Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 04.06.2019, Az.: 2 A 568/16

Beurteilungszeitpunkt; Dyskalkulie; Jugendhilfe; Legasthenie; Leitlinien; Lese- und Rechtschreibstörung; Rechenstörung; Rechtschreibstörung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
04.06.2019
Aktenzeichen
2 A 568/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69751
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zu den maßgeblichen Leitlinien für die Diagnose einer Legasthenie und einer Dyskalkulie

Tatbestand:

Die 2006 geborene Klägerin begehrt Jugendhilfeleistungen für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie.

Am 14.05.2016 beantragte sie eine solche Leistung bei dem Beklagten. Sie fügte einen ärztlichen Bericht des Ergotherapeuten N. vom 31.03.2016, Zeugnisse, Klassenarbeiten, einen Elternfragebogen und einen Schulbericht bei, die ihren Antrag stützen sollten. Nach den außerdem eingereichten Arztberichten ist die Klägerin weitsichtig und hatte ein Lärmtrauma, das sich im Alltag nicht auswirkt. Am 13.10.2016 stellte sie sich zur Untersuchung der Voraussetzungen für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie bei dem Jugendhilfe Süd-Niedersachsen e.V. (im Folgenden: JSN) vor. Von dort wurden noch Testergebnisse der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. med. O. -P. eingeholt, die die Ergotherapie verordnet hatte. Nach Auswertung der Testung und der eingeholten Unterlagen gelangte die Fachstelle Diagnostik des JSN in ihrer Stellungnahme vom 25.10.2016 zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin keine Teilleistungsstörung im Sinne einer seelischen Behinderung vorliege, weil das nach den Kriterien des ICD-10 erforderliche doppelte Diskrepanzkriterium nicht erfüllt sei. Außerdem liege keine Teilhabegefährdung vor. Der Beklagte schloss sich dieser Einschätzung an und lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 28.11.2016 ab.

Hiergegen hat die Klägerin am 23.12.2016 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, bereits im Zeitpunkt des Bescheiderlasses habe eine Rechenstörung sowie eine Lese- und Rechtschreibstörung vorgelegen. Sie habe den Aufbau des Zahlenraumes bis 1000 nicht verstanden und ihr gelinge das Erkennen und Festsetzen von geometrischen Mustern nicht. Beim Schreiben vergesse sie häufig ganze Buchstaben oder Wortteile. Die Testergebnisse der Fachstelle Diagnostik seien nicht symptomatisch, sondern stellten lediglich eine wenig aussagekräftige Momentaufnahme dar. Für die fachärztliche Diagnose der Störungen seien ferner nicht die im Bescheid genannten Klassifikationen nach ICD-10 maßgeblich, sondern die - offenbar nicht berücksichtigten - Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Auf Grund der Störungen liege bei der Klägerin auch eine Gefährdung der Teilhabe am Klassenverband vor, wie sich aus dem Schulbericht ergebe.

Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, den Beklagten unter Aufhebung ihres Bescheids vom 28.11.2016 zu verpflichten, ihr die beantragte Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie zu gewähren. Während des Klageverfahrens hat sie sowohl eine Legasthenie- als auch eine Dyskalkulietherapie erhalten.

Die Klägerin beantragt nunmehr,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheids vom 28.11.2016 zu verpflichten, ihr die Kosten für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie im Umfang von jeweils 40 Stunden zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf die fachliche und im Gerichtsverfahren unter dem 20.04.2017 nochmals bekräftigte Einschätzung der Fachstelle Diagnostik des JSN. Danach hätten die Leistungen der Klägerin im Lesen und Schreiben über dem Ergebnis ihrer Intelligenzleistung und darüber hinaus im durchschnittlichen Bereich gelegen. Ihre Leistungen im Rechnen hätten nur geringfügig, nicht deutlich, unterhalb ihrer Intelligenzleistung gelegen.

Die in der Fachstelle Diagnostik des JSN tätige Ärztin, Frau Diplom Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin Dr. Q., ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch zu ihrer Ergebnisfindung angehört worden. Wegen des Ergebnisses dieser Befragung wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und den vom Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten (Beiakten 001 und 002) Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die auch in ihrer geänderten Form zulässige Klage hat keinen Erfolg.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Erstattung der Kosten für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie; der die Kostenübernahme ablehnende Bescheid vom 28.11.2016 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Nach § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in den Fällen, in denen Hilfen vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und weitere Anforderungen erfüllt sind. Die Voraussetzungen der für die Übernahme der Kosten für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 35a Abs. 1 SGB VIII lagen im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung am 28.11.2016 nicht vor. Dieser Zeitpunkt ist maßgeblich, weil der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid nicht etwa für unbestimmte Zeit künftige Jugendhilfeleistungen ablehnte. Er konnte als Jugendhilfeträger vielmehr nur eine Entscheidung nach Maßgabe der im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannten leistungsrelevanten Umstände treffen. Sofern sich nach Bescheiderlass Veränderungen in den Leistungs- oder Sozialverhältnissen der Klägerin ergeben hätten, müssten sie in einem neuen Antragsverfahren gegenüber dem Jugendhilfeträger geltend gemacht werden (st. Rspr der Kammer, vgl. nur Urteil vom 22.01.2019 - 2 A 221/17 - n.v.; vom 28.01.2015 - 2 A 1006/13-, juris, Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 08.06.1995 - 5 C 30.93 -, FEVS 46, 94 = juris, Rn. 11).

Gemäß § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Satz 2).

Gemäß § 35a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall unter anderem in ambulanter Form geleistet. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich gemäß Abs. 3 der Bestimmung nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.

Tatbestandliche Voraussetzung der Gewährung von Eingliederungshilfe sind danach zwei Elemente, die kumulativ vorliegen müssen, zum einen die Abweichung von der alterstypischen seelischen Gesundheit (seelische Störung), zum anderen die dadurch kausal verursachte (bereits eingetretene oder zu erwartende) Teilhabebeeinträchtigung. Dem Jugendamt kommt bei der Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe vorliegen, kein Beurteilungsspielraum zu; vielmehr unterliegt die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 35a Abs. 1 SGB VIII der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.03.2007 - 7 E 10212/07 -, juris, Rn. 9; Fischer, in: Schellhorn u.a., SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 35a Rn. 21).

I. In dem hier relevanten Beurteilungszeitpunkt am 28.11.2016 wich die seelische Gesundheit der Klägerin nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand ab.

1. Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen (§ 35a Abs. 1a SGB VIII).

Gemäß § 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII hat die Beurteilung, ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit vorliegt, auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erfolgen. Allerdings enthalten die Klassifikationen nach ICD-10 keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der unter F81 genannten Entwicklungsstörungen. In ständiger Rechtsprechung (vgl. Beschluss vom 24.05.2017 - 2 B 323/17 -, n.v.; Urteil vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 - Rn. 28 f.; grundlegend Urteil der Kammer vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, Rn. 39 ff. m.w.N., bestätigt durch Beschluss des Nds. OVG vom 04.02.2009 - 4 LC 514/07 -; jeweils juris) vertritt das Gericht deshalb die Auffassung, dass die fachlichen Standards für die Diagnose einer Legasthenie wie auch einer Dyskalkulie den zum jeweiligen Beurteilungszeitpunkt geltenden Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) bzw. der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) zu entsprechen haben.

Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses im November 2016 waren dies für die Diagnose einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung die Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015, Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung, evidenz- und konsensbasierte Leitlinie (AWMF-Registernummer 028-044; abrufbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-044.html), für die Diagnose einer Rechenstörung die vorgenannte Leitlinie, soweit sie dazu Regelungen enthält, und im Übrigen die Leitlinien der DGSPJ vom 25.06.2004, Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (AWMF-Registernummer 071/012).

a) Bisher war die Kammer im Hinblick auf die zum jeweiligen Beurteilungszeitpunkt einschlägigen Leitlinien von Folgendem ausgegangen (Urteil vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, Rn. 39 ff. m.w.N; weiterhin: Urteil vom 28.01.2015 - 2 A 1006/13 -, Rn. 44 ff.; jeweils juris):

„Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese-Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/ Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).

Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z. B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z. B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.

Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht Reuter-Liehr (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck (NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.

Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im wesentlichen drei Faktoren.

Zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang. Zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird (insoweit Urteil vom 26. Januar 2006).“

In der dritten überarbeiteten und erweiterten Auflage der Leitlinien der DGKJP zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (veröffentlicht im Deutschen Ärzte Verlag, Stand: 2007, S. 207 ff.) wurde die Frage des Verhältnisses zwischen Intelligenzleistung und Rechtschreib-/Lese- bzw. Rechenleistung neu bewertet. Zwar heißt es im Grundsatz, das Leistungsniveau im Lesen bzw. Schreiben sollte zur Stellung einer Diagnose zunächst den Grenzwert von Prozentrang ca. 10 nicht überschreiten, und ferner solle die Diskrepanz zwischen Rechtschreib- bzw. Leseleistung und Intelligenz eine Standardabweichung von mind. 1,2 betragen. Neu war dort indes, dass bei extrem niedrigem oder extrem hohem IQ die Anwendung eines sogenannten Regressionsmodells empfohlen wurde (a.a.O., Abschnitt 2.5, S. 212 ff.; Urteil der Kammer vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 -, juris, Rn. 28 f.).

b) Die vorstehenden Grundsätze finden für den vorliegend ausschlaggebenden Beurteilungszeitpunkt (28.11.2016) für die Diagnose einer Rechenstörung weiterhin Anwendung. Denn insoweit ist keine relevante Änderung der Leitlinien erfolgt.

Die S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung der DGKJP (AWMF-Registernummer 028/046, Erstveröffentlichung 2/2018, abrufbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-046.html) findet im vorliegenden Fall keine Anwendung. Nach Auffassung der Kammer können nämlich für die Diagnostik nur solche Leitlinien maßgeblich sein, die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits veröffentlicht waren. Denn erst in diesem Zeitpunkt wird ein (neuer) Standard gesetzt. Da es sich bei den Diagnosemethoden und -kriterien um schwierige und umstrittene medizinische Fragen handelt, zu denen erst nach langen fachwissenschaftlichen Diskussionsprozessen Empfehlungen gegeben werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Leitlinien lediglich im Nachhinein einen (bereits zuvor allgemein anerkannten) Standard festschreiben. Da die im Jahr 2018 zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung veröffentlichte Leitlinie vorliegend keine Anwendung findet, muss die Kammer nicht entscheiden, ob sie sie in künftigen Fällen anwendet und daher für die Frage des Vorliegens einer Rechenstörung von der Verwendung des Intelligenzdiskrepanzkriteriums absieht.

c) Die unter a) genannten Grundsätze der Rechtsprechung der Kammer bedürfen allerdings für die Diagnose der Lese- und /oder Rechtschreibstörung in dem hier maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt insoweit der Modifikation, als sich durch die Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015 Änderungen ergeben.

Die Leitlinie Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung der DGKJP vom 23.04.2015 (a.a.O.) nimmt nicht mehr ausdrücklich auf das multiaxiale Klassifikationsschema Bezug, beruht jedoch weiterhin darauf (s.a. Schulte-Körne, Lese- und / oder Rechtschreibstörung – Symptomatik, Diagnostik und Behandlung, Monatszeitschrift Kinderheilkunde vom 10.05.2017, S. 2). Neu ist allerdings, dass nunmehr empfohlen wird, auf das Kriterium der Diskrepanz in dem Bereich Alternsnorm oder Klassennorm oder Intelligenz zurückzugreifen, weil in den meisten der ausgewerteten Studien insoweit keine relevanten Unterschiede festgestellt wurden (a.a.O., S. 5 f., 24 ff.; dort auch zu Sondervoten). In den früheren Leitlinien (DGSPJ: „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ vom 25.06.2004, AWMF-Registernummer 071/012; DGKJP: „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ als Teil der „Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kinder- und Jugendalter, 2. Aufl. 2003 und 3. Aufl. 2007) wurden demgegenüber alle Bereiche kumulativ betrachtet; jedenfalls musste immer eine deutliche Diskrepanz zum allgemeinen Intelligenzniveau des Kindes bestehen.

Nach der aktuellen Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015 (a.a.O., S. 24) sollte das Vorliegen einer Lese-Rechtschreibstörung, einer isolierten Rechtschreibstörung oder einer isolierten Lesestörung dann festgestellt werden, wenn die Leseleistung und / oder Rechtschreibleistung deutlich unter dem Niveau liegt, das aufgrund der Altersnorm oder der Klassennorm oder der Intelligenz zu erwarten ist, und die Bewältigung der Alltagsanforderungen beeinträchtigt oder gefährdet ist. Die Diskrepanz sollte anderthalb Standardabweichungen (1,5 SD) betragen und die Leistung in den einzelnen Lernbereichen sollte mindestens unterhalb des Durchschnittsbereichs (mindestens 1 SD Abweichung von Mittelwert) liegen. Wenn die Lese- und / oder Rechtschreibschwierigkeiten durch Evidenz aus der klinischen Untersuchung und den Ergebnissen der psychometrischen Verfahren belegt werden, kann ein weniger strenger Grenzwert herangezogen werden (ab 1,0 SD unter dem Durchschnitt der Klassennorm, der Altersnorm oder dem aufgrund der Intelligenz zu erwartenden Leistungsniveau im Lesen und/oder Rechtschreiben). Außerdem soll die Diagnostik neben der Anwendung psychometrischer Leistungstests auch die klinische Untersuchung einbeziehen (a.a.O., S. 5 f.).

d) Bei einem durchschnittlichen IQ von 100 entsprechen ein T-Wert und ein Prozentrang von 50 dem Durchschnitt. Eine Standardabweichung davon liegt bei einem IQ von 85, einem T-Wert von 40 (Bühner/Ziegler, Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler, 2. Aufl. 2017, S. 80) und einem Prozentrang von 16. Eine Leistung ist im Vergleich zur Klassennorm bzw. Altersnorm oder Intelligenz unterdurchschnittlich, wenn sie in Höhe von mindestens einer Standardabweichung liegt, d.h. Prozentrang < 16 bzw. T-Wert < 40 (Schulte-Körne, a.a.O.). Eine 1,5-fache Standardabweichung bedeutet einen Prozentrang von <= 7 und einen T-Wert von <= 35 (vgl. S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung der DGKJP von 2/2018, a.a.O., S. 6, 21).

e) Soweit die Fachstelle Diagnostik in ihrer im Gerichtsverfahren abgegebenen Stellungnahme vom 20.04.2019 ausführt, nach den Diagnosekriterien des ICD-10, die den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin übergeordnet seien, liege eine Legasthenie und / oder Dyskalkulie dann vor, wenn das Testergebnis eines standardisierten Verfahrens im Lesen, Schreiben und Rechnen mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus liege, das auf Grund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten sei, hält die Kammer diese Maßstäbe für nicht entscheidend. Die Klassifikation nach ICD-10 enthält diese Voraussetzungen nicht, sondern setzt bei umschriebenen Störungen schulischer Fertigkeiten (F81) lediglich voraus, dass sie nicht Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen sind und nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen sind. Das von der Fachstelle Diagnostik des JSN benannte sog. doppelte Diskrepanzkriterium - Leistung eines Kindes im Lesen / Schreiben / Rechnen mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus, das auf Grund des chronologischen Alters und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre - wurde vielmehr von der Wissenschaft und Praxis für die Erstellung von Diagnosen nach ICD-10 entwickelt (Dilling u.a., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis, 6. Aufl. 2016, S. 6, 10 f., 25, 187 ff.; vgl. auch die genannten Leitlinien der DGKJP und DGSPJ).

Abgesehen davon hat die bei der Fachstelle Diagnostik des JSN tätige Ärztin Dr. Q. in der mündlichen Verhandlung bekundet, auch in der eigenen Diagnostik keine Standardabweichung von 2,0 zu fordern. Sie setze vielmehr (mit den Leitlinien) grundsätzlich eine Standardabweichung von 1,5 voraus und nehme, soweit der klinische Eindruck dies rechtfertige, eine Minderung der Standardabweichung auf 1,0 vor. Eine Standardabweichung von weniger als 2,0 vorauszusetzen hält die Kammer für überzeugend, denn anderenfalls könnten die entsprechenden Diagnosen kaum noch vergeben werden.

Auch die Aktualität und fortlaufende Überarbeitung der in den Leitlinien genannten Kriterien spricht dafür, sie denjenigen vorzuziehen, die zur ICD-10 entwickelt wurden.

2. Gemessen an diesen Grundsätzen litt die Klägerin im November 2016 weder an einer Lese- und Rechtschreibstörung (ICD-10: F81.0) noch an einer isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) oder einer Rechenstörung (F81.2).

Die Stellungnahme der Fachstelle Diagnostik vom 25.10.2016 nennt zwar nicht die einschlägigen Leitlinien, hält ihre Vorgaben jedoch im Ergebnis ein.

Die Klägerin hat laut HAWIK-IV-Test vom 27.02.2015 einen Gesamt-IQ von 85. Dieser Wert ist (gerade noch) durchschnittlich (Meyer, in Münder u.a., Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 35a Rn. 24; ab 84 abwärts: unterdurchschnittlich). Damit liegt keine Intelligenzminderung (IQ < 70) vor, die eine geistige Behinderung darstellt (Meyer, a.a.O.) und gemäß Nr. F81 ICD-10 die Diagnose einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten ausschließen würde. Ebenfalls liegt kein extrem niedriger IQ vor, bei dem das Regressionsmodell den klinischen Befund besser abbilden kann als das IQ-Diskrepanzmodell.

a) In den Bereichen Rechtschreibung und Lesen ist das Kriterium der Diskrepanz weder in Bezug auf die Alters-/ Klassennorm noch in Bezug auf die allgemeine Intelligenz der Klägerin erfüllt.

In dem von der Fachstelle Diagnostik am 13.10.2016 angewendeten Rechtschreibtest „Hamburger Schreib-Probe“ (HSP 3) erzielte die Klägerin einen Prozentrang von 38 und einen T-Wert von 47. Im Lesen erreichte sie am gleichen Tag im „Salzburger Lese-Screening“ (SLS 1-4) einen T-Wert von 50 und im „Salzburger Lesetest“ (SLRT-II), Teilbereich Wortlesen, einen Prozentrang von 55 und einen T-Wert von 52. All diese Werte weichen weniger als eine Standardabweichung vom Alters-/Klassennormdurchschnitt ab. Zugleich liegen sie oberhalb dessen, was auf Grund der allgemeinen Intelligenz der Klägerin zu erwarten wäre, nämlich ein T-Wert von 40 und ein Prozentrang von 16.

Der Test SLS 1-4 ist zwar nicht in die Liste der empfohlenen Testverfahren aufgenommen, gehört jedoch gemäß der Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015 (a.a.O., S. 29 und Evidenztabelle 2) zu den „weiteren Testverfahren“, die ergänzend eingesetzt werden können. Da vorliegend auch der Test SLRT-II zur Anwendung kam, ist die Anwendung des Tests SLS 1-4 nach Auffassung der Kammer gerechtfertigt.

Zu keiner anderen Bewertung der Lese- und Rechtschreibleistung der Klägerin führt es, dass sie in den am 29.01.2016 bei Frau Dr. O. -P. durchgeführten Testungen niedrigere Werte erzielte („Weingartener Grundwortschatz Rechtschreib-Test“, WRT 2 +: Prozentrang von 6,9; T-Wert von 35; SLRT-II: Prozentrang von 30-32 und T-Wert von 45 im Teilbereich Wortlesen, Prozentrang von 14 und T-Wert von 39 im Teilbereich Pseudowortlesen). Denn möglicherweise hat die Klägerin in der Zwischenzeit Fortschritte gemacht oder ihre Tagesform hat die damaligen Ergebnisse beeinflusst.

Den Testergebnissen vom 13.10.2016 kommt aber nicht nur deshalb eine höhere Aussagekraft zu, weil sie aktueller sind, sondern auch deshalb, weil sie mit den Zeugnissen der Klägerin in Einklang stehen. Sowohl im Halbjahres- als auch im Abschlusszeugnis der 3. Klasse wurden ihre Leistungen im Fach Deutsch mit der Note 2 (gut) bewertet – wie im Sach-, Religions-, Kunstunterricht und im textilen Gestalten. Nur in den Fächern Musik (erstes Halbjahr) und Sport erzielte sie bessere Ergebnisse.

Die in den Leitlinien DGKJPvom 23.04.2015 (a.a.O., S. 5) geforderte klinische Untersuchung – d.h. die ganzheitliche Betrachtung des Entwicklungsverlaufs, der Familien- und Schulsituation sowie die Auswirkungen der Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung, die schulische Integration, die gesellschaftliche Eingliederung und die Familie – führt die Fachstelle Diagnostik nach ihren eigenen und für die Kammer nachvollziehbaren und unbestrittenen Angaben standardmäßig durch.

b) Im Bereich Rechnen ist ebenfalls das Kriterium der Diskrepanz weder in Bezug auf die Alters-/ Klassennorm noch in Bezug auf die allgemeine Intelligenz der Klägerin erfüllt.

In dem von der Fachstelle Diagnostik am 13.10.2016 durchgeführten Test „Rechenfertigkeiten- und Zahlenverarbeitungs-Diagnostikum“ (RZD 2-6) erlangte die Klägerin im Abschnitt „Power“ (korrekte Antworten) einen Prozentrang von 7 und einen T-Wert von 35; im Bereich „Speed“ (Zeitwert) einen Prozentrang von 38 und einen T-Wert von 47. Unter dem 01.03.2016 erzielte sie bei Frau Dr. O. -P. im Test ZAREKI-R einen Prozentrang von 17 und einen T-Wert von 40-41; im Test HRT 1-4 einen Prozentrang von 27 und einen T-Wert von 44.

Damit lagen (nur) die Ergebnisse der Komponente „Power“ des Tests RZD 2-6 unterhalb des auf Grund der allgemeinen individuellen Intelligenz der Klägerin zu erwartenden Niveaus. Die Intelligenzdiskrepanz beim T-Wert liegt jedoch bei weniger als 12 Punkten (erreicht: 35; bei IQ von 85 zu erwarten: 40) und weniger als einer Standardabweichung. Auch die Schulnote der Klägerin im Fach Mathematik fiel in der 3. Klasse mit der Note 4 (ausreichend) im Vergleich zu den anderen Fächern mindestens zwei Notenstufen schlechter aus. Damit sah allerdings auch die Schule ihre Leistungen nicht als mangelhaft oder ungenügend an. Sowohl bei Auswertung der Testungen als auch der Zeugnisse sieht die Kammer das Intelligenzdiskrepanzkriterium daher als nicht erfüllt an.

Auch in Bezug auf die Alters-/ Klassennorm ist das Diskrepanzkriterium nicht erfüllt, weil die dafür erforderliche Abweichung von 1,5 Standardabweichungen nur in einer Komponente eines einzelnen Tests (RZD 2-6, Teilbereich „Power“) erfüllt ist. Die Ärztin der Fachstelle Diagnostik Frau Dr. Q. hat in der mündlichen Verhandlung plausibel erläutert, dass der niedrige Wert in der Komponente „Power“ durch die Ergebnisse in den Bereichen Addition und Subtraktion hervorgerufen wurde. In solchen Fällen eines einzelnen, schlechten Testergebnisses betrachtet die Fachstelle Diagnostik das Gesamtbild. Dazu werden auch die übrigen Testergebnisse und die Zeugnisse herangezogen. Diese ergeben vorliegend – wie ausgeführt – ein positiveres Bild.

Nach Auffassung der Kammer sind jedenfalls die Ergebnisse der Tests RZD 2-6 und ZAREKI-R vorliegend auswertbar. Zwar gingen sämtliche der im Fall der Klägerin verwendete Testverfahren (RZD 2-6, ZAREKI-R, HRT 1-4) in der Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015 (a.a.O., S. 69) nicht in die starke Leitlinienempfehlung der für die Testung einer Rechenstörung als Komorbidität zur Lese- und / oder Rechtschreibstörung anzuwendenden Verfahren ein. Obwohl sie bestimmte Anforderungen nicht erfüllen, gehören die Tests RZD 2-6 und ZAREKI-R jedoch zu den standardisierten Testverfahren, die trotzdem eingesetzt werden „sollten“ (Leitlinie der DGKJP vom 23.04.2015, a.a.O., S. 69, 23, Evidenztabelle 6).

II. Die Entscheidung selbstständig tragend steht der Klägerin der begehrte Erstattungsanspruch auch deshalb nicht zu, weil es an einer sekundären seelischen Störung und einer Teilhabegefährdung fehlt.

Eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung oder eine Rechenstörung stellt als solche keine seelische Störung dar; vielmehr muss infolge der Entwicklungsstörung eine sekundäre seelische Störung eingetreten sein (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.03.2007 - 7 E 10212/07 -, Rn. 7; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.02.2015 - 12 B 1493/14 -, Rn. 7; jeweils juris; Fischer, in: Schellhorn u.a., SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 35a Rn. 11 m.w.N.; s.a. Urteil der Kammer vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 -, juris, Rn. 34 f.).

Diese muss nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sein, dass sie die Fähigkeit des Kindes oder Jugendlichen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (vgl. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass nicht zu beanstanden ist, wenn bei bloßen Schulproblemen und Schulängsten, die andere Kinder teilen, eine seelische Behinderung verneint, bei einer auf Schulversagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule eine seelische Behinderung aber bejaht wird (BVerwG, Urteil vom 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487 ff., Rn. 15; Nds. OVG, Beschluss vom 04.02.2009 - 4 LC 514/07 -, Rn. 34, m.w.N. im Nachgang zum Urteil der Kammer vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, Rn. 48; jeweils juris). Erforderlich ist also, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Kindes vorliegt oder eine solche droht. Daraus folgt, dass bei Schulproblemen, wie sie auch viele andere Kinder haben, z. B. bei Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine Teilhabegefährdung oder gar Beeinträchtigung noch nicht anzunehmen ist. Es verbietet sich demnach, jegliche Beeinträchtigung im Rahmen des Schulbesuchs, die aufgrund der Legasthenie-/ Dyskalkulieerkrankung eintritt, schon als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu definieren. Nur eine solche Sichtweise ist auch interessengerecht, da es primär die Aufgabe der Schule ist, eine Lese- oder Rechtschreibschwäche durch geeignete Maßnahmen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern. Es ist daher angezeigt, den Nachweis weit mehr als üblicher schulischer Probleme im Falle mangelhafter Lese-/Rechtschreib-/Rechenleistungen zu fordern, bevor ein Anspruch auf Eingliederungshilfe entstehen kann (Urteil der Kammer vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 -, juris, Rn. 31).

Die im Verwaltungsverfahren eingeholten Schulberichte, Elternfragebögen und Selbsteinschätzungen zeigen zwar gewisse somatische Beschwerden und Ängste der Klägerin auf. Von einer auf Schulversagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder einem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule kann indes keine Rede sein.

Die Eltern gaben am 13.02.2016 an, die Klägerin leide derzeit unter Bauch- und Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Antriebsarmut, Schlafstörungen und Einnässen. Sie ginge häufig nicht gerne zur Schule, besonders an dem Tag des Mathematik-Förderunterrichts, und versuche mit „Bauchschmerzen und Übelkeit“ zu Hause bleiben zu dürfen. Auch vor Klassenarbeiten zeige sie diese Auffälligkeiten. Im Klassenverband fühle sie sich wohl und habe dort Freunde und Freundinnen. Insgesamt habe sie vier Freunde und Freundinnen. Das Verhältnis zu einigen Mitschülern sei gestört, weil sie meine, diese würden bevorteilt. Sie mache sich Sorgen, den Lernstoff nicht zu schaffen. Zudem vergleiche sie sich ständig mit ihren Mitschülern und sei dann über die eigenen Leistungen traurig. Aus Sicht der Eltern habe sie große Probleme, sich im Zahlenraum bis 20 zu bewegen, erhalte deshalb Nachhilfe in Mathe und brauche ständige Hilfe bei den Hausaufgaben. Wenn ihr die Hausaufgaben nicht schnell gelängen, werde sie aggressiv. In der Freizeit versuche sie, sich zurückzuziehen, nehme allerdings an einer „Rope Skipping“ (Seilspringen) -Gruppe teil. Im Umgang mit anderen Kindern wolle sie ständig die „Bestimmerin“ sein. Sie sei überwiegend unbeherrscht und nervös, leicht reizbar sowie traurig und bedrückt.

In den Schulzeugnissen wird die Klägerin hingegen als hilfsbereites Kind, das gern Aufgaben innerhalb der Klassengemeinschaft übernehme, beschrieben; im Halbjahreszeugnis der 3. Klasse auch als freundlich und aufgeschlossen. Sie habe in der 3. Klasse nur wenige Unterrichtstage – entschuldigt – versäumt. Ihr Sozialverhalten habe von der ersten Klasse an den Erwartungen entsprochen, bis zum ersten Halbjahr der 3. Klasse sogar „in vollem Umfang“.

Nach dem Schulbericht vom 16.03.2016 hole sich die Klägerin in keinem Fach Hilfe, wenn sie etwas nicht verstehe, und es sei ihr sehr unangenehm, wenn Mitschüler merkten, dass sie Unterstützung von der Lehrkraft erhalte. Im Mündlichen sei sie um eine gute Mitarbeit bemüht. Sie wolle alles richtigmachen und setze sich selbst stark unter Druck. Sie habe feste Spiel- und Lernkameraden, nehme aber schwer Kontakt zu anderen Kindern auf. Irritationen ihrer Mitschüler, wenn sie noch auf Fragen antworte, die im Gesprächsverlauf schon längst beantwortet seien, bemerke sie. Bei Gruppenarbeiten sei sie eher passiv als aktiv, stelle aber die Ergebnisse vor, da diese richtig sein müssten. Im Sozialverhalten sei sie eher zurückhaltend und unsicher, wolle allen gefallen und passe sich Lerngruppen schnell an. Sie arbeite gern mit leistungsstarken Kindern zusammen. In die Klassengemeinschaft, die sehr „sozial“ eingestellt sei, sei sie integriert. Sie nehme aber wahr, dass sie nicht die „erste Wahl“ für Gruppen- oder Projektarbeiten sei.

Im Gespräch bei der Fachstelle Diagnostik des JSN berichtete die Klägerin anfänglich, dass sie sich für ihre Lernprobleme vor ihren Mitschülern schäme, im Förderunterricht weine und nicht so viele Freunde habe, weil sie in Mathe nicht so gut sei. Auch beim „Rope Skipping“ und bei der Kindergruppe der Feuerwehr habe sie wegen der Matheschwäche wenige Freunde. Freude machten ihr die Wettkämpfe des „Rope Skippings“, Klassenfahren und Übernachtungen bei Freundinnen. In dem angewendeten Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Schülern dritter und vierter Klassen (FEESS 3-4) wertete sie ihre Klassenintegration, das Klassenklima und ihre Leistungsfähigkeit gemäß dem Bericht des JSN als gut durchschnittlich und gab damit deutlich positivere Antworten als zu Beginn des Gesprächs.

Demnach hatte die Klägerin wie andere Kinder zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses gewisse mit dem Schulbesuch verbundene soziale Schwierigkeiten. Diese waren jedoch nicht so intensiv, dass ihre Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war.

Es begegnet keinen Bedenken, dass der Beklagte bei der Frage der Teilhabegefährdung lediglich die Ausführungen der Fachstelle Diagnostik des JSN wiederholt bzw. sich zu eigen gemacht hat.

Die zweite Voraussetzung für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII - Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft - ist von den Fachkräften des Jugendamtes selbst zu prüfen und festzustellen. Sie haben also aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds des betroffenen Kindes oder Jugendlichen und ihres sozialpädagogischen und gegebenenfalls psychologischen Sachverstands zu beurteilen, wie sich die Funktionsbeeinträchtigung im Hinblick auf die Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft auswirkt, ohne dass insoweit eine fachärztliche oder psychotherapeutische Stellungnahme erforderlich ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine fachärztliche Stellungnahme für die Beurteilung der Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für das Jugendamt und im gerichtlichen Verfahren unerheblich wäre. Der fachärztlichen Stellungnahme kann auch insoweit eine sowohl vom Jugendamt als auch vom Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung zu berücksichtigende beachtliche Aussagekraft zukommen, wenn sie neben den Aussagen zu dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII auch gut nachvollziehbare und überzeugende Ausführungen zu der Frage, ob eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegt oder zu erwarten ist, enthält (Nds. OVG, Beschluss vom 04.02.2009 - 4 LC 514/07 -, Rn. 45; vom 27.09.2018 - 10 ME 357/18 -, Rn. 5; jeweils juris). Letzteres ist hier der Fall. Andere fachärztliche Stellungnahmen liegen nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.