsam mit Babire den Ort Mujama Al-Risala bildeten; ferner vermochte er größere Städte und Sehenswürdigkeiten in der Nähe von Babire zu benennen. Insbesondere der Umstand, dass er die Entfernung dieser Orte zu Babire nicht etwa in Kilometerangaben bezeichnete, sondern in Fahrtzeiten (z.B. „ca. 30 Minuten mit dem Auto entfernt“), lässt auf die Schilderung eines real erlebten Ereignisses schließen.

Der Umstand, dass der Kläger das Foto des mutmaßlich vom IS zerstörten, in Babire gelegenen yezidischen Heiligtums Shaqsebati in der mündlichen Verhandlung nicht erkannte, rechtfertigt nach Einschätzung des Einzelrichters nicht den Rückschluss, dass der Kläger entgegen dem vorstehenden Befund doch nicht aus Babire stammt. Zum einen ist zuzugestehen, dass die Qualität des ausgedruckten Schwarz-Weiß-Fotos nicht sonderlich gut war und lediglich das Gebäude selbst zeigte, nicht aber dessen unmittelbare Umgebung bzw. die räumliche Einordnung in einen Siedlungskomplex. Zum anderen ist in Rechnung zu stellen, dass der Kläger das Gebäude sofort als yezidisches Heiligtum erkannte und angab, nicht sicher zu sein, wo dieses liege, da die entsprechenden Gebäude alle gleich aussähen. Entscheidend ist dabei zu berücksichtigen, dass der Kläger auf den Hinweis des Gerichts, es handele sich laut dem beigefügten Online-Artikel um das Heiligtum „Shaqsebat“ in Babire, sofort ausführte, der Name sei falsch geschrieben, es müsse Shaqsebati heißen. Dabei ist in diesem Zusammenhang auch zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass er bereits bei den Fragen zum Yezidentum erklärt hatte, nicht übermäßig religiös zu sein, was er später noch nachvollziehbar dahingehend erläuterte, selbst nicht einmal in dem in der Nähe von Babire gelegenen Heiligtum Lalisch gewesen zu sein. Schließlich spricht auch für den Sachvortrag des Klägers, dass er nach dem Hinweis des Gerichts, das abgebildete Gebäude liege in Babire, sofort begann, das Foto intensiv zu studieren, um augenscheinlich die Wahrheitsgemäßheit dieser Angabe mit seinem Erinnerungsvermögen abzugleichen.

Des Weiteren spricht für die Herkunft des Klägers aus Babire, dass er in der mündlichen Verhandlung eine ausführliche Bescheinigung des Büros des geistlichen Oberhaupts der Yeziden vom 18. Februar 2018 vorgelegt hat, der zufolge er Yezide ist und aus Babire stammt. Dass verschiedene Personaldokumente des Klägers in Dohuk bzw. Semel ausgestellt worden sind, steht der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers zu seiner Herkunft ebenfalls nicht entgegen. Zum einen hat der Kläger nachvollziehbar geschildert, dass Semel sein Geburtsort und infolgedessen auch sein Registrierungsort sei. Zum anderen ist der Umstand, dass die Provinz Dohuk Dokumente für den Kläger ausstellte, auch deshalb nicht ungewöhnlich, weil es sich bei Babire, wie ausgeführt, um ein de jure unter kurdischer Verwaltung stehendes Dorf innerhalb der Provinz Ninawa handelt. Auch dass seine Tochter in Dohuk geboren wurde, hat der Kläger nachvollziehbar damit erklärt, dass es in Babire kein Krankenhaus mit Entbindungsstation gebe.

Des Weiteren hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung die Umstände seiner Flucht aus Babire am 7. bzw. 8. August 2014 glaubhaft geschildert. Hierbei vermochte er situative Details wiederzugeben, wie beispielsweise den Umstand, dass er sich zur Flucht entschieden habe, als er gesehen habe, wie Bewohner der Nachbardörfer und des eigenen Dorfes zu Fuß oder mit dem Auto geflohen seien. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Details seiner Reise von Dohuk ins türkische Grenzgebiet, das er zur Nachtzeit erreichte. Auch hier stellte er – ihrerseits Zeichen für ein real erlebtes Geschehen – Komplikationen im Handlungsverlauf dar, indem er schilderte, die Grenze sei geschlossen gewesen, weshalb sie zunächst mit dem Taxi nach Dohuk zurückgekehrt und in einer Bauruine untergekommen seien. Für den Realitätsgehalt dieser Aussagen spricht schließlich auch die Schilderung des unerwarteten Details, er sei gemeinsam mit seiner Frau und seinem Kind später vom Besitzer der Ruine angetroffen worden, der ihnen den Verbleib dort erlaubt hätte.

Die Kammer hat zudem bereits mit Urteil vom 15. August 2014 (6 A 9853/14 - juris Rn. 20 - 24) angenommen, dass große Teile der Provinz Ninawa mit der Hauptstadt Mosul im August 2014 unter der Kontrolle der Dschihadistengruppe Islamischer Staat - IS - gestanden haben und yezidischen Religionsangehörigen deshalb in der Provinz Ninawa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an ihre Religionszugehörigkeit gedroht hat. Davon sind auch das VG Gelsenkirchen im Urteil vom 2. September 2014 (18a K 223/13.A - juris), das VG B-Stadt in seinem Urteil vom 15. August 2014 (18 K 386/ 14.A - juris) und das VG Frankfurt in seinem Urteil vom 3. Juli 2014 (4 K 2317/ 13 F.A. - juris) ausgegangen. In jüngerer Zeit haben das VG Oldenburg (Urt. v. 23.08.2017 - 3 A 3903/16 - juris Rn. 29 und 30; Urt. v. 28.06.2017 - 3 A 4969/16 - juris Rn. 21 und 28) und das VG Gelsenkirchen (Urt. v. 08.03.2017 - 15 a K 5929/16.A - juris Rn. 76) angenommen, dass yezidische Religionsangehörige, die aus der Provinz Ninawa stammen, jedenfalls im Sommer 2014 der Gefahr einer Gruppenverfolgung wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit ausgesetzt gewesen sind. Auch die Kammer geht in gefestigter Rechtsprechung (z.B. Urt. v. 26.10.2017 - 6 A 9126/17 und 6 A 7844/17) weiterhin davon aus, dass yezidischen Religionsangehörigen in der Provinz Ninawa im Sommer 2014 in Anknüpfung an ihre Religion die Gefahr einer Gruppenverfolgung gedroht hat.

Insbesondere steht zur Überzeugung des Einzelrichters aufgrund der in der mündlichen Verhandlung ausgewerteten Erkenntnismittel fest, dass Babire tatsächlich Anfang August 2014 von Kämpfern des Islamischen Staates überrannt und eingenommen wurde. Der Umstand, dass die kurdische Regionalregierung formal die Sicherheitshoheit über den Ort hatte, führt hier zu keinem anderen Ergebnis, da anders als in der Provinz Dohuk selbst kein wirksamer Schutz gewährleistet wurde.

Dass der IS in diesem Zusammenhang schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Sinne des § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG und damit die Gewährung von Flüchtlingsschutz rechtfertigende Verfolgungshandlungen begangen hat, liegt nicht nur der angeführten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zugrunde, sondern ist auch vom UN - Menschenrechtsrat angenommen worden. Der IS hat nach Auffassung des UN-Menschrechtsrats an den Yeziden Völkermord begangen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Es kam zu Hinrichtungen, Entführungen, Zwangskonvertierungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Zwangsverheiratungen, Zwangsabtreibungen, Menschenhandel, Rekrutierung von Kindersoldaten, Zwangsvertreibungen und Massenmord (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 12).

Diese Verfolgungshandlungen haben auch im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG an die yezidische Religionszugehörigkeit und damit an einen in §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG genannten Verfolgungsgrund angeknüpft. Der IS fokussierte seinen Angriff von Beginn an aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auf die Yeziden und strebte systematisch ihre Vernichtung an (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 1). Für die Extremisten des IS sind die Yeziden „Ungläubige“, sogenannte „Teufelsanbeter“, die mit dem Tod bestraft werden können (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 18). Diese religiöse Deutung bestimmt(e) das Verhalten der IS-Kämpfer während des Angriffs auf die Sindschar-Region und die daran anschließende Misshandlung von yezidischen Männern, Frauen und Kindern. Die Tötung nicht konvertierender yezidischer Männer und Jungen, die sexuelle Ausbeutung und Versklavung von yezidischen Frauen und Mädchen, die Entführung, Indoktrinierung und Rekrutierung von yezidischen Jungen knüpfte nahtlos an den religiösen Auftrag der IS-„Gelehrten“ hinsichtlich der Behandlung von yezidischen Gefangenen an. Während und nach dem Angriff vom 03.08.2014 zerstörte der IS yezidische Heiligtümer und Tempel in der Sindschar-Region. Yezidische Häuser wurden als solche markiert und geplündert (vgl. UN-Menschenrechtsrat, „They Came to Destroy“: ISIS Crimes Against the Yazidis, 15.6.2016, S. 29-30).

Es liegen ferner derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, welche aus der Sicht des Einzelrichters die Annahme rechtfertigen könnten, dass die Kläger im Falle der Rückkehr in den Irak keinen religiös motivierten Verfolgungsmaßnahmen mehr ausgesetzt sein würden.

Zwar steht die Region um Sindschar nicht mehr unter der Kontrolle des IS. Dies reicht aber im Hinblick auf die massiven Rechtsgutverletzungen, die den Yeziden durch Angehörige des IS drohen, nicht aus, um die aus Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie abzuleitende Vermutung einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr hinreichend zu entkräften.

Die Verhältnisse in der Provinz Ninawa haben sich angesichts der massiven Rechtsgutverlet-zungen, die Yeziden durch Angehörige des IS drohen, derzeit noch nicht so stabilisiert, dass eine Wiederholung religiös motivierter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden hinrei-chend sicher ausgeschlossen werden kann. Dass Regierung und Staat den Schutz der Min-derheiten und damit auch der Yeziden nicht hinreichend sicherstellen können, hat das Auswär-tige Amt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.02.2017, S. 15 und 17) bestätigt.

Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist noch in jüngster Zeit angenommen worden, dass Yeziden derzeit noch in der Provinz Ninawa die Gefahr droht, Opfer von religiös motivierten Übergriffen von Angehörigen des IS zu werden. Dazu heißt es im Urteil der Kammer vom 26.10.2017 (6 A 9126/17):

„Der IS nahm im August 2014 weite Teile des Nordiraks ein. Im Verlauf dieser Offensive griff er systematisch Mitglieder der yezidischen Glaubensgemeinschaft an, tötete und verschleppte Tausende von ihren Heimatorten in der Provinz Ninawa. Zehntausende flohen. Schätzungen zufolge sind seit dieser Zeit etwa 360.000 vertriebene Yeziden nicht in der Lage an ihre Heimatorte zurückzukehren (vgl. zum Vorstehenden Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights – United Nations Assistance Mission for Iraq, Call for Accountability and Protection: Yezidi Survivors of Atrocities Committed by ISIL, August 2016 (im Folgenden UNAMI-Report August 2016), S. 5). Geschätzt wird zudem, dass zwischen 2.000 und 5.500 Jesiden seit August 2014 von dem IS getötet und etwa 6.386 verschleppt wurden. Im August 2016 befanden sich noch etwa 3.799 Yeziden in der Gefangenschaft des IS (UNAMI-Report August 2016, S. 8). Zuletzt konnte der IS zwar insgesamt zurückgedrängt werden. Er kontrolliert aber weiterhin Teile der Provinz Ninawa (vgl. Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes vom 23.5.2017, veröffentlicht auf http://www.auswaertiges-amt.de/; U.S. Commission on International Religious Freedom, Annual Report 2017, S. 164). Die Verfolgung von Minderheiten in den von ihm kontrollierten Gebieten dauert fort (vgl. US Department of State (USDOS): Country Report on Human Rights Practices Iraq 2016, vom 3.3.2017; UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights on the human rights situation in Iraq in the light of abuses committed by the socalled Islamic State in Iraq and the Levant and associated groups vom 13.3.2015, S. 5-11).

Damit besteht jedenfalls seit August 2014 bis zum heutigen Tage für Yeziden in der Provinz Ninawa die reale Gefahr Opfer von systematischen IS-Übergriffen zu werden. Zwar kontrolliert der IS nur Teile und nicht etwa die gesamt Provinz Ninawa. Angesichts der massiven Rechtsgutverletzungen die den Yeziden durch den IS drohen und des Ausmaßes der Gefahr, kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen Furcht vor Verfolgung aber auch dann hervorgerufen werden, wenn der IS (lediglich) in der unmittelbaren Umgebung der eigenen Herkunftsregion Gebiete kontrolliert. Gebietsgewinne und -verluste sind im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen jederzeit denkbar.“

Auch das VG Oldenburg ist in seinem Urteil vom 23.08.2017 (3 A 3903/16 - juris Rn. 33) von einer fortbestehenden Verfolgungsgefahr yezidischer Religionsangehöriger in der Provinz Ninawa ausgegangen und hat dazu ausgeführt:

„Aufgrund der derzeitigen politischen Lage im Irak kann vielmehr nicht davon ausgegangen werden, dass Yeziden in der Provinz Ninive keine Gefahr mehr durch den IS droht. Bashiqa und auch die nahe Großstadt Mosul sind zwar mittlerweile von der Herrschaft durch den IS befreit worden (vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/mossul-irak-meldet-rueckeroberung-der-frueheren-is-hochburg-a-1156888.html; https://de.wikipedia.org/wiki/Baschiqa, abgerufen am 29. August 2017). Allerdings wäre den Klägern eine Rückkehr nach Bashiqa nicht zumutbar, weil viele Häuser nach dem Abzug des IS von diesem mit Sprengkörpern versehen worden sind (vgl. http://news.trust.org/item/20170315154830-3qkt9/, abgerufen am 29. August 2017 über www.ecoi.net), so dass die Wiederansiedlung in dem Ort zumindest derzeit lebensgefährlich sein würde. Überdies ist auch noch nicht die gesamte Provinz Ninive von der Einflussnahme durch den IS befreit. Vielmehr versucht die irakische Regierung in diesen Tagen, die noch vom IS gehaltene Stadt Tal Afar zurückzuerobern (vgl. https://de.reuters.com/article/irak-tal-afar-offensive-idDEKCN1B0097, abgerufen am 29. August 2017). Angesichts der insgesamt zu verzeichnenden Spannungen im Nordirak - zu nennen ist hier insbesondere der Konflikt um die sog. „umstrittenen Gebiete“ (siehe hierzu ausführlich Oehring, Seite 79) und der allgemein weiterhin äußerst unsicheren Lage in Ninive liegen zumindest derzeit keine stichhaltigen Gründe vor, die gegen eine erneute Verfolgung der Kläger aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Yeziden sprechen.“

Die Verhältnisse in der Provinz Ninawa haben sich angesichts der massiven Rechtsgutverletzungen, die Yeziden durch Angehörige des IS drohen, mithin derzeit noch nicht so stabilisiert, dass eine Wiederholung religiös motivierter Verfolgungshandlungen gegenüber Yeziden hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann. Dass Regierung und Staat den Schutz der Minderheiten und damit auch der Yeziden nicht hinreichend sicherstellen können, hat das Auswärtige Amt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 07.02.2017, S. 15 und 17) bestätigt.“

Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus dem Umstand, dass der irakische Regierungschef Haider al-Abadi am 9. Dezember 2017 den Krieg gegen die IS-Terrormiliz in seinem Land für beendet erklärt hat (Artikel der Zeit vom 09.12.2017: „Irak verkündet Ende des Krieges gegen den IS“). Entsprechendes gilt hinsichtlich der Meldung der US-geführten Militärkoalition, der IS habe in dem von ihr kontrollierten Gebiet fast alle seine Kämpfer verloren, wobei sich nicht einmal 1000 Kämpfer in einem letzten Rückzugsgebiet an der Grenze zwischen Syrien und dem Irak aufhalten sollen (Artikel der Zeit vom 27.12.2017: „IS soll weniger als 1.000 Kämpfer haben“).

In diesem Zusammenhang ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Organisation des IS im Irak bereits zweimal, d.h. in den Jahren 2008 und 2011 vermeintlich zerstört wurde, sich jedoch tatsächlich jeweils in den Untergrund verlagerte und allmählich wieder erstarkte. Auch in der gegenwärtigen Situation gehen Beobachter davon aus, dass die Terrororganisation IS sich die personelle und finanzielle Basis für einen erneuten Aufstieg zu einem günstigen Zeitpunkt, d.h. bei einem Machtvakuum, einem Bürgerkrieg oder einer Unterdrückung der sunnitischen Minderheit, dadurch aufrechterhält, indem sie – wie in der Anfangsphase der Organisation bzw. seiner Vorgängerorganisationen - Drogenschmuggel, Menschenhandel, Entführungen oder illegale Finanzgeschäfte betreibt und parallel ihre religiöse Ideologie im Internet verbreitet (Artikel der Zeit vom 27.12.2017: „Dschihad der Staatenlosen“). So nahm die irakische Polizei im Januar 2018 in Falludscha Mitglieder einer IS-Zelle fest, welche von Nachbarn Schutzgeld in Höhe von mehreren Tausend US-Dollar erpresst hatte (Artikel des Spiegel vom 20.01.2018: „Ölquellen weg, Geldschrank voll“). Derartige Aktivitäten kann der IS auch ohne einen territorialen Geltungsanspruch durchführen, zumal die staatliche Ordnungsmacht etwa im Westirak nach den verlustreichen Kämpfen zur Rückeroberung der vom IS besetzten Territorien weitestgehend abwesend ist (Artikel der Zeit vom 27.12.2017: „Dschihad der Staatenlosen“).

Nach Schätzungen des irakischen Parlaments ist es dem IS zudem gelungen, ca. 400 Millionen US-Dollar aus seinem einstigen Herrschaftsgebiet herauszuschmuggeln, wobei die Organisation einen Teil der Summe mit Hilfe von Mittelsmännern in Bagdad und in anderen Landesteilen (z.B. in Wechselstuben) reinvestiert hat, um seinen Untergrundkampf zu finanzieren (Artikel des Spiegel vom 20.01.2018: „Ölquellen weg, Geldschrank voll“). Auch im Dezember 2017 verübte der IS im Irak weiterhin Terroranschläge in der Nähe der Stadt Tikrit (Artikel des ZDF vom 24.12.2017: „Tote bei Angriff im Irak“). Zudem hegen irakische Sicherheitsbehörden den begründeten Verdacht, dass die im Januar 2018 in der Provinz Ninawa verübte Ermordung von drei Rechtsanwälten, welche in Gerichtsprozessen mit Bezug zu ehemaligen IS-Mitgliedern aufgetreten waren, auf das Konto einer IS-Schläferzelle geht (Artikel von Kurdistan24 vom 02.01.2018: „Three lawyers working on IS-related cases killed in Iraq“).

Der Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes steht auch nicht die Bestimmung des § 3e Abs. 1 AsylG entgegen. Hiernach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Diese Voraussetzungen sind in Ansehung des Klägers nicht erfüllt. Insbesondere die Flüchtlingslager im Nordirak stellen keine solche interne Schutzmöglichkeit dar.

Die Kammer hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urt. v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) angenommen, dass yezidische Religionsangehörige aus der Provinz Ninawa in aller Regel keinen hinreichenden Schutz vor Verfolgung in anderen Landesteilen des Irak finden können. Dazu heißt es im Urteil vom 26.10.2017 (6 A 9126/17):

„Eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG besteht nicht. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden, vgl. § 3 e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn Personen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten im Nord- und Zentralirak fliehen, haben nur eingeschränkten Zugang zu diesen Gebieten in anderen Landesteilen, da strenge Einreise- und Niederlassungsbeschränkungen bestehen, die u.a. an den Nachweis eines Bürgen, eine Meldung bei den örtlichen Behörden und eine erfolgreiche Sicherheitsprüfung durch verschiedene Sicherheitsbehörden geknüpft sind. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet, und mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden vollständige Einreisestopps für Flüchtlinge aus Konfliktgebieten verhängt, einschließlich der Provinzen Bagdad, Babel und Karbala. Die Sicherheitsüberprüfungen betreffen vor allem sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die aus den vom IS kontrollierten Gebieten fliehen und als Sicherheitsrisiko angesehen werden. Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann passieren, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird. Binnenvertriebene werden zunehmend daran gehindert, städtische Gebiete zu betreten, und – bisweilen gegen ihren Willen – in Lager verbracht, in denen ihre Freizügigkeit in unangemessener Weise und ohne legitime sicherheitsbezogene oder sonstige Gründe beschränkt wird. Infolgedessen müssen Flüchtlinge oft in den Konfliktgebieten bzw. in deren Umgebung bleiben (vgl. zum Vorstehenden UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016, S. 4; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7.2.2017, S. 10-12). Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, dass Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, kaum eine Möglichkeit haben, einen sicheren Aufnahmeplatz zu finden. Ausnahmen stellten ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.“

Nichts anderes gilt dann, wenn man zugunsten des Klägers die Möglichkeit unterstellt, abermals in das kurdische Autonomiegebiet reisen zu können, etwa im Hinblick auf Anhaltspunkte dafür, dass Yeziden unter erleichterten Bedingungen in die kurdische Autonomieregion einreisen können, ggf. auch ohne bereits Aufenthaltspapiere zu besitzen und ohne einen Bürgen (bzw. Paten oder Sponsor) nachweisen zu müssen (vgl. UK Home Office, Return and Internal relocation, Deutsche Übersetzung S. 7, 46, 52-54; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 08.03.2017 – 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 109). Die Zumutbarkeit einer internen Schutzmöglichkeit nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG hängt nämlich auch davon ab, ob an dem Ort, an dem der Ausländer vor einem ernsthaften Schaden sicher ist, auch das wirtschaftliche Existenzminimum des Ausländers gewährleistet ist und er dort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet. Im Falle fehlender Existenzgrundlage ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben. Dies gilt auch dann, wenn im Herkunftsgebiet die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind. Das Vorhandensein einer Existenzgrundlage ist in der Regel anzunehmen, wenn der Ausländer durch eigene Arbeit oder Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts Anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums (VG Saarlouis, Urt. v. 14.12.2017 - 6 K 1053/16 -, juris Rn. 30 f.; BVerwG, Beschl. v. 31.07.2002 - 1 B 128.02 -, InfAuslR 2002, S. 455; Urt. v. 29.05.2008 - 10 C 11.07, DVBl. 2008, S. 1251). In Anwendung dieser rechtlichen Grundsätze kann von dem Kläger unter Berücksichtigung der gegenwärtigen humanitären Bedingungen in der autonomen Region Kurdistan-Irak vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich in dieser Region niederzulassen.

Dass yezidische Religionsangehörige aus der Provinz Ninawa weder in Bagdad noch in den unter kurdischer Verwaltung stehenden Gebieten des Nordirak einen internen Schutz finden können, haben u.a. das VG Oldenburg (Urt. v. 23.08.2017 - 3 A 3903/16 - juris Rn. 38 und 40 - 46; Urt. v. 28.06.2017 - 3 A 4969/16 - juris Rn. 39 - 43) und das VG Gelsenkirchen (Urt. v. 08.03.2017 - 15 a K 5929/16.A - juris Rn. 103 und 107 - 109) angenommen und dabei insbesondere auf die überfüllten Flüchtlingslager und die schlechten humanitären Verhältnisse im Nordirak hingewiesen. Das VG Gelsenkirchen hat in diesem Zusammenhang ausgeführt (a.a.O., Rn. 113-122):

„2016 befanden sich in den Provinzen des autonomen Nordirak mehr als eine Million irakische Binnenvertriebene und etwa 250 000 syrische Flüchtlinge.

Vgl. Diakonie Katastrophenhilfe, Ein Neuanfang für Flüchtlinge im Irak, www.diakoniekatastrophenhilfe.de/Neuanfang-im-irak.de.

Das Verhältnis von Flüchtlingen bzw. Binnenvertriebenen zu Einwohnern der Kurdenregion ist eins zu sechs, in manchen Gebieten eins zu drei.

Vgl. UNHCR, Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA) for Yazidis in the Kurdistan Region of Iraq (KR-I), liegt in deutscher Übersetzung vor.

Die allgemeine Lage in der Kurdenregion verschlechtert sich zunehmend, je länger die Provinzen die Flüchtlinge versorgen und je mehr Menschen in dieser Region Zuflucht suchen. Nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl der aufgenommenen Binnenvertriebenen, befindet sich die Region in einer Finanzkrise.

Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2017, S. 19. 119.

Schon hinsichtlich der in der Vergangenheit verzeichneten Flüchtlingsströme bestand angesichts der begrenzten Ressourcen und Aufnahmemöglichkeiten des kurdischen Autonomiegebiets dort nur dann eine inländische Fluchtalternative für Personen aus anderen Landesteilen, wenn der Betroffene über verwandtschaftliche und/oder wirtschaftliche Beziehungen zum Autonomiegebiet verfügt und so sein unabweisbares Existenzminimum sichern kann. Die eigenständige Sicherung eines Existenzminimums ist Flüchtlingen im Nordirak nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich nicht möglich.

Der staatliche Sektor des Arbeitsmarktes ist für Flüchtlinge weitgehend verschlossen. Möglichkeiten bieten sich für Personen ohne besondere Qualifikation allenfalls in den Bereichen Gastronomie, Tourismus und Baugewerbe. Aufgrund der hohen Anzahl an Flüchtlingen sind diese Arbeitsmöglichkeiten jedoch nicht in relevanter Anzahl vorhanden. Zudem ist die Tourismusbranche bereits seit 2015 stark geschrumpft. Auch der Bausektor stagniert bereits seit ca. zwei Jahren aufgrund finanzieller Schwierigkeiten der kurdischen Regionalregierung. Zudem liegen die Flüchtlingsunterkünfte oftmals außerhalb der Städte, sodass der Zugang - ohne ein funktionierendes Nahverkehrssystem - bereits aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist.

Vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, 10. September 2015, Gutachten Irak.

Ein Aufenthalt in den bestehenden Lagern für Binnenvertriebene im Autonomen Nordirak genügt deshalb regelmäßig nicht den Anforderungen an eine inländische Fluchtalternative.“

Dies entspricht auch der Auffassung des UNHCR (vgl. UNHCR-Position zur Rückkehr in den Irak, vom 14.11.2016, S. 39), der eine interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative nur in dem außergewöhnlichen Fall als gegeben ansieht, dass die betreffende Person den entsprechenden Landesteil auf legalem Weg erreichen und sich dort rechtmäßig aufhalten kann, ihr dort keine neue Gefahr eines ernsthaften Schadens droht, sie dort enge familiäre Bindungen hat und die Familie bereit und in der Lage ist, sie zu unterstützen (VG Saarlouis, Urt. v. 14.12.2017 – 6 K 1053/16 -, juris Rn. 37-39). Bei der Frage der Zumutbarkeit der inländischen Fluchtalternative ist schließlich auch zu berücksichtigen, dass das Vertrauen der Jesiden in die regionalen Ordnungsmächte, etwa die kurdische Regionalregierung, dadurch stark beeinträchtigt ist, dass kurdische Peschmerga-Einheiten im August 2014 yezidische Siedlungen im Distrikt Sindschar kampflos den heranrückenden IS-Truppen überlassen hatten (Konrad-Adenauer-Stiftung, Christen und Jesiden im Irak: Aktuelle Lage und Perspektiven, 2017, S. 36).

Vor diesem Hintergrund scheidet die autonome Region Kurdistan-Irak als interne Schutzmöglichkeit für den Kläger aus.

Dass der Kläger in Anbetracht der Vielzahl der in den kurdischen Autonomiegebieten befindlichen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, der tiefgreifenden humanitären Krise und der lediglich beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten in der Lage wäre, zeitnah eine Erwerbstätigkeit zu finden, um für sich, seine schwangere Frau und seine minderjährige Tochter die Lebensgrundlage zu sichern, hält das Gericht für ausgeschlossen. Schließlich ist weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass im vorliegenden Fall besondere Umstände vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, die Kläger könnten hinreichenden Schutz vor Verfolgung außerhalb der Region Kurdistan finden, d.h. in anderen Landesteilen des Irak.

Das Vorliegen von Ausschlussgründen gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2 und 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ebenfalls aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.