Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.01.1999, Az.: I 356/98 Ki
Rückwirkende Gewährung von Kindergeld; Zahlung von Kindergeld mit Beginn des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind; Verletzung der Beratungspflicht hinsichtlich des Anspruchs auf Kindergeld
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 19.01.1999
- Aktenzeichen
- I 356/98 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 20448
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0119.I356.98KI.0A
Rechtsgrundlagen
- § 66 Abs. 2 EStG
- § 66 Abs. 3 EStG
- § 89 AO
Verfahrensgegenstand
Rückwirkender Anspruch auf Kindergeld
Kindergeld für Susanne S. (Widerspruchsbescheid vom 05.05.1998)
Der I. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 19. Januar 1999,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ...
ehrenamtlicher Richter ...
fürRecht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird auf Kosten des Klägers abgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob Kindergeld rückwirkend gezahlt werden kann.
Der Kläger (Kl.) hat mehrere Kinder, unter anderem eine Tochter Susanne, die am 01.11.1972 geboren wurde. Vom 01.08.1994 bis 31.01.1997 absolvierte die Tochter Susanne eine Ausbildung zur Fachgehilfin in steuer- und wirtschaftsberatenden Berufen. Im ersten Ausbildungsjahr erhielt sie eine Vergütung von 610 DM monatlich, im zweiten von 800 DM und im dritten von 900 DM pro Monat. Im Jahre 1995 galt die Regelung, dass Kinder, die nach Vollendung des 16. Lebensjahres in der Berufsausbildung standen, bei der Zahlung des Kindergeldes nicht mehr berücksichtigt werden konnten, wenn ihre Bruttobezüge aus dem Ausbildungsverhältnis zusammen mit etwaigen zusätzlichen Einkünften monatlich 750 DM oder mehr betrugen. Da Susanne diese Grenze mit Beginn ihres zweiten Ausbildungsjahres überschritt, widerrief der Beklagte (Bekl.) die Kindergeldzahlung für die Tochter mit Wirkung ab August 1995. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Ab 01.01.1996 erhöhte sich die Grenze für die zulässigen Einkünfte eines Kindes auf 1.000 DM monatlich. DieÄnderung der entsprechenden Rechtsvorschriften war dem Kl. jedoch nicht bekannt, er wurde auch nicht - auch nicht von dem Bekl. - darauf hingewiesen. Das führte dazu, dass er zunächst keinen Antrag auf erneute Zahlung des Kindergeldes für seine Tochter Susanne stellte, obwohl er die Anspruchsvoraussetzungen unstreitig erfüllt hätte.
Mit Schreiben vom 25.02.1998 teilte der Kl. dem Bekl. mit, dass seine Tochter ihre Lehre als Steuerfachangestellte am 28.01.1998 abgeschlossen habe. Der Bekl. sah das Schreiben als Antrag auf Kindergeld an. Mit Bescheid vom 19.03.1998 gewährte er dem Kl. erneut Kindergeld für Susanne, und zwar rückwirkend (nur) ab Juli 1997.
Hiergegen richtet sich - nach erfolglosem Vorverfahren - die Klage. Der Kl. begehrt, ihm Kindergeld auch für die Zeit vom 01.01.1996 bis 30.06.1997 zu gewähren. Er meint, der Bekl. hätte seine - z.B. in§ 89 Abgabenordnung (AO) verankerte, auf Treuund Glauben beruhende - Beratungspflicht verletzt, weil er den Kl. nicht auf die ab 01.01.1996 geltende Rechtsänderung hingewiesen habe. Das führe letztlich dazu, dass der Kl. auch für die im Raum stehenden 18 Monate Kindergeld erhalten müsse.
Der Kl. beantragt,
den Bekl. unter Aufhebung des Bescheides vom 19.03.1998 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 05.05.1998 zu verurteilen, dem Kl. Kindergeld für die Tochter Susanne auch für die Zeit über den 1. Januar 1996 hinaus bis zum 30. Juni 1997 zu gewähren.
Der Bekl. beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, er sei an die Regelung des für das Kalenderjahr 1997 noch geltenden § 66 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) gebunden, wonach Kindergeld rückwirkend längstens für sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt werden könne, in dem der Antrag auf Kindergeld bei der Behörde eingehe. Danach könne Kindergeld auf einen nach dem 31.12.1997 gestellten Antrag rückwirkend höchstens bis einschl. Juli 1997 gezahlt werden. Das sei im Streitfall geschehen.
Im übrigen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und die vorgelegte Kindergeldakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht begründet. Dem Kl. steht für seine Tochter Susanne Sch kein Kindergeld für die Zeit von Januar 1996 bis Juni 1997 zu. Das ergibt sich aus Folgendem:
Zwar wird gem. § 66 Abs. 2 EStG Kindergeld grundsätzlich vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Das wäre im Streitfall ab Januar 1996. Dieser Grundsatz wird hier jedoch durch die für das Jahr 1997 noch geltende Fristenregelung des § 66 Abs. 3 EStG eingeschränkt. Nach dieser Vorschrift - die mit Wirkung ab 01.01.1998 gestrichen worden ist - konnte Kindergeld rückwirkend längstens für sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt werden, in dem der Antrag auf Kindergeld bei der Behörde einging.
Diese bewirkt, dass der Kl. das begehrte Kindergeld nicht erhalten kann. Denn er hat seinen Antrag auf Kindergeld erst nach dem 31. Dezember 1997 gestellt. Dabei lässt der Senat dahingestellt, ob es Fallgestaltungen gibt, in denen trotz § 66 Abs. 3 EStG Kindergeld für mehr als sechs Monate rückwirkend gezahlt werden kann (so FG Düsseldorf, Urteil vom 27.11.1997 15 K 3969/97 Kg, EFG 1998, 375) oder ob es sich um eine zwingende Ausschlussfrist handelt (so FG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.06.1998 5 K 208/97, EFG 1998, 1689) und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen bei unverschuldeter Fristversäumung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist. Denn der Senat geht davon aus, dass ein rückwirkender Bezug von Kindergeld über sechs Monate hinaus jedenfalls nur dann in Betracht kommt, wenn dem Berechtigten kein Vorwurf daraus zu machen ist, den Antrag nicht früher gestellt zu haben. Das wäre z.B. der Fall, wenn sich erst in der zweiten Jahreshälfte 1997 heraustellt, dass für dieses Jahr ein Kindergeldanspruch besteht; dafür kann z.B. die Höhedes Weihnachtsgeldes entscheidend sein (vgl. FG Düsseldorf, a.a.O.). Demgegenüber steht § 66 Abs. 3 EStG einem rückwirkenden Kindergeldanspruch dann entgegen, wenn von Beginn eines Jahres an bei normalem Geschehensablauf feststeht, dass die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs erfüllt sind, und wenn es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich hieran etwasändern könnte. So ist es im Streitfall. Sowohl während des Jahres 1996 auch während des Jahres 1997 war offensichtlich, dass die Bruttobezüge der Tochter aus ihrem Ausbildungsverhältnis unter der für den Anspruch auf Kindergeld maßgeblichen Grenze bleiben würden. Der Senat sieht keinen Anlass, § 66 Abs. 3 EStG in einem solchen Fall einschränkend anzuwenden. Wenn dem Kl. damals bewusst geworden wäre, dass sich die Grenze für die eigenen Einkünfte des Kindes von 750 DM auf 1.000 DM erhöht hätte, so hätte er einen erneuten Antrag auf Kindergeld fristgerecht stellen können und sollen. Dass er dies nicht getan hat, geht zu seinen Lasten, auch wenn es aus Unkenntnis geschah.
Eine Verletzung der Beratungspflicht durch den Bekl. - etwa im Hinblick auf den Grundsatz von Treu und Glauben und/oder § 89 AO - sieht der Senat nicht. Denn einerseits ist es einem Vater, der ein Kind in der Ausbildung hat, durchaus möglich und zumutbar, die aktuellen Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung soweit zu verfolgen, dass er erkennen kann, dass sich die Anforderungen für einen Kindergeldanspruch möglicherweise ändern, um sich sodann näher zu informieren. Demgegenüber ist eine Pflicht des Bekl., Änderungen der Vorschriftenüber die Bezugsmöglichkeiten von Kindergeld allen möglicherweise Betroffenen bekanntzugeben und sie darauf hinzuweisen, dass sie entsprechende Anträge stellen können, nicht zu erkennen. Das folgt schon daraus, dass eine solche Verpflichtung mit vertretbarem Arbeitsaufwand nichtzu erfüllen wäre. Denn der Bekl. müsste, um entsprechende, gezielte Hinweise zu geben, praktisch alle ihm vorliegenden Kindergeldakten daraufhin prüfen, ob eingetretene Gesetzesänderungen möglicherweise einschlägig wären. Das ist nicht praktikabel. Soweit die Entscheidung des Finanzgerichts des Landes Brandenburg (Urteil vom 12.02.1998 5 K 807/97 Kg, EFG 1998, 752) anders zu verstehen sein könnte, folgt der Senat dem nicht. Im Streitfall ist offenkundig, dass der Kl. in den Jahren 1996/1997 nur deshalb keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat, weil ihm die Erhöhung der Einkunftsgrenze von 750 DM auf 1.000 DM nicht bekannt war. Das geht zu seinen Lasten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 115 Abs. 2 Ziff. 1 FGO.