Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 05.02.2018, Az.: 11 A 11248/17

Asyl; Asylantragsstellung; Erfolgloses Asylverfahren; Griechenland; maßgeblicher Zeitpunkt; sicherer Drittstaat; systemische Mängel; Zuständigkeitsübergang; Zweitantrag

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
05.02.2018
Aktenzeichen
11 A 11248/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74108
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässiger Zweitantrag ist rechtswidrig, wenn ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat weder im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland noch im Zeitpunkt des Übergangs der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland vorlag.
2. Ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG liegt nur vor, wenn das betreffende Asylverfahren gemäß der Definition des sicheren Drittstaats in Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchgeführt worden ist. In Griechenland war für vor dem 7. Juni 2013 gestellte Asylanträge eine hinreichende inhaltliche Prüfung der Asylgründe nicht sichergestellt, so dass ein solches Asylverfahren nicht als Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat angesehen werden kann (Bestätigung der Kammerrechtsprechung, vgl. Beschluss vom 19. Januar 2017 - 11 B 460/17 -, juris).

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 13. November 2017 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 22. August 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Im Rahmen der Ermittlungen stellte das Bundesamt fest, dass der Kläger bereits am 17. Juni 2009 in Griechenland einen Asylantrag gestellt hatte, der am 6. November 2014 abgelehnt worden war. Die griechischen Behörden teilten mit Schreiben vom 11. Mai 2017 mit, dass der Kläger am 6. Dezember 2014 einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung erhoben habe, über den noch nicht entschieden worden sei („The Case is pending. No decision has been issued yet.“). Mit Schreiben vom 28. September 2017 teilten die griechischen Behörden mit, dass das Rechtsbehelfsverfahren am 13. September 2017 „unterbrochen“ worden sei („The examination of the appeal was interrupted on 13/09/2017, due to implicit withdrawal.“).

Mit Bescheid vom 13. November 2017, zugestellt am 16. November 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, forderte ihn zur Ausreise innerhalb von einer Woche auf, drohte ihm für den Fall der nicht rechtzeitigen Ausreise die Abschiebung nach Pakistan an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen an, dass von einem Zweitantrag auszugehen sei. Das Vorbringen des Klägers erfülle nicht die Anforderungen an das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG. Dem Bescheid beigefügt war eine Rechtsbehelfsbelehrung, wonach eine Klageerhebung „innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung“ möglich sei.

Der Kläger hat am 24. November 2017 Klage erhoben. Ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren hatte Erfolg (Beschluss vom 5. Dezember 2017, Az.: 11 B 11868/17).

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2017 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf ihren Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die Klage hat Erfolg.

Sie ist als Anfechtungsklage zulässig. Die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Zweitanträgen, die als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, ist mit der Anfechtungsklage anzugreifen (BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris). Die Klage musste auch nicht innerhalb der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Hs. 2 AsylG i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG erhoben werden, da der Kläger über die einzuhaltende Frist nicht richtig belehrt worden ist (vgl. § 58 Abs. 1 VwGO). Ob für den Kläger infolge der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung die Rechtsfolge des § 58 Abs. 2 VwGO eintritt oder ob er sich an der in der Rechtsbehelfsbelehrung genannten Frist von zwei Wochen festhalten lassen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 1999 – 11 C 9/97 –, juris Rn. 10), bedarf keiner Entscheidung, weil die Klage nach beiden Betrachtungsweisen rechtzeitig eingegangen ist. Die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO hat der Kläger ebenso gewahrt wie die in der Rechtsbehelfsbelehrung angegebene Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Bescheides.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Hs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage der Unzulässigkeitsentscheidung des Bescheids vom 13. November 2017 sind die §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Fall eines Asylantrags im Bundesgebiet (Zweitantrag) ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens) vorliegen.

Die Voraussetzungen für die Behandlung des Asylantrages des Klägers als Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG liegen nicht vor.

Die Beklagte ist zunächst im angegriffenen Bescheid unzutreffend davon ausgegangen, dass das Asylverfahren des Klägers in Griechenland im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG erfolglos abgeschlossen ist. Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet werden kann, was nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen ist, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris Rn. 29).

Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das Asylverfahren des Klägers in Griechenland dadurch, dass sein dortiger Asylantrag am 6. November 2014 abgelehnt worden ist, bereits im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG endgültig erfolglos abgeschlossen worden ist. Nach der Mitteilung der griechischen Behörden vom 11. Mai 2017 hat der Kläger am 6. Dezember 2014 einen Rechtsbehelf gegen die ablehnende Entscheidung eingelegt, über den zum Zeitpunkt der Mitteilung noch nicht entschieden worden war. Soweit die griechischen Behörden am 28. September 2017 mitgeteilt haben, dass das Rechtsbehelfsverfahren am 13. September 2017 „unterbrochen“ („interrupted“) worden sei, belegt diese Mitteilung nicht, dass eine endgültige Ablehnung oder Verfahrenseinstellung erfolgt ist. Den Begriffen der „Unterbrechung“ oder „Interruption“ ist vielmehr immanent, dass eine Weiterführung des Verfahrens noch möglich ist.

Die Frage, ob das Verfahren endgültig abgeschlossen ist, muss vorliegend jedoch nicht weiter aufgeklärt werden (vgl. zur gerichtlichen Aufklärungspflicht zuletzt BVerwG, Urteil vom 21. November 2017 – 1 C 39/16 –, juris), denn ein erfolgloser Verfahrensabschluss lag jedenfalls zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor. Nach dem Wortlaut des § 71a Abs. 1 AsylG liegt ein Zweitantrag lediglich dann vor, wenn der Ausländer seinen Asylantrag im Bundesgebiet nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26 AsylG) gestellt hat. Damit wäre nach dem Wortlaut der Vorschrift für die Frage des erfolglosen Verfahrensabschlusses auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland abzustellen (so auch VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 13. Juli 2017 – 6 L 665/17.A –, juris Rn. 5-6; VG Cottbus, Beschluss vom 19. Mai 2017 – 1 L 680/16.A –, juris Rn. 9-10; BeckOK AuslR/Schönenbroicher/Dickten, 15. Ed., 1. August 2017, AsylG § 71a Rn. 2; offen gelassen in BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 -, juris Rn. 40). Der Asylantrag des Klägers in Deutschland wurde am 22. August 2016 gestellt und damit zu einem Zeitpunkt, als der Asylantrag des Klägers in Griechenland unstreitig noch nicht unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren anderweitig beendet war.

Selbst wenn man jedoch nicht auf den Zeitpunkt der Asylantragsstellung in Deutschland, sondern auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs abstellen würde (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 27. November 2017 – 1 B 190/17 –, juris Rn. 31-38; wohl auch Bayerischer VGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50069 –, juris Rn. 25; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2015 – A 11 S 121/15 –, juris Rn. 36), wäre der Anwendungsbereich des § 71a AsylG nicht eröffnet. Denn das Asylverfahren des Klägers in Griechenland ist auch zu dem Zeitpunkt, in dem die Bundesrepublik Deutschland anstelle Griechenlands für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden ist, (noch) nicht erfolglos abgeschlossen gewesen.

Die Beklagte ist nach Art. 23 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) bereits im Oktober 2016 für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Nach Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, in dem der neue Antrag gestellt wurde, wenn das Wiederaufnahmegesuch an denjenigen Mitgliedsstaat, in dem der erste Antrag gestellt wurde, nicht innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO festgesetzten Frist erfolgt. Vorliegend ist das Wiederaufnahmegesuch der Beklagten nicht innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO festgesetzten Frist erfolgt. Ein Wiederaufnahmegesuch ist nach Art. 23 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung im Sinne von Art. 9 Abs. 5 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (Eurodac-VO) zu stellen. Das Wiederaufnahmegesuch ist vorliegend nicht innerhalb dieser Frist erfolgt. Das Bundesamt hat bereits am 22. August 2016 eine Eurodac-Treffermeldung erhalten. Somit ist die Beklagte nach Ablauf der ab dem 22. August 2016 laufenden Zweimonatsfrist für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden. Zu diesem Zeitpunkt ist das Asylverfahren des Klägers in Griechenland ebenfalls unstreitig noch nicht endgültig abgeschlossen gewesen.

Demnach war das Asylverfahren des Klägers in Griechenland zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht erfolglos abgeschlossen im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG.

Das Asylverfahren des Klägers in Griechenland könnte unabhängig davon aber auch nicht als Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG, § 26a AsylG und Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG angesehen werden (vgl. hierzu bereits VG Hannover, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 11 B 460/17 –, juris; sowie Urteil vom 3. August 2017 – 11 A 4422/17 – n.v.; VG Lüneburg, Urteil vom 14. November 2017 – 2 A 372/17 –, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 23. März 2017 - 5 A 95/17 – V.n.b.; VG Osnabrück, Beschluss vom 1. August 2017 – 5 B 187/17 – V.n.b.). Griechenland ist zwar als Mitgliedstaat der Europäischen Union grundsätzlich als sicherer Drittstaat anzusehen, § 26a Abs. 2 AsylG, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG. Allerdings ist § 71a AsylG dahingehend auszulegen, dass ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat nur vorliegt, wenn das betreffende Asylverfahren gemäß der Definition des sicheren Drittstaats in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG in Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchgeführt worden ist (VG Hannover, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 11 B 460/17 –, juris Rn. 9; VG München, Urteil vom 26. Oktober 2016 – M 17 K 15.31601 –, juris Rn. 39; VG Aachen, Beschluss vom 4. August 2015 – 8 L 171/15.A –, juris Rn. 9). Das Konzept sicherer Drittstaaten beruht auf dem Gedanken, dass in Deutschland keine Schutzwürdigkeit besitzt, wer in einem sicheren Drittstaat Schutz hätte finden können. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich bei der Bestimmung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu sicheren Drittstaaten davon leiten lassen, dass in allen Mitgliedstaaten die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention gelten und ferner davon, dass diese Konventionen auf der Grundlage gemeinsamer Grundüberzeugungen im Rahmen der Flüchtlingspolitik prinzipiell auch angewendet werden (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, juris Rn. 157-160). Die Regelung des Art. 16a Abs. 2 GG über die sicheren Drittstaaten eröffnet vom Wortlaut keine Möglichkeit, diese verfassungsrechtlich verankerte Feststellung bezogen auf den vom Verfassungsgeber generell als sicher eingestuften Mitgliedstaat der Europäischen Union durch individuelles Vorbringen auszuräumen.

Bei der Anwendung der Regelungen über die sicheren Drittstaaten gilt nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts allerdings ausnahmsweise etwas anderes in fünf in seiner Entscheidung näher bezeichneten Fallkonstellationen aufgrund von besonderen Umständen, die vom Verfassungs- beziehungsweise Gesetzgeber nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung berücksichtigt werden konnten beziehungsweise die von vornherein außerhalb des „Blickfeldes“ des deutschen Verfassungsgesetzgebers lagen und die der Durchführung eines solchen Konzepts von daher gewissermaßen aus sich heraus verfassungsrechtliche Grenzen setzen. Nicht umfasst vom Konzept normativer Vergewisserung über einen Schutz für Flüchtlinge durch den sicheren Drittstaat sind danach unter anderem Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK greift und dadurch selbst zum „Verfolgerstaat“ wird (BVerfG a.a.O. Rn. 189). Eine unmenschliche Behandlung, die einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK i.V.m. Art. 3 EMRK begründet, kann dabei auch in Mängeln der Asylantragsprüfung liegen sowie in der dadurch begründeten Gefahr, dass ein Antragsteller in sein Herkunftsland abgeschoben wird, ohne dass ernsthaft geprüft worden ist, ob sein Asylantrag begründet ist, und ohne dass er einen wirksamen Rechtsbehelf einlegen konnte (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. v. Belgium and Greece Rn. 321; vgl. auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10, C-411/10, C-493/10 –, juris). Voraussetzung der Einordnung eines Staates als sicherer Drittstaat ist unter dem Gesichtspunkt von Verstößen gegen Art. 3 EMRK damit insbesondere, dass in dem betreffenden Mitgliedstaat keine sog. systemischen Mängel des Asylverfahrens gegeben sind, aufgrund derer der Asylbewerber Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18. Februar 2016 – 1 A 11081/14 –, juris Rn. 23).

Diese nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu bejahenden Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall anzunehmen. Das Asylverfahren des Klägers in Griechenland kann nicht als Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat angesehen werden, weil nicht sichergestellt ist, dass das Asylverfahren gemäß dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchgeführt worden ist.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 (30696/09; M.S.S. v. Belgium and Greece) wies das Asylsystem in Griechenland zum Zeitpunkt der damaligen Entscheidung erhebliche strukturelle Mängel auf, weshalb Asylbewerber sehr geringe Chancen hätten, dass ihr Antrag und ihre Beschwerde von den griechischen Behörden ernsthaft geprüft würden. Mangels eines wirksamen Rechtsbehelfs seien sie nicht gegen eine willkürliche Abschiebung in ihr Herkunftsland geschützt. Im Einzelnen: Es bestehe kein verlässliches Kommunikationssystem zwischen den griechischen Behörden und den Asylsuchenden. Zuständig für die Durchführung der Anhörungen und der Entscheidung über die Asylanträge seien Polizeibeamte. Diese Entscheider verfügten nur über eine unzureichende Ausbildung. Weiterhin bestehe ein Mangel an Dolmetschern. Fast alle erstinstanzlichen Entscheidungen über Asylbegehren seien negativ und in einer stereotypen Art und Weise verfasst, die keinerlei Details über die Gründe für die getroffenen Entscheidungen enthielten. Im Jahr 2008 sei in lediglich 0,04 % der getroffenen Entscheidungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden (11 Personen) und in 0,06% der getroffenen Entscheidungen ein Schutzstatus aus humanitären Gründen bzw. ein subsidiärer Schutzstatus (18 Personen). Die Überwachung der Entscheidungen durch das refugee advisory committee sei abgeschafft worden, und auch der UNHCR spiele im Asylverfahren keine Rolle mehr. Das Rechtsbehelfssystem sei in der Praxis ineffektiv. Es sei sehr ungewiss, ob die Asylbewerber schnell genug Kenntnis von der Entscheidung erhalten würden, um rechtzeitig Rechtsbehelfe einlegen zu können. Im Übrigen fehlten den Asylbewerbern die erforderlichen Mittel, um einen Anwalt zu bezahlen. Die Informationen über eine rechtliche Beratung seien unzureichend, und es bestehe ein Mangel an Anwälten auf der Liste des „legal aid systems“. Diese Situation verletze die Asylantragsteller in ihren Rechten aus Art. 13 EMRK und Art. 3 EMRK (vgl. zum Vorstehenden: EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 - M.S.S. v. Belgium and Greece Rn. 125, 187, 300-321). Im Hinblick auf die Mängel im griechischen Asylsystem hat die Bundesrepublik Deutschland seit dem 19. Januar 2011, zunächst befristet für ein Jahr, keine Überstellungen mehr nach Griechenland nach der Dublin-Verordnung vorgenommen (vgl. Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums vom 19. Januar 2011: Deutschland übt Selbsteintrittsrecht aus).

Nach diesen Erkenntnissen kann auch für den Asylantrag des Klägers aus dem Jahr 2009 nicht davon ausgegangen werden, dass eine hinreichende inhaltliche Prüfung seiner Asylgründe stattgefunden hat. Eine andere Beurteilung rechtfertigt sich auch nicht aus der Tatsache, dass über den Asylantrag des Klägers erst im Jahr 2014 entschieden worden ist. Zwar ist in Griechenland im Jahr 2011 ein neues Gesetz zur Reformierung des Asylsystems verabschiedet worden, das unter anderem zur Einrichtung einer neuen Asylbehörde geführt hat. Aufgrund von Verzögerungen bei der Einrichtung der neuen Asylbehörde wurden jedoch vor dem 7. Juni 2013 gestellte Asylanträge noch nach dem alten Verfahrensrecht und nur nach dem 7. Juni 2013 gestellte Asylanträge nach dem neuen Verfahrensrecht behandelt (National Country Report Greece der Asylum Information Database vom 1. Dezember 2013, S. 11-12). Damit fiel auch der 2009 gestellte Asylantrag des Klägers noch unter das alte Verfahrensrecht. Dabei zeigt die Asylstatistik Griechenlands für das Jahr 2014, dass die Anerkennungsquote bei Anträgen, die noch nach dem alten Verfahrensregime behandelt wurden, deutlich niedriger war als bei Anträgen nach dem neuen Verfahrensregime (vgl. National Country Report Greece der Asylum Information Database vom 27. April 2015, S. 6).

Ausweislich der aida-Berichte in den Jahren 2013 bis 2015 war eine sorgfältige Sachprüfung der „Alt-Asylanträge“ in Griechenland nach dem alten Verfahrensregime nicht gewährleistet. Für die Prüfung der Asylanträge sei die Polizei zuständig gewesen. Die Polizisten hätten oft nicht über das notwendige Wissen über die Herkunftsländer verfügt und hätten dementsprechend ihrer Aufgabe, die Asylanträge zu prüfen, nicht gerecht werden können. Voreingenommenheit der Polizisten und Willkür seien verbreitet gewesen. In der Praxis seien für die persönlichen Anhörungen oft keine Dolmetscher verfügbar gewesen, so dass Anhörungen mehrmals verschoben worden seien. Es sei von unzureichender Qualität der Übersetzungen berichtet worden. Zudem sei von Fällen berichtet worden, in denen die Übersetzer von den Asylbewerbern Geld für ihre Tätigkeit verlangt hätten. Den Asylbewerbern seien keine detaillierten Gründe für die Ablehnung ihrer Asylanträge mitgeteilt worden. Ein rechtliches Vorgehen gegen die ablehnende Entscheidung sei den Antragstellern dadurch erschwert worden, dass sie über die ihnen zustehenden Rechte nicht in einer ihnen verständlichen Sprache informiert worden seien. Der Mangel an Dolmetschern habe zur Folge gehabt, dass viele Rechtsbehelfe mangels Sprachkenntnissen nicht erhoben werden konnten (vgl. National Country Reports Greece der Asylum Information Database vom 1. Juni 2013, S. 15-23, vom 1. Dezember 2013, S. 18-28, vom 31. Juli 2014, S. 25-37 und vom 27. April 2015, S. 30-43). Auch das U.S. Department of State führt aus, dass Nichtregierungsorganisationen im Hinblick auf das griechische Asylsystem im Jahr 2014 von Problemen hinsichtlich des Rechtsbehelfssystems und von unzureichender Übersetzung, unzureichender rechtlicher Beratung und von Diskriminierung berichtet hätten (Human Rights Report 2014 des U.S. Department of State vom 25. Juni 2015, S. 14). Damit korrespondiert auch, dass die Aussetzung von Überstellungen nach Griechenland durch die Bundesrepublik Deutschland auch in den Folgejahren (2012-2016) jeweils verlängert worden war und - trotz der vorstehend beschriebenen Gesetzesänderung - erst seit dem 8. Dezember 2016 die Europäische Kommission zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Überstellungen nach Griechenland unter engen Voraussetzungen wieder aufgenommen werden können (vgl. Schreiben des Bundesinnenministeriums an Mitglieder des Deutschen Bundestages vom 30. Dezember 2016; Antwort der Bundesregierung vom 3. September 2014 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE; BT-Drs. 18/2471, S. 20). Da offenbar auf Seiten der Europäischen Kommission und daran anknüpfend auch auf Seiten der Bundesregierung bis zum Dezember 2016 weiterhin erhebliche Zweifel an der Systemmäßigkeit des griechischen Asylverfahrens bestanden haben, ist aus Sicht des Gerichtes ein weiteres erhebliches Indiz dafür gegeben, dass in den Jahren 2011-2016 und damit auch in dem streitgegenständlichen Jahr 2014 keine ordnungsgemäße Prüfung der Asylgründe des Klägers in Griechenland stattgefunden hat. Dass der Kläger am 6. Dezember 2014 ein Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung eingelegt hat, rechtfertigt ebenfalls keine andere Beurteilung, weil auch hinsichtlich des Rechtsmittelverfahrens nicht ersichtlich ist, dass der Asylantrag des Klägers – bis zum Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland – inhaltlich sorgfältig geprüft worden ist.

Damit muss davon ausgegangen werden, dass in dem Asylverfahren des Klägers in Griechenland die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht sichergestellt gewesen ist, weil sein Schutzbegehren zu keiner Zeit ernsthaft geprüft worden ist. Somit liegt ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat i.S.d. § 71a Abs. 1 AsylG nicht vor.

Liegen damit die Voraussetzungen der §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG für die Behandlung des Asylantrags des Klägers als Zweitantrag nicht vor und war die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1. damit rechtswidrig, werden die unter Ziffer 2. bis 4. des Bescheides getroffenen Entscheidungen des Bundesamtes als Folgeentscheidungen zu der unter Ziffer 1. getroffenen Regelung von deren Rechtswidrigkeit mit erfasst.

Der Kläger ist durch den rechtswidrigen Bescheid auch in seinen Rechten verletzt. Sein aus dem Unionsrecht folgender Anspruch auf inhaltliche Prüfung seines Schutzbegehrens durch einen Mitgliedstaat der EU wird verletzt, wenn das Bundesamt es rechtswidrig ablehnt, ein Asylverfahren durchzuführen (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris Rn. 43).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.