Finanzgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.01.1999, Az.: VI 9/96 S
Kindergeldanspruch für ein Kind, das in der Türkei studiert; Einstufung eines Studienaufenthalts in der Türkei als vorübergehender Aufenthalt im Ausland; Wohnsitz des Kindes während des Studiums; Bestimmung des Lebensmittelpunktes des Kindes für die Dauer des Studiums
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 27.01.1999
- Aktenzeichen
- VI 9/96 S
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1999, 20704
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0127.VI9.96S.0A
Rechtsgrundlagen
- § 114 ZPO
- § 62 Abs. 1 EStG
Verfahrensgegenstand
Antrag auf Prozesskostenhilfe in dem Verfahren
Kindergeld Az. VI 621/96 Ki
Amtlicher Leitsatz
Für Kinder ausländischer Mitbürger, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, besteht kein Erfahrungssatz, dass zugunsten der Ausbildung in der Heimat die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft für den Zeitraum der Ausbildung aufgegeben wird. Ob ein Wohnsitz und damit Kindergeldanspruch besteht, ist nach den objektiven Beweisanzeichen des Streitfalls zu entscheiden.
Der VI. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
durch
den Präsidenten des Finanzgerichts ...,
die Richterin am Finanzgericht ... und
den Richter am Finanzgericht ...
am 27. Januar 1999beschlossen:
Tenor:
Dem Antragsteller wird unter Beiordnung des Rechtsanwalts ... als Prozessbevollmächtigtem Prozesskostenhilfe für das Verfahren VI 621/96 Ki gewährt.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten in der Hauptsache um den Kindergeldanspruch des Antragstellers für seine Tochter, die in der Türkei studierte. Der Antragsteller und seine Ehefrau ... sind gebürtige Türken, die inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Ihre am 26. Mai 1976 in ... geborene Tochter ... besitzt ebenfalls seit Februar 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie hielt sich von ihrer Geburt an bis November 1994 in der Bundesrepublik Deutschland auf und besuchte anschließend die Schule in der Türkei. In der Zeit von September 1987 bis Juli 1990 lebte sie bei ihren Eltern in Deutschland und besuchte dort die Schule. Im September 1990 kehrte sie zum Zwecke des Schulbesuchs in die Türkei zurück. Im Anschluss daran studierte ... dort in der Zeit von 1993 bis August 1997 Physik. Eine dem Antragsgegner eingereichte Schulbescheinigung des türkischen Erziehungsministeriums ist auf Antragvon ..., einem Verwandten des Antragstellers, ausgestellt worden. Während der Studienzeit wohnte die Tochter des Antragstellers in einer Wohngemeinschaft. Die Eltern besuchte sie jeweils nur in den Ferien.
Mit Bescheid vom 3. Juli 1996 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 26. September 1996 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller den Anspruch auf Kindergeld für ... zunächst ab August und anschließend durch Bescheid vom 26. August 1997 ab September 1996. Dies hat der Antragsgegner im wesentlichen damit begründet, dass ... weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe. Den Einspruch des Antragstellers wies der Antragsgegner mit Einspruchsbescheid vom 2. Oktober 1996 zurück. Der Antragsteller erhob Klage (VI 621/96 Ki) und beantragte zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Er ist der Ansicht, ihm stehe ein Kindergeldanspruch für seine Tochter ... zu. Subjektive und objektive Umstände sprächenfür einen vorübergehenden Aufenthalt seiner Tochter in der Türkei. Das Studium sei zeitlich bis voraussichtlich Mitte 1997 begrenzt, so dass es auf die tatsächliche Ausbildungsdauer nichtankommen könne. In seiner Wohnung habe jederzeit ein Zimmer für seine Tochter zur Verfügung gestanden. Er sei stets davon überzeugt gewesen, dass seine Tochter nach dem Studium wieder bei ihm und seiner Frau in Deutschland wohnen werde. Es sei nicht gerechtfertigt, ihn wegen seiner Herkunft anders zu behandeln als deutsche Staatsangehörige. Zudem widerspreche die Auffassung des Antragsgegners derjenigen des Bundessozialgerichtes im Urteil vom 30.09.1996 (10 Kg R 29/95). Hiernach könne ein ausländisches Kind von Migranten, wenn es sich nur zum Zweck einer zeitlich begrenzten Ausbildung im Heimatland seiner Eltern aufhalte, seinen Wohnsitz in Deutschland beibehalten. Hiernach sei der Anspruch auf Kindergeld gerechtfertigt. Das amtliche Formular mit Einkommensnachweis ging am 16.12.1996 bei Gericht ein.
Der Antragsteller beantragt,
ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt ..., für das Klageverfahren VI 621/96 Ki zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er hält an der in der Einspruchsentscheidung vertretenen Rechtsauffassung fest. Die sehr lange Dauer des Auslandsaufenthaltes deute darauf hin, dass ein inländischer Wohnsitz im Jahre 1996 nicht mehr bestanden habe. Diese Auffassung entspreche dem Urteil des BFH vom 22.04.1994 (Bundessteuerblatt II 1994, 887). Im vorliegenden Streitfall weiche der Sachverhalt zwar insoweit von der Entscheidung des BFH ab, als die Eltern und auch das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten. Hierauf komme es jedoch nicht entscheidend an. Entscheidender Gesichtspunkt sei die sprachliche, verwandtschaftliche und kulturelle Herkunft.
Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Tochter des Antragstellers in einer Wohngemeinschaft gelebt habe. Angesichts der langen Dauer des Auslandsaufenthaltes von rd. 7 Jahren müsse davon ausgegangen werden, dass der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen des Kindes nicht bei den Eltern, sondern im Ausland gelegen habe.
Dem widerspreche auch das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 30.09.1996 nicht. Das BSG habe lediglich entschieden, dass für einen Auslandsaufenthalt von unter drei Jahren das Fortbestehen eines inländischen Wohnsitzes angenommen werden könne. In früheren Urteilen sei jedoch auch das Bundessozialgericht bei einem fünfjährigen oder über sechsjährigen Auslandsaufenthalt von der Aufgabe des Wohnsitzes in Deutschland ausgegangen. Die Klage bietet deshalb keine hinreichenden Erfolgsaussichten.
Der Antragsteller hat beantragt, den Änderungsbescheid vom 26. August 1997, mit dem der Kindergeldanspruch für Münevver nur noch ab September 1996 entzogen wird, zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens zu machen.
II.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist begründet.
Gemäß § 142 Abs. 1 FGO in Verbindung mit § 114 der Zivilprozesssordnung (ZPO) erhält auf Antrag eine Partei Prozesskostenhilfe, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Nach den von dem Antragsteller vorgelegten Unterlagen verfügt dieser nicht über verwertbares Vermögen. Er erhält Hilfe zum Lebensunterhalt zur Aufstockung seines Gesamtbedarfs unter Einbeziehung seiner sonstigen Bezüge. Im Rahmen dieses Mindesteinkommens braucht ein Beteiligter keinen eigenen Beitrag zu den Kosten der Prozessführung zu leisten.
Die von dem Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Rechtsverfolgung versprichthinreichende Aussicht von Erfolg, wenn bei summarischer Prüfung und Würdigung der wichtigsten Tatumstände der vom Antragsteller begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. BFH-Beschluss vom 3. Mai 1994 VII B 265/93, BFH/NV 1994, 762). Das Gericht muss den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zumindest für vertretbar halten und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt sind.
Aufgrund des bisherigen Sach- und Streitstandes ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller nach § 62 Abs. 1 EStG für seine Tochter ab September 1996 weiterhin Anspruch auf Kindergeld zusteht. Gemäß § 62 Abs. 1 hat Anspruch auf Kindergeld für berücksichtigungsfähige Kinder im Sinne des § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Voraussetzung für die Berücksichtigung von Kindern ist es u.a., dass diese einen Wohnsitz im Inland oder einem weiteren Staat im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG haben. Hierzu zählt die Türkei nicht.
Die Tochter ... ist als Kind für die Gewährung von Kindergeld zu berücksichtigen, da sie im Jahre 1996 ihren Wohnsitz bei ihren Eltern im Inland hatte. Der Wohnsitzbegriff im Sinne der §§ 62, 63 EStG in Verbindung mit § 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in dem Sinne voraus, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen, aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinanderfolgernder kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken reicht nicht aus (Urteil des BFH vom 23. November 1988 II R 139/87, BFHE 155, 29; BStBl II 1989, 182). Außer dem Innehaben einer Wohnung setzt der Wohnsitzbegriff zunächst Umstände voraus, die darauf schließen lassen,dass die Wohnung durch den Inhaber beibehalten und als solche genutzt werden soll. Die Begründung, Beibehaltung und Aufgabe des Wohnsitzes ist anhand der tatsächlichen Gestaltung des Sachverhaltes zu beurteilen. Deshalb kann auch ein Minderjähriger einen steuerlichen Wohnsitz begründen. Auf den Willen des gesetzlichen Vertreters kommt es hierbei nicht an.
Für ausländische Kinder hat der BFH ein Innehaben einer inländischen Wohnung verneint, wenn das ausländische Kind zum Schulbesuch in das Heimatland zurückkehrt. Dies soll auch dann gelten, wenn das Kind während der Ferien die Eltern im Inland besucht (vgl. BFH-Urteil vom 22.04.1994 III R 22/92, BFHE 174, 523, BStBl II 1994, 887; Urteil vom 27.04.1995 III R 57/93, BFH/NV 1995, 967). Das Fehlen eines inländischen Wohnsitzes folgert der BFH daraus, dass der Auslandsaufenthalt nicht in erster Linie durch den Zweck der Ausbildung bestimmt sei, sondern nach der Lebenserfahrung der Aufenthalt vielmehr dem Zweck diene, die Heimat der Eltern kennenzulernen und sich längerfristig in die dortigen Lebensverhältnisse einzuleben. Der Schluss, das Kind benutze und behalte die Wohnung der Eltern im Inland bei, könne wegen der Verwurzelung im Ausland und der Einschränkung der bisherigen Wohnungs- und Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kind nicht gezogen werden.
Demgegenüber wird für deutschstämmige Kinder die Auffassung vertreten, dass diese in der Regel ihren Wohnsitz bei den Eltern behalten, auch wenn sie sich vorübergehend zu Ausbildungszwecken auswärts aufhalten (vgl. Niedersächsisches Finanzgericht, EFG 1993 135; Tipke-Kruse, § 8 AO, Tz. 4; Schmidt/Heinicke, EStG, § 1 Rdziff. 24). Studenten begründen dementsprechend am Schulort in der Regel nicht ihren Wohnsitz (vgl. Flick/Flick-Pistorius, DStR 1989, 623). Diesen Auffassungen liegt die Annahme zugrunde,dass der auswärtige Aufenthalt durch den Zweck, die Schulausbildung bzw. das Studium abzuschließen, zeitlich begrenzt ist unddeshalb nicht den Schluss zulässt, dass durch den auswärtigen Aufenthalt die Verbindungen zu den Eltern unterbrochen seien.
Die tatsächlichen Umstände des Streitfalls lassen nicht den Schluss zu, dass die Tochter des Antragstellers ihren Wohnsitz bei den Eltern aufgegeben hat.
Der Auslandsaufenthalt war zeitlich von vornherein begrenzt, da der Aufenthalt in der Türkei wesentlich auf den Zweck angelegt war, dort das Physikstudium abzuschließen und wieder zu ihren Eltern nach Deutschland zurückzukehren. Zwar hat ... bereits vor Aufnahme ihres Physikstudiums die Schule in der Türkei besucht, so dass sie insgesamt über einen verhältnismäßig langen Zeitraum zu Ausbildungszwecken in ihrem Heimatland verblieb. Doch ist zu berücksichtigen, dass sie stets während der Ferien zu ihren Eltern nach Deutschland zurückgekehrt ist. Während dieser Zeit hielt sie sich jeweils in ihrem Zimmer in der elterlichen Wohnung auf.
Die mit der Unterbringung in der Wohngemeinschaft gegebene räumliche Trennung von den Eltern bedingt allein keine Auflösung der familiären Bindungen. Besonderes Gewicht ist zudem dem Umstand beizumessen, dass die Kläger sowie ihre Tochter zwischenzeitlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben. Hierdurch kommt im besonderen Maße eine räumliche und kulturelle Neuausrichtung zum Ausdruck. Insofern unterscheidet sich der Streitfall auch von den bisher zu Ausländerkindern entschiedenen Streitfällen des BFH.
Nach Auffassung des Senats lässt sich für Fälle, in denen ausländische Mitbürger und deren Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, nicht der Erfahrungssatz aufstellen, dass mit der Rückkehr in den heimatlichen Kulturkreis die Bindungen zu den Eltern zumindest zeitweise unterbrochen seien. Diese Auffassung wird durch die Ansicht des Bundessozialgerichts (BSG-Urteil vom 30.09.1996, 10 R Kg 29/95) unterstützt. Das BSGhatte zunächst die Lebenserfahrung festgestellt, dass mit dem Schulbesuch in der Heimat die natürlichen Bindungen in sprachlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht an den heimatlichen Kulturkreis hergestellt oder wiederhergestellt und gefestigt werden, mit dem von den Eltern angestrebten Ergebnis, dass die Eltern im Heimatland mit der erfolgreichen Schulausbildung eine Grundlage für ihren weiteren Lebensweg haben, sei es für eine weitere Berufsausbildung oder für eine dem Lebensunterhalt dienende Tätigkeit oder Beschäftigung in der Heimat. Zugunsten der Ausbildung in der Heimat wird die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern für die zeitlich nicht absehbare Dauer der Ausbildung aufgegeben. Hieran hält das BSG für die Zeit ab 1985 ausdrücklich nicht mehr fest. Soweit ersichtlich fehlten zumindest gegenwärtig in jeder Hinsicht ausreichende Daten, die eine solche als Regelvermutung bezeichnete Schlussfolgerung gegen die konkret feststellbaren Umstände des Einzelfalles bestätigen. So zeigten etwa Beobachtungen bei griechischen Migranten, dass von den in Deutschland lebenden griechischen Jugendlichen etwa 80 % hier geboren sind; 65 % hier bleiben und 15 % nach Griechenland zum Schulbesuch geschickt werden. Hiervon kehrt ein großer Teil wieder nach Deutschland zurück.
Hieraus ergeben sich nach Auffassung des Senats zumindest für ausländisch stämmige Mitbürger, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, erhebliche Zweifel an dem Vorliegen eines Erfahrungssatzes, dass mit dem Aufenthalt des Kindes im Heimatland zum Zwecke des Schul- oder Studienbesuches die Bindungen zu seinen Eltern unterbrochen werden. Allein aus der langen Dauer des Auslandsaufenthaltes kann ebensowenig wie bei gebürtigen deutschen Kindern das Gegenteil gefolgert werden. Denn nicht die Dauer des Aufenthaltes im Ausland ist für das Beibehalten eines Wohnsitzes entscheidend, sondern die anhand objektiver Beweisanzeichen feststellbare Absicht nach Deutschland zurückzukehren. Nach alledem hat die Klage bei summarischer Prüfung hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 1 Gerichtskostengesetz.
Gegen diesen Beschluss findet lediglich die Beschwerde der Staatskas se statt. Im übrigen ist der Beschluss unanfechtbar (§ 142 Abs. 1 FGO in Verbindung mit § 127 Abs. 3 ZPO).