Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 18.06.1996, Az.: 5 U 191/94
Wahl des dorsalen Zugangsweges bei Operation des thorakalen Bandscheibenvorfalls als Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst; Aufklärungspflicht über Behandlungsalternativen bei bestehender freier Methodenwahl; Wahl der Behandlungsmethode als alleinige Sache des Arztes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 18.06.1996
- Aktenzeichen
- 5 U 191/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 21405
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1996:0618.5U191.94.0A
Amtlicher Leitsatz
Keine Aufklärung über Bandscheibenoperationsalternativen (hier: Zugang transthorakal/dorsal) - Kein Behandlungsfehler durch Wahl des dorsalen Zugangs
Tatbestand
Der Kläger begehrt Ersatz immaterieller Schäden und von Verdienstausfall sowie die Feststellung der Ersatzpflicht von materiellen und immateriellen Zukunftsschäden, die er aus einer fehlerhaften Bandscheibenoperation herleitet.
Im Sommer des Jahres 1991 hatten sich beim Kläger erhebliche Schmerzen im Lendenwirbelbereich, im Rückenbereich und in den Beinen eingestellt. Diese führten zu Ausfall- und Lähmungserscheinungen. Er wurde deshalb von seinem Hausarzt in das Krankenhaus der Beklagten zu 1) überwiesen und am 01.11.1991 in der neurologischer Klinik aufgenommen.
Durch eine Myelografie wurde eine extradurale Raumforderung in Höhe des Zwischenwirbelraums BWK 9/10, eher rechts kommend mit subtotalem Stopp in dieser Höhe, nachgewiesen. Als Diagnose wurde eine thorakale epidurale Raumforderung BWK 9/1 (z.B. Meningeom; Bandscheibenvorfall) gestellt. Der Kläger wurde zum Zweck der operativen Versorgung in die neurochirurgische Klinik der Beklagten zu 1) verlegt und dort am 05.11.1991 durch den Beklagten zu 2) in Assistenz des Beklagten zu 3) operiert. Die Operation wurde in Bauchlage mit dorsalem Zugang durchgeführt Es wurde ein verknöchterter Bandscheibenvorfall, der raumfordernd wirkte, gefunden. Es wurde von beiden Seiten weit nach lateral laminektomiert und der verknöcherte Bandscheibenvorfall sukzessiv in kleinen Stücken nach Räumung des Zwischenwirbelraums von noch restlichem Bandscheibengewebe entfernt.
Nach der Operation trat eine inkomplette Querschnittslähmung mit sensiblen Defiziten in Höhe der Leistenregion ein. Stuhlgang und Wasserlassen funktionierten nicht mehr. Am 28.11.1991 wurde der Kläger in die W.-W.-Klinik verlegt und am 13.02.1992 von dort entlassen. Seitdem wohnt er zuhause, ist auf den Rollstuhl angewiesen und leidet unter erheblichen spastischen Störungen, die es ihm zeitweise nicht ermöglichen, sein Essen selbst zu sich zu nehmen.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens von Prof. Dr. M. Es hat den Gutachter anschließend angehört.
Mit dem am 14.11.1994 verkündeten Urteil hat es unter Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 3) die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000,00 DM und eine monatliche Schmerzensgeldrente von 200,00 DM beginnend mit dem 01.12.1994 zu zahlen. Es hat ferner festgestellt, dass die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger jedweden auf Grund der Operation vom 04.11.1991 entstandenen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
Das Landgericht hat einen Behandlungsfehler nicht als gegeben angenommen, die Verurteilung der Beklagten zu 1) und 2) jedoch darauf gestützt, dass der von dem Beklagten zu 2) gewählte Eingriff nicht von dem Einverständnis des Klägers gedeckt gewesen sei, weil dieser nicht über die unterschiedlichen Zugangswege der Operation und die damit verbundenen unterschiedlichen Risiken aufgeklärt worden sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten zu 1) und 2) hat Erfolg, dagegen erweist sich die Anschlussberufung des Klägers und seine Klageerweiterung als unbegründet.
I.
Wie das Landgericht zu Recht ausgeführt hat, haften die Beklagten nicht auf Grund eines schuldhaften Behandlungsfehlers, denn es lässt sich nicht feststellen, dass die Querschnittslähmung des Klägers auf einem schuldhaften Behandlungsfehler der Beklagten zu 2) und 3) beruht. Der Sachverständige Dr. Matthiaß hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 19.05.1994 und bei seiner mündlichen Anhörung ausgeführt, dass nach seiner Auffassung nicht die Operation, sondern die Wahl des Zugangsweges fehlerhaft war, weil unabhängig davon, ob ein Meningeom oder ein Bandscheibenvorfall vorlag, durch die Kompression von vorne ein vorderer Zugang zu dem Bandscheibenraum angezeigt gewesen wäre. Diese Auffassung hat er in seinem für den Senat erstatteten Gutachten wiederholt.
Er hat allerdings in der Wahl des Zugangsweges keinen Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst gesehen. Wie der Sachverständige weiter ausgeführt hat, wird in vielen neurochirurgischen Kliniken beim thorakalen Bandscheibenvorfall auch heute noch der dorsale Zugang gewählt.
Danach entsprach die Operation mit der Wahl des dorsalen Zugangsweges dem ärztlichen Standard, und es kann dem Beklagten zu 2) und 3) kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie sich für diese Durchführung der notwendigen Operation entschieden. Eine Operationstechnik entspricht erst dann nicht mehr den zu fordernden Qualitätsstandard, wenn eine neue Methode im Wesentlichen unumstritten ist und in der Praxis nicht nur an wenigen Zentren verbreitet Anwendung gefunden hat (vgl. Steffen, Neue Entwicklungslinien der Bundesgerichtshof Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Seite 52).
Soweit der Kläger einen Behandlungsfehler darin sieht, dass die Beklagten zu 2) und 3) im Anschluss an die Verdachtsdiagnose der neurologischen Abteilung der Beklagten zu 1) fehlerhaft ein Meningeom diagnostiziert und deshalb nicht transthorakal, sondern dorsal vorgegangen sind, kann dem nicht gefolgt werden. Diagnoseirrtümer i.S.v. Fehlinterpretationen der Befunde sind nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler zu werten (vgl. Rechtsprechungshinweise bei Steffen, a.a.O., Seite 57 ff). Fehldiagnosen werden im Regelfall dann als Behandlungsfehler angesehen, wenn wegen nicht erhobener elementarer Kontrollbefunde oder unterbliebener Überprüfung der ersten Diagnose der weitere Behandlungsverlauf fehl läuft. Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Insbesondere waren weitere Kontrollbefunde nicht notwendig. Im Gegenteil, sie waren kontraindiziert, weil nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. M... unbedingt operiert werden musste. Es kann deshalb nicht von einem Behandlungsfehler ausgegangen werden.
II.
Der von den Beklagten zu 2) und 3) vorgenommene Eingriff führt auch nicht deshalb zu einer Haftung der Beklagten, weil die Einwilligung des Klägers in die durchgeführte Operation mangels hinreichender Aufklärung rechtswidrig wäre.
1.
Wie die vor dem Senat durchgeführte Beweisaufnahme ergeben hat, ist der Kläger über das mit der Operation verbundene Risiko im Großen und Ganzen aufgeklärt worden, insbesondere ist er über das Risiko der Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation bis hin zur kompletten Querschnittslähmung informiert worden. Nach der Aussage des Zeugen Schwarz ist es nach dem Ergebnis der Myelografie zu einer Besprechung gekommen, an der der Zeuge, der Kläger und der Beklagte zu 2) teilgenommen haben. Dabei haben der Beklagte zu 2) und der Zeuge mit dem Kläger die Notwendigkeit der Operation und die damit verbundenen Risiken besprochen. Nach Aussage des Zeugen ist der Kläger auch auf die Möglichkeit einer postoperativen Querschnittslähmung hingewiesen worden. Es besteht kein Anlass an der Aussage des Zeugen zu zweifeln. Damit ist die Einwilligung des Klägers in die Operation rechtswirksam, denn er musste auf Grund dieses Gesprächs ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums haben.
2.
Eine darüber hinausgehende Aufklärung über die verschiedenen Operationswege war im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts nicht erforderlich.
Nach der Rechtsprechung des BGH ist über Behandlungsalternativen bei bestehender freier Methodenwahl des Arztes aufzuklären, wenn die Methode des Arztes nicht die Methode der Wahl ist oder konkret eine echte Alternative mit gleichwertigen Chancen, aber andersartigen Risiken besteht (vgl. BGHZ 102, 17, 22 ff) [BGH 22.09.1987 - VI ZR 238/86]. Die Wahl der richtigen Behandlungsmethode ist grundsätzlich allein Sache des Arztes. Dieser darf in der Regel davon ausgehen, dass der Patient insoweit seiner Entscheidung vertraut und keine eingehende fachliche Unterrichtung über spezielle medizinische Fragen erwartet. Stehen jedoch für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere Behandlungsmethoden zur Verfügung, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, muss der Patient - selbstverständlich nach sachverständiger und verständnisvoller Beratung des Arztes - selbst prüfen können, was er an Belastungen und Gefahren im Hinblick auf möglicherweise unterschiedliche Erfolgschancen der verschiedenen Behandlungsmethoden auf sich nehmen will. Es geht dabei auch um die dem Patienten geschuldete Verlaufs- und Risikoaufklärung und nicht um dessen therapeutische Beratung.
Eine Aufklärung über die verschiedenen Zugangswege (transthorakal oder dorsal) zum Gebiet des eigentlichen Eingriffs an der Wirbelsäule war danach nicht geboten. Es handelt sich nicht um verschiedene Behandlungsmethoden, sondern um unterschiedliche Durchführungen der auf das gleiche Ziel gerichteten Operation, die Raumforderung an der Wirbelsäule zu entfernen. Eine Alternative zu dieser Operation war nicht gegeben. Es gab lediglich verschiedene Möglichkeiten, zum eigentlichen Operationsgebiet zu gelangen.
Dies stellt eine Frage der technischen Durchführung der Operation dar, die die Beklagten zu 2) und 3) eigenverantwortlich zu entscheiden und über die sie den Kläger nicht im Einzelnen zu unterrichten hatten. Insoweit konnten sie vielmehr davon ausgehen, darf der Kläger der ärztlichen Entscheidung vertraute und keine eingehende fachliche Unterrichtung über spezielle medizinische Fragen erwartete. Bei beiden Techniken bestand sowohl das Letalitätsrisiko als auch das Risiko der Querschnittslähmung, wenn auch das Letalitätsrisiko bei einem transthorakalen Zugang höher war, während bei der Wahl des dorsalen Zugangs das Risiko der Querschnittslähmung, über das der Kläger umfassend aufgeklärt war (11/1) höher war. Bei dieser Sachlage bestand keine Notwendigkeit das Für und Wider der einzelnen Operationstechniken mit dem Patienten zu erörtern, zumal die Operation dringend erfolgen musste.