Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 17.06.2015, Az.: S 2 VE 17/11

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
17.06.2015
Aktenzeichen
S 2 VE 17/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 44903
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 28.02.2011 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 sowie der Bescheid des Beklagten vom 02.03.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 werden abgeändert und der Beklagte wird verpflichtet dem Kläger Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 50 ab dem 01.06.2006 zu gewähren und die bei dem Kläger vorliegende Trigeminusneuralgie als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger macht einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) auf der Basis einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH bzw. einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 geltend basierend auf der Anerkennung einer weiteren Gesundheitsstörung in Form einer Trigeminusneuralgie als Folge einer Wehrdienstbeschädigung (WDB).

Der 1984 geborene Kläger leistete in der Zeit vom 01.07.2004 bis zum 31.05.2006 als Wehrpflichtiger seinen Wehrdienst ab und gehörte der C. Logistikbataillon D. in E. an. Am 12.01.2006 wurde der Kläger im Bundeswehrkrankenhaus F. wegen der Entfernung von Kieferhöhlenzysten beidseits sowie des Richtens der Nasenscheidewand operiert.

Aufgrund der daraufhin noch während des Wehrdienstes erlittenen Gesundheitsschäden stellte der Kläger am 04.05.2006 Antrag auf Versorgung nach §§ 80, 81 SVG beim damals zuständigen Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie (im Folgenden: Nds. Landesamt). Als erlittene Schäden gab er folgende an:

Septum-derivation, Muschelhyperplasie, Concha bullosa, Kieferhöhlenzysten, Septumplastik, Infundibulotomie, submuköse Conchotomie, postoperative Nachblutung, Septumperforation und Nekrosen, Nasenstegplastik und Defektdeckung, Narben, Nasenfehlstellung, Verlust des Geruchssinns, Einstellung psychischer und beruflicher Probleme.

Zum schädigenden Ereignis trug er vor, dass er am 12.01.2006 durch den Oberstabsarzt Dr. G. im Bundeswehrkrankenhaus F. wegen der Entfernung von Kieferhöhlenzysten beidseits sowie des Richtens der Nasenscheidewand operiert worden sei. Durch diese Operation sei es zu postoperativen Nachblutungen gekommen, wodurch Rüsch-Katheter eingelegt worden seien. Durch diese Eingriffe habe der Kläger recht große Löcher in der Nasenscheidewand bekommen, der Nasensteg sei abgestorben und durch einen Hautlappen aus der Wange ersetzt worden, was wiederum sichtbare Narben hinterlassen hätte und für die schiefe Nase verantwortlich sei. Der Kläger habe seither Schmerzen und Atemprobleme sowie keinen Geruchssinn mehr.

Das Nds. Landesamt ließ daraufhin den Kläger durch den Facharzt für HNO-Heilkunde H. begutachten. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens vom 06.09.2006 wird auf Bl. 28 ff. d. VerwA verwiesen.

Nach Stellungnahme des ärztlichen Dienstes des Nds. Landesamtes stellte dieser mit Erstanerkennungsbescheid vom 22.09.2006 ab dem 01.06.2006 die - damals noch - MdE des Klägers mit 40 vH fest. Als Schädigungsfolgen wurden anerkannt:

Postoperative Septumperforation. Operativer Verlust des Nasenstegs und plastische Rekonstruktion mittels regionalem Insellappen. Verziehung des Nasenstegs nach rechts und Behinderung der Nasenatmung. Auffällig hyperplastische Narben in der seitlichen nasalen Wange rechts und im Oberlippenbereich. Beeinträchtigung des Riechvermögens.

Die Wehrbereichsverwaltung I. stellte für den Zeitraum ihrer Zuständigkeit in Anlehnung an den Erstanerkennungsbescheid des Nds. Landesamtes ebenfalls eine MdE von 40 vH fest. Ein Widerspruch hiergegen ist nicht bekannt.

Mit am 08.06.2007 eingegangenem Antrag macht der Kläger eine Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen gegenüber dem Nds. Landesamt geltend. Gestützt wurde dieser auf eine Verschlimmerung der postoperativen Septumperforation, der plastischen Rekonstruktion des Nasenstegs mittels regionalem Insellappen, der Behinderung der Nasenatmung sowie der hyperplastischen Narben in der seitlich nasalen Wange rechts und im Oberlippenbereich. Bemerkbar mache sich die Verschlimmerung durch dauerhafte Schmerzen im Nasen- und Wangenbereich, eine trockene Nase mit gelegentlichem Nasenbluten, durch Behinderung der Nasenatmung und trockener Nase, auftretende Schlafstörung sowie unregelmäßige Atmung im Schlaf sowie Konditionsmangel im Alltag. Ferner bestünden alltägliche Einschränkungen durch die tägliche Notwendigkeit des mehrmaligen Eincremens der Nase zum Feuchthalten und die Benachteiligung durch die auffälligen Narben in der Gesellschaft (zB Ausbildungsplatzsuche).

Mit Bescheid vom 19.09.2007 berichtigte das Nds. Landesamt den Erstanerkennungsbescheid vom 22.06.2006 dahingehend, dass faktisch bereits ab dem 01.01.2006 statt erst ab dem 01.06.2006 ausbezahlte Beträge iHv insgesamt 805,00 € wegen offenbarer Unrichtigkeit zurückgefordert würden.

Nach Einholung von Befundberichten und einer weiteren Begutachtung durch J. (Gutachten vom 05.04.2008, Bl. 114 ff. d. VerwA) sowie erneuter Stellungnahme des ärztlichen Dienstes teilte das Nds. Landesamt dem Kläger mit Schreiben vom 21.04.2008 mit, dass aus medizinischen Gründen eine Änderung der Bezeichnung der Schädigungsfolgen erforderlich sei und bezeichnete diese nunmehr wie folgt:

Operativ bedingte Nasenseptumperforation, Verziehung des rekonstruierten Nasenstegs rechts. Hyperplastische, auffällige Narben nach mehrfachen Korrekturen im Nasenphiltrumbereich in die Oberlippen ausstrahlend. Glaubhafte Schmerzhaftigkeit in diesem Bereich bei äußerer Kälte. Psychische Belastung.

Das Nds. Landesamt teilte ferner mit, dass die MdE wie bisher mit 40 vH zu bewerten sei.

Mit Bescheid vom 13.10.2009 lehnte das Nds. Landesamt den Antrag vom 12.10.2007 auf Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit ab, mit Bescheid vom 14.10.2009 sodann auch den Verschlimmerungsantrag vom 08.06.2007.

Mit Antrag vom 10.02.2010 begehrte der Kläger die zusätzliche Anerkennung einer Gesichtsneuralgie als Schädigungsfolge und zwar durchgehend seit Beschädigung.

Nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme wies das Nds. Landesamt den Antrag mit Bescheid vom 02.03.2010 zurück.

Hiergegen legte der Kläger unter dem 16.03.2010 Widerspruch ein. In der Begründung vom 17.05.2010 beantragte der Kläger neben der Aufhebung des Bescheides vom 02.03.2010 auch die Rücknahme des Erstanerkennungsbescheides vom 22.09.2006, des Berichtigungsbescheides vom 29.09.2007 sowie des Bescheides vom 14.10.2009 verbunden mit dem Antrag, ab dem 01.06.2006 Beschädigtenversorgung nach einer MdE von 50 vH bzw. einem GdS von 50 zu gewähren. Es sei bereits mit Schreiben vom 10.02.2010 ein Antrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestellt worden und nicht ein solcher auf Neufeststellung. Die Bescheide seien allesamt rechtswidrig, da eine unvollständige Bewertung der Schädigungsfolgen vorgenommen worden sei, welche nicht der tatsächlichen Schwere entsprechend getroffen worden sei. Es sei in keiner der Aktenverfügungen die Feststellung getroffen worden, dass der Kläger an einer Trigeminusneuralgie leide. Lediglich sei eine Schmerzhaftigkeit im Nasen- und Lippenbereich bei äußerer Kälte vermerkt worden. Tatsächlich leide der Kläger aber unter erheblichen Schmerzen im Bereich des Gesichts, des Kopfes und des Halses. Diese Schmerzen seien Symptome einer erheblichen Trigeminusneuralgie. Diese Beschwerden seien erheblich. Zwei- bis dreimal im Monat leide der Kläger unter heftigen Schmerzattacken. Von häufigen Schmerzattacken sei bereits dann zu sprechen, wenn sich diese mehrmals im Monat ereigneten. Die Schmerzen würden nicht nur häufig auftreten, sondern auch stets so stark, dass der Kläger dagegen eine Kombination mehrerer Medikamente einnehmen müsse. Der Kläger habe bereits mehrere Therapien durchlaufen, welche sich als wirkungslos oder zu schwach erwiesen hätten. Bereits seit November 2009 leide der Kläger unter anhaltenden Taubheitsgefühlen der unteren Anteile rechtsseitig im Trigeminus-Ast. Unter anderem an dem hohen Dauerbedarf an Schmerzmedikation lasse sich die Schwere der chronifizierten Trigeminusneuralgie ablesen. Unter Berücksichtigung dieses Leidens läge die MdE bei 50 vH bzw. der GdS bei 50. In den ersten Jahren habe der Kläger sogar täglich unter Schmerzen gelitten. Für eine Höherbewertung sprächen zudem auch andere Umstände. Der Kläger leide unter den ästhetischen Folgen der Operation. Es sei eine Entstellung festgestellt worden. Die Nasenspitze sei infolge des Eingriffs am 12.01.2006 erheblich deformiert. Die Entstellung habe ferner dazu geführt, dass der Kläger seinen Berufswunsch im kaufmännischen Bereich mit Kundenkontakt nicht habe verfolgen können. Trotz erfolgreicher Eingangstests habe man ihn abgelehnt, da er wegen seines Äußeren eine abschreckende Wirkung hätte. Bereits unmittelbar nach der zweiten Operation sei der Kläger diesbezüglich einer psychischen Belastung ausgesetzt gewesen. Vor allem im Falle von Entstellungen des Gesichts sei zu berücksichtigen, dass sich aus diesem unter anderem seelische Konflikte ergeben könnten. Die seelischen Begleiterscheinungen seien stets bei der Beurteilung der MdE zu berücksichtigen. Aufgrund der Trigeminusneuralgie, der psychischen Belastung, der Gesichtsentstellung und der übrigen Schädigungsfolgen betrage die MdE des Klägers seit seiner stationären Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus F. mindestens 50 vH bzw. der GdS mindestens 50. Eine solche Feststellung hätte von Anfang an getroffen werden müssen. Die Feststellungen der befassten Ärzte seien diesbezüglich falsch, auch sei keine Aufschlüsselung in Teilwerte erfolgt, was erforderlich gewesen wäre. Dem Kläger hätte im Ergebnis somit auch eine höhere Beschädigtenversorgung zugestanden.

Das Nds. Landesamt holte daraufhin weitere Befundberichte ein sowie ein weiteres HNO-heilkundliches Gutachten bei K. (24.09.2010, Bl. 186 ff. d. VerwA). Danach seien die Nasenbeatmungsbehinderung, die Septumperforation und die Riechminderung mit einem Einzel-GdS von 20, die narbige Gesichtsveränderung mit psychischen und Schmerzfolgen mit einem Einzel-GdS von 30 zu bewerten, weshalb es bei einem Gesamt-GdS von 40 bleibe.

Mit Bescheid vom 28.02.2011 lehnte das Nds. Landesamt den Rücknahmeantrag ab.

Der hiergegen unter dem 04.04.2011 eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 06.07.2011 zurückgewiesen. Am selben Tag erging auch der ablehnende Widerspruchsbescheid bezogen auf den Widerspruch vom 16.03.2010 gegen den Bescheid vom 02.03.2010.

Hiergegen erhob der Kläger jeweils am 10.08.2011 Klage beim zuständigen Sozialgericht Osnabrück (Az.: S 2 VE 17/11 und S 2 VE 18/11). Zur Begründung hieß es, dass Schwere und Umfang der Schädigungsfolgen nicht umfassend berücksichtigt worden seien, insbesondere sei die vorliegende Trigeminusneuralgie, die zu erheblichen Beeinträchtigungen führe, nicht hinreichend berücksichtigt worden. Das Gutachten, auf welches sich der Beklagte stütze, berücksichtige diese gar nicht oder nur unzureichend, wenn etwa von Schmerzhaftigkeit im Nasen- und Lippenbereich bei äußerer Kälte gesprochen werde. Der Kläger leide infolge der Trigeminusneuralgie ca. zwei- bis dreimal im Monat unter heftigen Schmerzattacken, die die massive Einnahme starker Schmerzmittel erforderlich machten. Hinzu kämen die ästhetischen Folgen aufgrund einer nicht unerheblichen Entstellung des Klägers.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes Befundberichte eingeholt bei L. bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie M. sowie der Fachärztin für HNO-Heilkunde N.

Am 12.06.2013 fand bereits ein Termin zur mündlichen Verhandlung statt, welcher vertagt wurde. In dem Termin erklärte der Kläger, dass er durch die einzunehmenden Medikamente quasi neben der Spur stehe. Zu dem Gutachten von O. müsse er sagen, dass er in guten Monaten zwei- bis dreimal Schmerzen habe. Generell würde er sagen, dass dies eher zwei- bis dreimal pro Woche der Fall sei. Es komme sogar vor, dass er täglich Infusionen bekommen müsse. Er nehme aktuell Lyrica, Tilidin, Mirtazapin. Dies sei ein Antidepressivum, was schläfrig mache. Er leide nämlich auch unter Schlafstörungen, könne höchstens vier Stunden am Stück schlafen. Er hätte zuletzt ein anderes Medikament erhalten - Pipamperon -, welches nachts dazu geführt hätte, dass er sich verletzt hätte, da er so schläfrig gewesen sei, dass er rückwärts auf die Tischkante gefallen sei. Aktuell sei er dabei, das Abitur nachzuholen. Die Lehrer hätten ihm zwischenzeitlich aber mehr oder weniger davon abgeraten, da er durch die Schmerzen so stark beeinträchtigt sei, sodass er sich kaum konzentrieren könne, seine Aufmerksamkeitsschwelle sei sehr gering. Der Geruchs- und Geschmacksinn sei ferner stark beeinträchtigt. Er könne kaum eine Kirsche von einer Erdbeere unterscheiden. Die bei der Begutachtung verwendeten Stäbchen seien so geruchsintensiv gewesen, dass er davon schon etwas wahrgenommen hätte. Aber auch da habe er nicht alle Gerüche wahrnehmen können.

Mit Verbindungsbeschluss vom 12.07.2013 wurden das Verfahren S 2 VE 18/11 mit dem Verfahren S 2 VE 17/11 verbunden und dieses wurde zum führenden Verfahren bestimmt.

Das Gericht hat daraufhin Beweis erhoben durch Einholung eines fachneurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens bei P. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens vom 16.03.2014 sowie der ergänzenden Stellungnahme vom 20.01.2015 wird auf Bl. 59 ff. d. GA verwiesen.

Am 17.06.2015 fand sodann erneut ein Termin zur mündlichen Verhandlung statt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 28.02.2011 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 sowie den Bescheid des Beklagten vom 02.03.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Beschädigtenversorgung nach einem GdS von 50 zu gewähren und die bei dem Kläger vorliegende Gesichtsneuralgie als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält an seiner bisherigen Auffassung fest.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift vom 17.06.2015 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Die Akten lagen vor und waren Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach §§ 80, 81 SVG iVm §§ 30, 31 Bundesversorgungsgesetz (BVG) auf der Grundlage eines GdS von 50 (einer MdE von 50 vH) seit dem 01.06.2006. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

1.
a.
Gegenstand des Rechtsstreits ist zum einen die Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 44 SGB X. Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Trigeminusneuralgie als Folge einer WDB und entsprechende Versorgung aufgrund einer MdE von 50 vH/eines GdS von 50 bereits ab dem 01.06.2006, was ihm im früheren Verwaltungsverfahren durch Bescheid vom 22.09.2006 sowie des angegriffenen Folgebescheides vom 14.10.2009 rechtsverbindlich versagt worden war. Eine nachträgliche Änderung der damaligen Entscheidung zugunsten des Klägers - und damit auch eine Anerkennung der vorgetragenen Trigeminusneuralgie als wehrdienstbedingt - ist nur unter den Voraussetzungen des § 44 SGB X möglich. Eine für den Kläger günstige Entscheidung bereits ab dem 01.06.2006 wäre in einem Neufeststellungsverfahren nicht möglich gewesen.

Nach § 44 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit unter anderem zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Bei unrichtiger Rechtsanwendung ist der Leistungsträger in den im § 44 Abs. 1 SGB X aufgeführten Fällen zur Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes verpflichtet, ohne dass ihm ein von den Gerichten nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum bleibt (BSG SozR 1300 § 44 Nr. 4).

b.
Gegenstand des Rechtsstreits ist ferner ein Verschlimmerungsbegehren des Klägers ab dem 10.02.2010. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse im gesundheitlichen Bereich liegt insbesondere dann vor, wenn sich eine bereits anerkannte Schädigungsfolge verschlimmert hat oder eine weitere Gesundheitsstörung aufgetreten ist, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf ein schädigendes Ereignis oder die bereits anerkannten Schädigungsfolgen zurückzuführen ist. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand zum Zeitpunkt der Neufeststellung. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und über die begehrten Sozialleistungen neu zu entscheiden (§ 44 Abs. 1, 4 SGB X).

2.
Im zu entscheidenden Rechtsstreit sind die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 22.09.2006 – mittels Anfechtung des Bescheides vom 28.02.2011 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 – gegeben. Ferner liegen die Voraussetzungen für die Feststellung einer wesentlichen Änderung – durch Anfechtung des Bescheides vom 02.03.2010 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 06.07.2011 – vor. Die Kammer ist davon überzeugt, dass bei Erlass dieser Bescheide, mit dem das Vorliegen weiterer Folgen einer WDB verneint worden sind, das Recht unrichtig angewandt und von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist.

3.
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 SVG iVm § 30 BVG erhält ein Soldat, der eine WDB erlitten hat, nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der WDB auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften BVG, soweit im SVG nichts Abweichendes bestimmt ist. Nach § 88 Abs. 1 SVG sind hierfür zwischenzeitlich die Behörden der Bundeswehrverwaltung zuständig. Nach § 81 Abs. 1 SVG ist eine WDB eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der GdS (bis zum Inkrafttreten des BVGÄndG vom 13.12.2007 [BGBl. I S. 2904] am 21.12.2007 MdE) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen, seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1 der Vorschrift). Nachdem für die Beurteilung der MdE und des GdS dieselben Grundsätze gelten, wird im Folgenden allein auf die Beurteilung des GdS Bezug genommen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (Satz 2 der Vorschrift). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung.

Die Kammer orientiert sich bei der Beurteilung von MdE und GdS für die Zeit bis zum 31.12.2008 an den im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten (BSG, Urteil vom 23.06.1993, Az.: 9/9a RVs 1/91; BSG, Urteil vom 09.04.1997, Az.: 9 RVs 4/95; BSG, Urteil vom 18.09.2003, Az.: B 9 SB 3/02 R; BSG, Urteil vom 29.08.1990, Az.: 9a/9 RVs 7/89) „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ (AHP) in der jeweils geltenden Fassung, die gemäß § 30 Abs. 16 BVG (bis 30.06.2011 § 30 Abs. 17 BVG) für die Zeit ab dem 01.01.2009 durch die in der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG - Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) - vom 10.12.2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) abgelöst worden sind. Hinsichtlich der vorliegend einschlägigen Funktionsbeeinträchtigungen enthalten die VMG gegenüber den AHP keine inhaltlichen Änderungen, sodass im Folgenden lediglich die Ziffern der VMG angegeben werden.

Wie in allen Zweigen des sozialen Entschädigungsrechts müssen auch im Recht der Soldatenversorgung die anspruchsbegründenden Tatsachen nachgewiesen, dh ohne vernünftige Zweifel oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein (st. Rspr. BSG, so zum Opferentschädigungsgesetz - OEG -: BSG SozR 1500 § 128 Nr. 34 mwN; SozR 1500 § 128 Nr. 35; zur Kriegsopferversorgung BSG SozR 3-3100 § 1 Nr. 18; zum SVG: BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 16; SozR 3-3200 § 81 Nr. 6; zum Impfschadensrecht: BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9 und § 52 Nr. 1), soweit nichts anderes bestimmt ist. Für Ansprüche nach §§ 80, 81 SVG bedeutet dies, dass sich - mit dem jeweils maßgeblichen Beweisgrad - zumindest drei Tatsachenkomplexe oder Glieder der Kausal-(Ursachen)kette sowie zwei dazwischenliegende Kausalzusammenhänge feststellen lassen müssen (vgl. Wilke/Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl. 1992, § 1 BVG Rn. 56 und 61; Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Stand: Februar 2013, § 1 BVG Anm. 8 ff., § 1 -52 ff.). Der erste Komplex ist die geschützte Tätigkeit, hier also die Wehrdienstverrichtung oder die Ausübung einer gleichgestellten Tätigkeit. Infolge dieser Verrichtung muss ein schädigendes Ereignis eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen haben. Aufgrund dieser Schädigung muss es dann zu der in MdE/GdS-Graden zu bewertenden Schädigungsfolge gekommen sein. Das „schädigende Ereignis“ wird üblicherweise als weiteres selbständiges Glied der Kausalkette zwischen geschützter Tätigkeit und Primärschaden angesehen (BSG SozR 3-3200 § 81 Nr. 16 mwN). Auch dieses bedarf grundsätzlich des Vollbeweises. Dagegen genügt für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs, jedenfalls desjenigen zwischen Schädigung und Schädigungsfolge (sog „haftungsausfüllende Kausalität“) der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit (§ 81 Abs. 6 Satz 1 SVG).

Hier ist streitig letztlich nur das Vorliegen einer weiteren Schädigungsfolge in Form einer Trigeminusneuralgie sowie die daraufhin zu erfolgende Einstufung des Gesamt-GdS.

Laut des Sachverständigengutachtens des Q. liege bei dem Kläger ein chronisches Schmerzsyndrom mit Dauerschmerz vor, wechselnd, aber subjektiv erheblich beeinträchtigend ausgeprägt, mit Gefühlsveränderungen in ausgedehnten Bereichen des Gesichts und teils des Kopfes. Eine anhaltende Schmerzstörung gehe immer mit somatischen und psychischen Faktoren einher. Die Symptomatik bei dem Kläger entspreche jedenfalls den Kriterien einer Trigeminusneuralgie. Es komme zu anfallsartigen Attacken. Es seien keine länger anhaltenden Schmerzen berichtet worden. Der Schmerzcharakter sei teils dumpf drückend, teils intensiver trotz Medikation, Auflösung zum Beispiel durch Kälte. Hinsichtlich der Einschätzung des Schweregrades äußert sich der Sachverständige dahingehend, dass Symptome einer schweren Trigeminusneuralgie mit massiver Reaktion auf jegliche Berührung, jeden Lufthauch, auf den Druck der Kleidung, mit Schmerzattacken beim Kauen, die zur Nahrungsverweigerung und zum Abmagern führen und die teils auch mit Suizidalität hier nicht bestehen würden, weshalb der Schweregrad als mittelgradig einzustufen sei. Die Schweregradeinstufung könne sich nicht allein nach der mitgeteilten Frequenz der Schmerzattacken richten, auch wenn dies nach den VMG erst einmal zur Orientierung so vorgegeben sei, sondern es müsse die gesamte Intensität und Qualität der Symptomatik und Therapie berücksichtigt werden. Hinsichtlich des diskutierten Schweregrades der Schmerzen verweise er zudem auch die Aktenlage, wo dieser kaum zum Ausdruck komme.

Hinsichtlich der Kausalität gehe der Sachverständige von einer symptomatischen Form der Trigeminusneuralgie aus. Hauptsächlich betroffen sei der Ramus maxillaris (Wange) und mandibularis (Kiefer), was in guter Übereinstimmung mit den mehrfach operierten Bereichen der Kieferhöhle stünde. Die Schmerzerkrankung sei somatisch und nicht primär als psychogen einzustufen. Psychische Auffälligkeiten im Sinne einer unabhängigen, konkurrierenden Ursache hätten nicht nachgewiesen werden können. Primär krankheitswertige Auffälligkeiten der Persönlichkeit hätten sich aus der umfangreichen testpsychologischen Untersuchung nicht ergeben. Eine primär psychogene Somatisierung läge nicht vor, für Aggravation und Simulation bestünden keinerlei Anhaltspunkte. Nach Abwägung aller Aspekte spreche mehr für als gegen den kausalen Zusammenhang. Die Aktenlage, die psychische und somatische Vorgeschichte, Art und Zahl der Eingriffe, Verlauf, Qualität der Symptomatik, psychischer Status und die Ergebnisse der umfangreichen testpsychologischen Untersuchungen einschließlich der Beschwerdevalidierung sowie die Notwendigkeit einer speziellen Schmerztherapie mit positiver Laborkontrolle der Med. spiegel sprächen dafür. Der Sachverständige gehe von einem authentischen Schmerzsyndrom aus, das als symptomatische Trigeminusneuralgie einzustufen sei und deren Ursache die erfolgten multiplen HNO-Operationen seien. Die Kausalität sei seiner Einschätzung nach so zwingend zu belegen, dass dahinter mögliche Zweifel zurücktreten müssten.

Im Ergebnis ist der Sachverständige der Auffassung, dass hinsichtlich der Einstufung eines GdS die Bewertung der Trigeminusneuralgie mit einem Teilwert von 30 angemessen sei. Dabei sei die angegebene und nur teils dokumentierte Häufigkeit berücksichtigt, die mittlere Behandlungsintensität, aber auch das Fehlen der Charakteristika einer schweren Neuralgie mit oft gehäuften stationären Behandlungsversuchen, umfangreicher Diagnostik oder gar Erwägen weiterer nichtmedikamentöser Behandlungsmaßnahmen und möglicher nicht invasiver Eingriffe. Dies sei hier nicht vorliegend. Zusammen mit der Nasenatmungsbehinderung und der Narbenbildung sowie der Riecheinschränkung werde ein Gesamt-GdS von 40 seit dem 01.06.2006 vorgeschlagen. Der Gesichtsschmerz sei zwar verschiedentlich bezeichnet worden, aber seit damals beklagt worden und vorhanden gewesen. Die Diagnose einer Trigeminusneuralgie präzisiere letztlich nur den Befund, welcher aber von Beginn an vorlag.

Die Kammer schließt sich den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen an, nicht jedoch im Hinblick auf die Einstufung des GdS, was letztlich auch keine medizinische, sondern eine Rechtsfrage ist.

Nach Teil B Nr. 2.2 der VMG sind Gesichtsneuralgien (z. B. Trigeminusneuralgie) leichten Grades (seltene, leichte Schmerzen) mit einem GdS von 0-10 einzustufen, mittelgradigen Grades (häufigere, leichte bis mittelgradige Schmerzen, schon durch geringe Reize auslösbar) mit einem GdS von 20-40, schweren Grades (häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen bzw. Schmerzattacken) mit einem GdS von 50-60 und besonders schweren Grades (starker Dauerschmerz oder Schmerzattacken mehrmals wöchentlich) mit einem GdS von 70-80. nach den Beschreibungen und Feststellungen des Q.. handelt es sich letztlich unzweideutig um eine Gesichtsneuralgie schweren Grades. Offenbar verwechselt der Sachverständige die abgelehnte Stufe eines schweren Grades mit dem besonders schweren Grad einer Gesichtsneuralgie, welcher einen starken Dauerschmerz sowie mehrmals wöchentliche Schmerzattacken erfordert. Seine Feststellungen begründen hingegen den schweren Grad, da jedenfalls häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen bzw. Schmerzattacken unzweifelhaft beim Kläger vorliegen. Der Anknüpfungspunkt der Quantität erfordert daher die Einstufung als schwere Form der Gesichtsneuralgie. Der Kläger berichtet im neuerlichen Termin zur mündlichen Verhandlung zudem, dass er zwischenzeitlich sogar auf Opiate umgestellt worden sei, sodass auch die Intensität der Schmerzen beachtlich ist. Die von Q.. festgestellte Intensität und Häufigkeit der Schmerzen widerspricht der hier vertretenen Auffassung gerade nicht. Von einem GdS-Spielraum von 50 bis 60 wäre daher aus Sicht der Kammer bereits auszugehen. Nach Auffassung der Kammer ist ein GdS von 50 angemessen, insbesondere auch unter der Berücksichtigung der psychisch belastenden Komponente durch die Schmerzen.

Die weiteren Schädigungsfolgen sind dem Grunde nach unstreitig.

Für die Gesichtsentstellung ist ein GdS von 20 nach Teil B Nr. 2.1 der VMG angemessen, da nach Inaugenscheinnahme des Klägers persönlich nicht von einer leichten Entstellung, welche zudem mit einer offenkundigen nicht unerheblichen psychischen Belastung einhergeht, welche bei der GdS-Einstufung zu berücksichtigen ist, ausgegangen werden kann.

Die Nasenbeatmungsbehinderung, die Septumperforation und die Riechminderung ist nach Teil B Nr. 6.3 großzügig mit einem Einzel-GdS von 20 zu bewerten.

In der Gesamtschau tritt die letztgenannte Beeinträchtigung jedenfalls deutlich in den Hintergrund. Wegen der Überlagerung der psychischen Aspekte der beiden weiteren Schädigungsfolgen und dem auf die Trigeminusneuralgie verlagerten Fokus erscheint der Kammer die Einstufung des GdS ab dem 01.06.2006 noch als ausreichend, um dem Gesamtbeschwerdebild des Klägers Rechnung zu tragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.