Verwaltungsgericht Göttingen
v. 17.07.2007, Az.: 2 A 571/05

Einzelfall aktuell drohender Verfolgung für einen bildenen Künstler; Asyl: Widerruf; Irak; Künstler, bildender

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
17.07.2007
Aktenzeichen
2 A 571/05
Entscheidungsform
Entscheidung
Referenz
WKRS 2007, 62069
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2007:0717.2A571.05.0A

Aus dem Entscheidungstext

1

Der am ... geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und moslemischer Religionszugehörigkeit. Er gehörte im Irak der kommunistischen Partei an. Seinen letzten festen Wohnsitz hatte der Kläger vor seiner Ausreise in Bagdad. Dort leben auch die einzig im Irak verbliebenen Verwandten des Klägers. Die letzte Zeit vor seiner Ausreise lebte er bei bewaffneten kommunistisch - kurdischen Einheiten im Nordirak. Er ist von Beruf Diplom-Bildhauer und arbeitete in seiner Heimat zuletzt als Offset-Graphiker. In den siebziger Jahren war er an mehreren Ausstellungen moderner Kunst im Irak und dem europäischen Ausland beteiligt; er betätigt sich nach wie vor als gestaltender Künstler; seine Stilrichtung ist der modernen bildenden Kunst zuzuordnen.

2

Am 6. August 1993 reiste der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier einen Asylantrag. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 4. März 1994 stellte das vormalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fest, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und ein Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliegen.

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Mit Bescheid vom 18. November 2005 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliegen. Gleichzeitig stellte es fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung bezog es sich im Wesentlichen auf die geänderte politische Situation im Irak.

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Hiergegen hat der Kläger am 5. Dezember 2005 Klage erhoben.

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Zu deren Begründung beruft er sich im Wesentlichen darauf, dass die Voraussetzungen für den Widerruf seiner Rechtsstellungen nicht vorliegen und die Beklagte § 73 Abs. 2 a AsylVfG missachtet habe. Ferner meint er, ihm drohe auch derzeit bei einer Rückkehr in den Irak politische Verfolgung, weil er ein bekannter Bildhauer sei und Angehöriger der kommunistischen Partei gewesen sei. Im Nordirak habe er weder familiäre noch sonstige persönliche Kontakte. Schließlich macht er gesundheitliche Gründe geltend, die seiner Abschiebung in den Irak entgegenstünden.

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Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 18. November 2005 aufzuheben,

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hilfsweise,

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die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 3 ihres Bescheides vom 18. November 2005 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.

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Die Beklagte beantragt, dem klägerischen Vorbringen entgegentretend

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die Klage abzuweisen.

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Das Gericht hat zu der Frage, ob dem Kläger als modernem Künstler und/oder ehemaligem Angehörigen der kommunistischen Partei derzeit im Irak politische Verfolgung droht, Beweis erhoben durch Einholung von Stellungnahmen des vormaligen Deutschen Orient-Instituts und des Europäischen Zentrum für Kurdische Studien. Wegen des Inhalts der Stellungnahmen wird auf die Rückäußerungen der beauftragten Stellen vom 6. Oktober 2006 und 14. Mai 2007 Bezug genommen. Das Gericht hat ferner den Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Klagegründen informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten seiner Aussagen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Ausländerakten der Stadt E. Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso wie die aus der den Beteiligten mit der Ladung übersandten Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21. November 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

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Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und eines Abschiebungsverbotes nach § 53 Abs. 4 AuslG liegen nicht vor.

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Zwar erkennen sowohl die Kammer als auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (vgl. nur Urteil der Kammer vom 5.12.2006 -2 A 323/05 -, Beschluss des OVG Lüneburg vom 26.4.2007 -9 LA 408/06 -) in ständiger Rechtsprechung dahin, dass die veränderte politische Lage im Irak dauerhaft ist und einen Widerruf der aufgrund vormals unter Saddam Hussein erlittener politischer Verfolgung gewährten Rechtsstellungen rechtfertigt; ebenso dahin, dass ein Verstoß gegen § 73 Abs. 2 a AsylVfG bei der Vorgehensweise der Beklagten nicht vorliegt (vgl. nur Urteil der Kammer vom 26.4.2005 -2 A 222/04 -).

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Indes ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 21. November 2005 deshalb rechtswidrig, weil dem Kläger aktuell im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) aus anderen Gründen als denjenigen, die zu der Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft geführt haben, politische Verfolgung droht. Das Fehlen aktuell drohender politischer Verfolgung ist jedoch Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs nach § 73 Abs. 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 -1 C 21.04 -, DVBl 2006, 511; OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.12.2004 -8 LA 245/04 -).

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Nach den von der Kammer im Rahmen der Beweisaufnahme eingeholten sachverständigen Stellungnahmen steht zur gerichtlichen Überzeugung fest, dass dem Kläger infolge seiner exponierten künstlerischen Betätigung derzeit im Irak politische Verfolgung durch islamistische Gruppen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass er einen Anspruch auf Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG hätte. Eine derartige nichtstaatliche Verfolgung ist gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG verfolgungsrelevant, da die staatlichen Institutionen im Irak nicht in der Lage sind, irakische Bürger vor den Übergriffen dieser Gruppen zu schützen.

18

Sowohl aus der Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts vom 6. Oktober 2006 als auch aus derjenigen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 14. Mai 2007 ergibt sich mit der erforderlichen Sicherheit, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak jedenfalls als moderner bildender Künstler in das Blickfeld islamischer Gruppierungen geraten und dann seines Lebens nicht mehr sicher sein wird, weil sein gesamtes Lebenswerk den von diesen Gruppen vertretenen Wertvorstellungen fundamental widerspricht. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargetan, dass er in der Vergangenheit eine herausgehobene Stellung innerhalb der irakischen Kunstszene sowohl auf staatlich organisierter wie auch auf privater Ebene inne gehabt hat. Er ist nicht nur durch öffentliche Ausstellung seiner Werke im In- und Ausland, sondern auch durch seine Beteiligung an der Organisation der irakischen Kunstszene in Vorstandsfunktion öffentlich in Erscheinung getreten. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch nach seinem 14-jährigen Auslandsaufenthalt als Exponent der modernen Kunst im Irak und damit als Vertreter einer aus Sicht islamischer Fundamentalisten entarteten Kunst erkannt und deshalb verfolgt wird; dies gilt zumal als der Kläger sich auch aktuell in der Bundesrepublik in gleicher Weise wie im Irak künstlerisch betätigt. Diese Einschätzung des Gerichts dürfte im Übrigen auch der bekannten Entscheidungspraxis der Beklagten entsprechen, nach der von einer erhöhten Gefährdungswahrscheinlichkeit für Professoren sowie generell Akademikern ausgegangen wird. Diesem Personenkreis ist der Kläger als exponierter bildender Künstler problemlos zuzurechnen.

19

Der Kläger kann nicht auf eine bestehende inländische Fluchtalternative verwiesen werden. Insoweit kommen nur die kurdisch dominierten Gebiete Nordiraks in Betracht. Die dafür notwendige existenzielle Absicherung ist jedoch nur gegeben, wenn der Ausländer im Nordirak auf bestehende familiäre oder andere persönliche Beziehungen zurückgreifen kann. Familienangehörige hat der Kläger nur in Bagdad. Andere Beziehungen in den Nordirak mag der Kläger als ehemaliger Peshmerga gehabt haben, er hat sie nach seiner über 14-jährigen Abwesenheit mit Gewissheit jedoch aktuell nicht mehr. Auch insoweit trifft die Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts eine klare, nicht zu widerlegende Aussage, die der Kläger in mündlicher Verhandlung persönlich bestätigt hat.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG.

21

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.