Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.10.2014, Az.: 1 ME 145/14

Verstoß eines Betriebskindergartens mit Stellplätzen für Eltern und Mitarbeiter gegen das Gebot der Rücksichtnahme

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.10.2014
Aktenzeichen
1 ME 145/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 24926
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2014:1027.1ME145.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 27.08.2014 - AZ: 4 B 1037/14

Fundstellen

  • BauR 2015, 242-244
  • DÖV 2015, 119
  • FStBW 2015, 325-327
  • FStHe 2015, 298-300
  • FStNds 2015, 47-49
  • FuBW 2015, 325-327
  • FuHe 2015, 298-300
  • FuNds 2015, 47-49
  • GV/RP 2015, 275-276
  • KomVerw/MV 2015, 181-182
  • KomVerw/S 2015, 181-182
  • KomVerw/T 2015, 179-181
  • NVwZ-RR 2015, 182
  • NordÖR 2015, 25-26

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein Betriebskindergarten mit 40 Betreuungsplätzen, der 15 Stellplätze für Eltern und Mitarbeiter vorhält, verstößt auch dann nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme, wenn er am Ende einer verkehrsberuhigten Sackgasse liegt (Abgrenzung zu Senat, Beschl. v. 20.12.2013 1 ME 214/13 , [...] = NVwZ RR 2014, 296).

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer - vom 27. August 2014 wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Betriebskindergartens mit insgesamt 40 Plätzen, weil sie insbesondere unzumutbare Lärmbelästigungen befürchten.

Die Antragsteller sind Eigentümer des Grundstücks F. weg 3 im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Das Grundstück liegt am Ende einer Sackgasse und wird zu Wohnzwecken genutzt. Östlich grenzt das Baugrundstück F. weg 5 an, auf dem die Beigeladene einen Betriebskindergarten errichtet hat. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des von den Antragstellern mit einem Normenkontrollantrag (1 KN 126/13) angegriffenen Bebauungsplans Nr. 284 "Industriegebiet Aurich NORD" der Antragsgegnerin; der Plan setzt ein Mischgebiet fest und sieht Baugrenzen vor.

Die Errichtung des Kindergartens genehmigte die Antragsgegnerin mit Teilbaugenehmigung vom 10. Januar 2014 (Aushubarbeiten, Einbringen der Fundamente und der Sohlplatte), Baugenehmigung vom 28. Januar 2014 und Nachtragsbaugenehmigung vom 11. April 2014 (Stellplätze). Nach den genehmigten Planunterlagen bietet die Einrichtung insgesamt 40 Betreuungsplätze, davon 15 Krippen- und 25 Kindergartenplätze; acht Erzieher betreuen die Kinder. Die Plätze stehen im Wesentlichen Mitarbeitern der Firma G., daneben auch betriebsfremden Personen zur Verfügung. Das Kindergartengebäude steht - unter Befreiung von der nördlichen Baugrenze um 7,50 m - auf dem nordöstlichen, dem Antragstellergrundstück abgewandten Teil des Baugrundstücks; es ist von Südosten und von Osten zugänglich. Das Gebäude ist weithin eingeschossig; im Nordwesten wird das Dach auf rund 75 qm als Spielfläche genutzt. Der zweite Rettungsweg führt über eine Rutsche auf das nördliche Außengelände. Der Außenspielbereich mit Sandkästen und verschiedenen Spielgeräten liegt südlich zum F. weg orientiert; entlang der Straße werden insgesamt 15 quer zur Fahrbahn ausgerichtete Stellplätze angeboten. Westlich sind auf dem Außengelände ein Ballspielfeld sowie eine größere Wiese vorgesehen. Ferner wird das Gelände im Westen, Norden und Osten vollständig und im Süden teilweise von einem in der Nähe der jeweiligen Grundstücksgrenze verlaufenden gepflasterten Weg umrundet. Nördlich grenzt an das Baugrundstück ein von der Antragsgegnerin als Fläche für Erdaufschüttungen genutztes Areal (sog. Hügellandschaft); dieses Areal ist mit einer Fläche von knapp 2.000 qm in das begrünte Außengelände des Kindergartens einbezogen.

Gegen die Teilbaugenehmigung vom 10. Januar 2014 und die Baugenehmigung vom 28. Januar 2014 erhob nur der Antragsteller zu 2) unter dem 7. Februar 2014 Widerspruch und beantragte erfolglos die Aussetzung der Vollziehung.

Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht Oldenburg mit dem angegriffenen Beschluss vom 27. August 2014 und im Wesentlichen folgender Begründung abgelehnt: Der Antrag der Antragstellerin zu 1) sei Zulässigkeitsbedenken ausgesetzt; jedenfalls sei der Antrag insgesamt unbegründet. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richte sich im Fall der Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 284 nach § 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO. Die Befreiung von der nördlichen Baugrenze verletze keine Nachbarrechte der Antragsteller, weil die entsprechende Festsetzung nach dem planerischen Willen der Antragsgegnerin keine solchen Rechte vermittle. Sei der Bebauungsplan unwirksam, handele es sich entweder um ein faktisches allgemeines Wohngebiet, in dem ein Kindergarten nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauGB zulässig sei, oder aber um ein Gebiet nach § 34 Abs. 1 BauGB bzw. um eine Außenbereichslage. In diesem Fall könnten sich die Antragsteller lediglich auf das Gebot der Rücksichtnahme berufen; dieses sei nicht verletzt. § 22 Abs. 1a BImSchG sehe vor, das Geräuscheinwirkungen von Kindertagesstätten im Regelfall nicht als schädliche Umwelteinwirkungen anzusehen seien. Die hier zu erwartenden Geräuscheinwirkungen gingen nicht über das Übliche hinaus. Der Zu- und Abgangsverkehr sei von den Antragstellern hinzunehmen; die vorgesehenen 15 Stellplätze seien ausreichend, um die befürchteten chaotischen Verkehrsverhältnisse zu verhindern.

Gegen diesen Beschluss wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde; die Antragsgegnerin und die - nicht anwaltlich vertretene - Beigeladene treten dem Beschwerdevorbringen entgegen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen keine Änderung des angegriffenen Beschlusses. Der Senat teilt die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, dass das Bauvorhaben in der genehmigten Gestalt Nachbarrechte der Antragsteller nicht verletzt, und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die entsprechenden Ausführungen Bezug. Zu dem Beschwerdevorbringen sind lediglich die folgenden Anmerkungen veranlasst:

Zu Recht hat sich das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Prüfung auf das Bauvorhaben in der Gestalt der Baugenehmigung vom 28. Januar 2014 in der Fassung der Nachtragsgenehmigung vom 11. April 2014 beschränkt. Nur diese Genehmigung ist Gegenstand des Verfahrens. Auf Belästigungen, die von nicht genehmigten oder abweichend von der Genehmigung ausgeführten Bauteilen ausgehen, kommt es nicht an.

Ebenfalls zu Recht hat das Verwaltungsgericht seine Prüfung, ob das Vorhaben aufgrund der Geräuscheinwirkungen auf das Antragstellergrundstück gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, an § 22 Abs. 1a Satz 1 BImSchG orientiert. Nach dieser Vorschrift sind Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen wie beispielsweise Ballspielplätzen durch Kinder hervorgerufen werden, im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkungen. Privilegiert werden nicht nur die unmittelbar von Kindern bei der Nutzung der Einrichtung erzeugten Geräusche, sondern auch die zusätzlichen Lärmemissionen, die sich mit der bestimmungsgemäßen Nutzung der Anlage verbinden. Zu den von Anliegern im Regelfall zu duldenden Geräuscheinwirkungen zählen somit nicht allein solche, die durch kindliche Laute wie Schreien oder Singen sowie durch körperliche Aktivitäten der Kinder wie Spielen, Laufen, Springen und Tanzen hervorgerufen werden; ebenso gehören hierzu das Sprechen und Rufen von Betreuern sowie das Nutzen kindgerechter Spielzeuge und Spielgeräte. Nur in besonderen Ausnahmesituationen können derartige Geräuscheinwirkungen als nach baurechtlichen Maßstäben rücksichtslose schädliche Umwelteinwirkungen angesehen werden. In diesen Fällen - aber auch nur dann - ist eine einzelfallbezogene Prüfung geboten, ob selbst bei Zugrundelegung eines weiten Maßstabs noch erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen angenommen werden können. Ein Ausnahmefall, der eine Sonderprüfung gebietet, liegt beispielsweise vor, wenn ein Kinderspielplatz in unmittelbarer Nachbarschaft zu sensiblen Nutzungen wie Krankenhäusern oder Pflegeanstalten gelegen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 5.6.2013 - 7 B 1.13 -, [...] Rn. 6 ff., unter Bezugnahme auf BT-Drs. 17/4836 S. 6-7). Nach diesen Maßgaben liegt kein Ausnahmefall vor, und zwar weder in Bezug auf die Einrichtung selbst noch auf die Schutzwürdigkeit der Umgebung.

Wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, handelt es sich um eine Kindertagesstätte, die sich nach Größe, Öffnungszeiten und Gestaltung der Innen- und Außenbereiche im Rahmen des Üblichen bewegt. Das gilt auch für die Nutzung eines Teils der Hügellandschaft sowie einer größeren Dachterrasse als Außenspielflächen. Hügel mögen - selbst wenn sie nur maximal 10 m hoch sind - in Ostfriesland eine Besonderheit darstellen; allgemein gilt das nicht. Die - von der Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung als absurd bezeichnete - Überlegung der Antragsteller, die Hügellandschaft habe dazu geführt, dass Kinder bis zur oberen Zaungrenze gelaufen und dann beim Zurückschauen in verängstigtes Rufen ausgebrochen seien, liegt ebenso wie die Schlussfolgerung, bei gutem Wetter werde zukünftig jedes Öffnen der Fenster oder ein Aufenthalt im Freien unzumutbar sein, fern. Die Hügelnutzung gibt der Einrichtung daher ebenso wenig den Charakter eines Ausnahmefalls wie die nach Westen ausgerichtete Spielfläche auf dem Dach. Die Höhe der Dachterrasse beträgt nur rund 3,70 m über Grund; sie liegt damit in einer Höhe, die auch übliche Spielgeräte erreichen. Zudem beträgt die Entfernung zur Grundstücksgrenze knapp 25 m, sodass ein ausreichender Abstand - auch im Hinblick auf die von den Antragstellern befürchteten Einsichtsmöglichkeiten, die schon aufgrund des Gehölzstreifens im Grenzbereich und der Anordnung der Gebäude auf dem Antragstellergrundstück allenfalls in gänzlich zu vernachlässigender Weise bestehen - offenkundig gewahrt ist. Die von der Dachterrasse ausgehende Rutsche ist nur als zweiter Rettungsweg, nicht aber für eine Nutzung zu Spielzwecken genehmigt.

Ein Ausnahmefall folgt nicht aus der Schutzwürdigkeit der umgebenden Bebauung; diese ist im Gegenteil deutlich eingeschränkt. Die Grundstücke im westlichen Verlauf des F.wegs, darunter das der Antragsteller, liegen - die Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 284 unterstellt - in einem Mischgebiet gemäß § 6 BauNVO, andernfalls nach vorläufiger Einschätzung des Senats im Außenbereich (§ 35 BauGB). Zu den prägenden Eigenschaften derartiger Gebiete gehört es, dass sie gemischte Nutzungen aufnehmen sollen, und zwar auch solche, die in einem reinen oder allgemeinen Wohngebiet unverträglich sind (vgl. § 6 Abs. 1 BauNVO, § 35 Abs. 1 BauGB). Die Vorstellung, insbesondere der Außenbereich diene dem ruhigen Wohnen, entspricht nicht der Rechtslage. Vor diesem Hintergrund müssen die Antragsteller erst recht die Immissionen einer Kindertagesstätte akzeptieren, die sogar in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO allgemein zulässig wäre.

Soweit die Antragsteller - im Übrigen unsubstantiiert - die Nichteinhaltung von Lärmrichtwerten geltend machen, kommt es darauf nicht an; gemäß § 22 Abs. 1a Satz 2 BImSchG dürfen bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen von Kindertagesstätten Immissionsgrenz- und -richtwerte nicht herangezogen werden.

Zu Recht ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass das Vorhaben der Beigeladenen keine unzumutbaren Verkehrsbeeinträchtigungen auslösen wird. Die Antragsteller räumen ein, dass die mit der Nachtragsgenehmigung vom 11. April 2014 genehmigten insgesamt 15 Stellplätze die Situation verbessern. Ihre nicht weiter begründete Behauptung, bei voller Auslastung der Kindertagesstätte werde es gleichwohl zu chaotischen Verkehrsverhältnissen kommen, entbehrt jeder tatsächlichen Grundlage (vgl. zu einem derartigen Ausnahmefall Senat, Beschl. v. 20.12.2013 - 1 ME 214/13 -, [...] = NVwZ-RR 2014, 296 [OVG Niedersachsen 20.12.2013 - 1 ME 214/13]).

Mit ihrem weiteren Vortrag, mit dem Vorhaben der Beigeladenen komme es "zu einem unmaßstäblichen Gebäude, das der Zielsetzung einer ländlich aufgelockerten Bebauung im Mischgebiet" widerspreche, berufen sich die Antragsteller auf einen - vermeintlichen - Verstoß gegen städtebauliche Grundsätze; diese sind nicht nachbarschützend. Gleiches gilt für die Ausführungen zur Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich und unter Bezugnahme auf die Begründung des Bebauungsplans Nr. 284 ausgeführt, aus welchen Gründen die hintere Baugrenze keinen Nachbarschutz entfaltet (BA, S. 14). Diesen - angesichts der im Verhältnis zum nördlich angrenzenden Grundstück offensichtlich nicht eintretenden Nutzungskonflikte zutreffenden - Ausführungen setzen die Antragsteller lediglich eine nicht näher begründete gegenteilige Behauptung entgegen; das ist gemessen an § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nicht ausreichend.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 i. V. mit § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).