Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 27.02.1997, Az.: X 128/96

Anforderungen an eine Ermessensentscheidung nach § 364b Abgabenordnung (AO); Aufforderung des Finanzamts zur Abgabe einer Steuererklärung; Auswirkungen der Nichtausübung des Ermessens durch die Behörde

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
27.02.1997
Aktenzeichen
X 128/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 17982
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1997:0227.X128.96.0A

Verfahrensgegenstand

Fristsetzung gemäß § 364 b AO

Umsatzsteuer 1993

Der X. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 27. Februar 1997,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtliche Richterin ...
ehrenamtlicher Richter ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Umsatzsteuerbescheid 1993 vom 27. Dezember 1995 und der Einspruchsbescheid vom 15. März 1996 werden aufgehoben.

Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um Umsatzsteuer 1993.

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Da der Kläger trotz Aufforderung des beklagten Finanzamts (FA) keine Steuererklärung für das Streitjahr abgab, schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen und veranlagte den Kläger mit Bescheid vom 27.12.1995 zu einer Umsatzsteuer von 37.074 DM. Aufgrund des dagegen erhobenen aber nicht begründeten Einspruchs vom 16.01.1996 - beim FA eingegangen am 19.01.1996 - setzte das FA dem Kläger mit Verfügung vom 22.01.1996 gemäß § 364 b AO eine Ausschlußfrist bis zum 22.02.1996 zur Angabe von Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich beschwert fühle und zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte sowie zur Bezeichnung von Beweismitteln oder zur Vorlage von Urkunden. Da der Kläger seinen Einspruch innerhalb der ihm gesetzten Ausschlußfrist nicht begründete, wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 15.03.1996 den Einspruch als unbegründet zurück.

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Dagegen richtet sich die Klage.

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Nach Erlaß der Einspruchsentscheidung legte der Kläger seine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr vor. In dieser am 11.04.1996 beim FA eingegangenen Erklärung errechnete der Kläger seine Umsatzsteuer mit 29.039,50 DM,

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Der Kläger ist der Auffassung, das FA habe die Umsatzsteuer zu Unrecht um ca. 8.000 DM höher festgesetzt als erklärt. Zwar habe er seine Erklärung nicht innerhalb der Ausschlußfrist nach § 364 b AO eingereicht. Dennoch müsse das FA die nach Ergehen der Einspruchsentscheidung eingereichte Umsatzsteuererklärung berücksichtigen.

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In der mündlichen Verhandlung vom 27.02.1997 ist für den Kläger trotz ordnungsgemäßer Ladung niemand erschienen.

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Der Kläger beantragt ausweislich der Akten sinngemäß,

die Umsatzsteuer 1993 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 15.03.1996, und Änderung des Umsatzsteuerbescheides 1993 vom 27.12.1995 auf 29.039,50 DM herabzusetzen.

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Das beklagte Finanzamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Das FA ist der Auffassung, die Umsatzsteuererklärung 1993 könne nicht mehr berücksichtigt werden, da sie erst nach Ablauf der Ausschlußfrist eingereicht worden sei und eine Berichtigung nach den Vorschriften der §§ 172 ff. AO ebenfalls nicht mehr möglich sei.

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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst den dazu überreichten Anlagen sowie auf den Inhalt der Steuerakten.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

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Zu Unrecht hat das FA die erst im Verlaufe des Klageverfahrens am 11.04.1996 bei ihm eingegangene Umsatzsteuererklärung 1993 nicht mehr berücksichtigt.

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Zwar hat der Kläger im Streitfall die Umsatzsteuererklärung 1993 nicht fristgerecht abgegeben, so daß das FA gemäß § 162 Abgabenordnung (AO) befugt war, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Von dieser Befugnis hat das FA auch Gebrauch gemacht und den Kläger mit Bescheid vom 27.12.1995 zur Umsatzsteuer veranlagt. Das FA war jedoch nicht berechtigt, aufgrund des dagegen eingelegten Einspruchs des Klägers sofort eine Ausschlußfrist gemäß § 364 b AO zu setzen und den Einspruch nach Ablauf der dem Kläger gesetzten Frist als unbegründet abzuweisen. Nach der überwiegend in der Literatur vertretenen Auffassung, der auch der erkennende Senat folgt, verfolgt der Gesetzgeber mit § 364 b AO zwar den Zweck, dem Mißbrauch des Rechtsbehelfsverfahrens zu rechtsbehelfsfremden Zwecken entgegenzuwirken; insbesondere soll damit verhindert werden, daß Steuerpflichtige im Rahmen des außergerichtlichen oder gar des finanzgerichtlichen Verfahrens Erklärungen und Beweismittel nachschieben (vgl. Tipke-Kruse AO § 364 b Tz. 1 m.w.N., von Wedelstädt, Die Ausschlußfrist nach § 364 b AO - Segen oder Last für die Finanzbehörde? in StuW 1996, 186 ff.). Diese Intention des Gesetzgebers, die nicht zuletzt auch zum Ziel hat, die Gerichte von Klagen freizustellen, die durch nachträgliches Vorbringen, insbesondere durch verspätete Abgabe oder Nichtabgabe von Steuererklärungen verursacht werden (vgl. Tipke/Kruse AO § 364 b Tz. 1 m.w.N.), rechtfertigt es aber nicht, dem Kläger bereits am dritten Tage nach Eingang seines Einspruchs eine nur einmonatige Ausschlußfrist gem. § 364 b AO zu setzen. Denn nach dem Wortlaut dieser Vorschrift "kann" die Finanzbehörde dem Einspruchsführer eine Frist setzen

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  • zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung er sich beschwert fühlt,
  • zur Erklärung über bestimmte klärungsbedürftige Punkte,
  • zur Bezeichnung von Beweismitteln oder zur Vorlage von Urkunden, soweit er dazu verpflichtet ist.

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Aus der Formulierung "kann dem Einspruchsführer eine Frist setzen" wird deutlich, daß es sich dabei um eine Ermessensentscheidung der Behörde handelt. Bei der Ausübung des Entschließungsermessens ist jedoch stets der Zweck des § 364 b zu beachten. Das Finanzamt hat daher im konkreten Einzelfall zunächst festzustellen, ob durch das Verhalten des Einspruchsführers die Gefahr einer Verfahrensverzögerung besteht, der Einspruch also nicht des Rechtsschutzes wegen, sondern zu sachfremden Zwecken - Zeitgewinn - eingelegt worden ist. Außerdem muß es im Rahmen seiner Ermessensausübung das öffentliche Interesse an einer zügigen Verfahrensbearbeitung mit dem Interesse des Einspruchsführers an einer Verfahrensverzögerung abwägen (vgl. Tipke/Kruse AO § 364 b Tz. 8; Wagner, Die Ausschlußfristen nach § 364 b AO - Segen oder Last - StuW 1996, 169 ff.; von Wedelstädt, Die Ausschlußfrist nach § 364 b AO - Segen oder Last für die Finanzbehörde? - a.a.O.; Große, Die Fristsetzung gem. § 364 b AO DB 1996, Seite 60 ff.; Birkenfeld in Hübschmann/-Hepp/Spittaler, § 364 b AO, Rdnr. 33 ff). Darüber hinaus hat das FA auch bei der Bemessung der Länge der Ausschlußfrist Ermessenserwägungen anzustellen, denn nur eine angemessene Frist ist ermessensfehlerfrei (vgl. Wagner, Die Ausschlußfrist nach § 364 b AO - Segen oder Last - a.a.O.).

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Nach den vorgenannten Kriterien hat das FA bei der Setzung der Ausschlußfrist gem. § 364 b AO nicht ermessensfehlerfrei gehandelt. Denn weder den Steuerakten noch dem Vortrag des FA im gerichtlichen Verfahren ist auch nur andeutungsweise zu entnehmen, daß das FA bei der Fristsetzung nach § 364 b AO überhaupt irgendwelche Überlegungen zur Ausübung des Ermessens getroffen hat. Neben dem Fehlen aktenkundiger und nachvollziehbarer Ermessenserwägungen spricht dafür insbesondere der Umstand, daß das FA dem Kläger die Ausschlußfrist gem. § 364 b AO unmittelbar nach Eingang des Einspruchs gesetzt hat. Denn wenn der Klägervertreter in seinem Einspruch vom 16.01.1996 u.a. ausführt "Die Begründungen (des Einspruchs) folgen", so ist es nach Auffassung des Senats nicht ermessensgerecht, dem Kläger sofort eine Ausschlußfrist gem. § 364 b zu setzen, ohne zumindest eine angemessene Frist zur Begründung des Einspruchs abzuwarten bzw. den Einspruchsführer zumindest einmal zur Begründung seines Rechtsbehelfs aufzufordern, überdies entspricht die Fristsetzung nicht dem Muster des Erlasses der Oberfinanzdirektion Hannover (vgl. Anlage zu § 364 b AO Karte 2); auch fehlt es der mit der Fristsetzung verbundenen Aufforderung an der möglichen und erforderlichen Konkretisierung (vgl. BFH-Urteil vom 25.04.1995 IV R 6/94, BStBl II 1995, 545 - zur Konkretisierung bei § 79 b FGO). Denn mit einer auf den bloßen Wortlaut des § 364 b AO gestützten Ausschlußfrist kann das FA den Steuerpflichtigen nicht zur Abgabe seiner Steuererklärung zwingen. Zwar ist ein Steuerpflichtiger gemäß § 90 AO zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet und hat sowohl die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen als auch die ihm bekannten Beweismittel anzugeben; u.a. ist die Pflicht zur Abgabe der Steuererklärung (§ 149 AO) eine Hauptmitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen. Kommt ein Steuerpflichtiger dieser Mitwirkungspflicht, insbesondere der Abgabe der Steuererklärung, jedoch nicht nach, so können die Finanzbehörden die Abgabe der Steuererklärung nur nach § 328 ff. AO erzwingen. § 364 b Abs. 1 AO hingegen deckt die Aufforderung zur Abgabe einer Steuererklärung nach Auffassung des Senats weder unter dem Gesichtspunkt der Nr. 1 noch unter Nr. 3 der vorgenannten Vorschrift. Denn § 364 b Abs. 1 Nr. 1 AO stellt allein auf Tatsachen ab, nicht aber auf Verfahrenshandlungen, wie z.B. die Abgabe einer Steuererklärung. § 364 b Abs. 1 Nr. 3 AO schließlich bezieht sich auf die Bezeichnung von Beweismitteln bzw. auf die Vorlage von Urkunden. In Steuererklärungen werden Tatsachen aber lediglich behauptet, sie haben keine Beweiseignung hinsichtlich der der Besteuerung zugrundliegenden Verhältnisse (vgl. Heißenberg Kösdi 1995, 10486, 10487).

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Nach Abwägung aller Umstände ist daher festzustellen, daß das FA im hier zu entscheidenden Streitfall bei der Fristsetzung gem. § 364 b AO überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat. Die Nichtausübung des Ermessens stellt jedoch einen schweren Ermessensfehler dar mit der Folge, daß die Fristsetzung gem. § 364 b AO rechtswidrig war, so daß auch die darauf gestützte Einspruchsentscheidung zu Unrecht ergangen ist. Der Umsatzsteuerbescheid 1993 und der Einspruchsbescheid des FA vom 15.03.1996 waren daher aufzuheben.

18

Der Senat sieht sich allein aufgrund der vorliegenden Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr auch nicht imstande, diese Erklärung ohne jegliche Unterlagen zu überprüfen und selbst die Steuer festzusetzen. Vielmehr ist eine weitere Überprüfung und Sachaufklärung erforderlich, so daß gem. § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO der Umsatzsteuerbescheid 1993 und die Einspruchsentscheidung aufzuheben waren. § 100 Abs. 3 Satz 2 FGO steht dem nach Auffassung des Senats nicht entgegen. Da das FA im Streitfall unter Verletzung seiner Amtsermittlungspflicht (§ 88 FGO) den Sachverhalt nicht aufgeklärt hat und in Fällen, wie dem hier zur Entscheidung anstehenden, dem Kläger das Vorverfahren verloren ginge, wenn erst- und letztmalig der Senat selbst aufklärte, war die Sache an das FA zurückzugeben.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.