Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.11.2019, Az.: 2 A 206/17
Behinderung, seelische; Dyskalkulie; Eilfall; Legasthenie; Selbstbeschaffung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 28.11.2019
- Aktenzeichen
- 2 A 206/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 69547
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 4 SGB 9
- § 35a SGB 8
- § 36 a Abs 3 SGB 8
Tatbestand:
Der 2007 geborene Kläger begehrt von der Beklagten Ersatz von Aufwendungen für eine Dyskalkulietherapie.
Der Kläger befindet sich seit November 2013 in ambulanter kinderpsychiatrischer Behandlung am Zentrum Psychosoziale Medizin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen. Zunächst wurde bei ihm eine Aufmerksamkeitsstörung (Hyperkinese) diagnostiziert. Ihm wurde das Medikament Strattera verordnet. Gleichzeitig erhielt er Ergo- und Logopädietherapie. Die Klinik führte mit dem Kläger im November 2015 einen Intelligenztest durch. Dabei bildete sie aufgrund der großen Differenzen in den Untertests keinen Gesamtintelligenzquotienten, sondern berechnete einen allgemeinen Fähigkeiten-Index. Dieser ergab einen T-Wert von 49. Unter Einbeziehung der am schlechtesten ausgefallenen zwei Untertests für Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit war der T-Wert 39. Im Januar 2016 führte die Klinik beim Kläger einen Lese- sowie einen Rechtschreibtest, im Februar 2016 den Rechentest DEMAT 1+ durch. Der Kläger, der zu diesem Zeitpunkt erstmals die zweite Klasse besuchte, erreichte in dem Rechentest einen T-Wert von 33. Die Klinik verfasste daraufhin unter dem 4. April 2016 eine kinder- und jugendpsychiatrische Stellungnahme zur Vorlage bei der Schule. Danach bestehe bei dem Kläger sowohl eine Lese- Rechtschreibstörung sowie eine Dyskalkulie als umschriebene Entwicklungsstörung (ICD 10: F 83). Zudem bestehe eine hyperkinetische Störung (ICD 10: F 90.0).
Mit Antrag vom 3. Mai 2016, bei der Beklagten am 7. Juni 2016 eingegangen, beantragten die Erziehungsberechtigten des Klägers ambulante Eingliederungshilfe bei Legasthenie und Dyskalkulie für ihren Sohn.
Seit dem 10. Juni 2016 erhält der Kläger bei dem Therapeuten F. G. Dyskalkulietherapie; die Therapie wurde bis zum 1. August 2018 fortgesetzt.
Am 4. Juli 2016 (Datum des Eingangs) übersandte die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ihre bisherigen Befunde an die Beklagte. Am 14. Juli 2016 beauftragte die Beklagte die Gemeinsame Fachstelle Diagnostik der Städte Göttingen und Einbeck, sowie der Landkreise Osterode am Harz, Northeim und Göttingen – im Folgenden JSN - mit der Diagnostik, ob die Voraussetzungen für eine Legasthenie- und Dyskalkulietherapie vorliegen. Diese Diagnostik führte die JSN am 1. und 8. November 2016 durch. Zu diesem Zeitpunkt wiederholte der Kläger die 2. Klasse. Die JSN wandte für die Feststellung, ob eine Teilleistungsstörung im Sinne einer Dyskalkulie bei dem Kläger vorliegt, den Rechentest DEMAT 1+ an. Zusätzlich setzte sie teilweise den Test RZD 2-6 ein. Sie gelangte zu einem T-Wert von 45, einer durchschnittlichen Leistung. Unter Berücksichtigung des Testes RZD 2-6 bezeichnete die JSN in ihrer Stellungnahme an die Beklagte vom 16. November 2016 die Defizite des Klägers als noch normal. Nach der vorgenommenen Diagnostik liege weder eine Legasthenie noch eine Dyskalkulie vor. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen den Schulproblemen des Klägers, seinen sozialen Defiziten und der Teilleistungsbeeinträchtigung. Ursache hierfür dürfte nach Auffassung der JSN vielmehr die hyperkinetische Störung beim Kläger sein.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2017 lehnte die Beklagte daraufhin die Anträge auf Bewilligung von Eingliederungshilfe bei einer Legasthenie und Dyskalkulie ab. Zur Begründung bezog sie sich auf die Stellungnahme der JSN.
Hiergegen hat der Kläger am 17. Februar 2017 Klage erhoben.
Mit der Klage begehrt der Kläger die Erstattung von Aufwendungen, die er, bzw. seine Eltern, für die Durchführung einer Dyskalkulietherapie beim Therapeuten F. G. gehabt haben. Bei diesem nahm der Kläger in der Zeit vom 10. Juni 2016 bis zum 12. Februar 2018 zweiundfünfzig Therapiestunden und bezahlte hierfür ausweislich der in mündlicher Verhandlung vorgelegten Bescheinigung 2.600,00 Euro. Weitere Aufwendungen bis zum Ende der Therapie am 1. August 2018 sind nicht nachgewiesen.
Klagebegründend trägt der Kläger vor, die JSN habe eine falsche Vergleichsgruppe bei der Durchführung des Mathematiktestes gewählt. Er habe eigentlich 2013 eingeschult werden müssen, weshalb er im Zeitpunkt der Testung eigentlich der Vergleichsgruppe der 3. bis 4. Klasse und nicht der 1. bis 2. Klasse zuzuordnen gewesen sei. Jedenfalls sei nicht der Test DEMAT 1+, sondern der Test DEMAT 2+ auf ihn anzuwenden gewesen. Wäre der richtige Test angewendet worden, hätte sich bei ihm eine Dyskalkulie diagnostizieren lassen. Dass eine solche vorliege, sei auch Auffassung der Schule und seines Dyskalkulietherapeuten.
Im Übrigen macht er sich die Argumentation der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu eigen, wonach die Beklagte gegen § 14 SGB IX verstoßen habe. Hätte die Beklagte, wie es gesetzlich geboten gewesen wäre, seinen Antrag zügig bearbeitet, hätte sie den Test DEMAT 2+ anwenden müssen. Hätte er diesen Test bearbeiten müssen, wäre eine Dyskalkulie festgestellt worden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. Januar 2017 zu verurteilen, dem Kläger Kosten für die in der Zeit vom 10. Juni 2016 bis 1. August 2018 durchgeführte Dyskalkulietherapie in Höhe von insgesamt 3.400,00 Euro zu zahlen,
hilfsweise,
ein Sachverständigengutachten zu der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII einzuholen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage anzuweisen.
Sie ist der Auffassung, den richtigen Test verwendet zu haben. Dieser habe sich am Klassenbezug zu orientieren. Im November 2016, dem Zeitpunkt der Testung des Klägers bei der JSN, habe dieser sich noch zu Beginn der 2. Klasse befunden. Dass er Klassenwiederholer gewesen sei, sei unerheblich. Folglich habe der Test DEMAT 1+ angewendet werden müssen. Um die primären Rechenfertigkeiten des Klägers zu überprüfen, sei zusätzlich der Test RZD 2-6 in den Bereichen angewendet worden, die für die zweite Klassenstufe Geltung beanspruchen. Auch unter Berücksichtigung dieser Tests liege eine Dyskalkulie beim Kläger nicht vor. Die vorhandenen Schwächen des Klägers seien durch ein generell verlangsamtes Arbeitstempo verursacht. Eine Verbindung zwischen seinen Lese- Rechtschreibschwächen und der Dyskalkulieproblematik einerseits sowie einer durchaus vorhandenen Teilhabegefährdung andererseits bestehe nicht.
Schließlich stehe dem Anspruch § 36 a Abs. 3 SGB VIII entgegen. Der Kläger habe seinen Antrag erst am 7. Juni 2016 gestellt, Dyskalkulietherapie jedoch bereits seit 10. Juni 2016 in Anspruch genommen. Sinngemäß macht die Beklagte damit geltend, der Kläger habe ihr unter keinem Gesichtspunkt Zeit gelassen über seinen Antrag zu entscheiden, bevor er die Leistung selbst in Anspruch genommen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere der zahlreichen im Verfahren eingeholten Stellungnahmen der JSN sowie der Gegenstellungnahmen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Januar 2017 ist rechtmäßig und der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung von Kosten für eine von ihm durchgeführte Dyskalkulietherapie nicht (§ 113 Abs. 1 i.V.m. 4 VwGO).
Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Zahlungsanspruch vermag allein § 36 a Abs. 3 SGB VIII zu sein. Danach ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe dann, wenn Hilfen abweichend von den Absätzen 1 und 2 der Vorschrift vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn
1. der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat,
2. die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und
3. die Deckung des Bedarfs
a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder
b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung
keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
Weder die Voraussetzungen der Nr. 2 noch diejenigen der Nr. 3 dieser Vorschrift liegen vor.
Der Kläger hat seinen Antrag auf Bewilligung von Eingliederungshilfe für eine Dyskalkulietherapie bei der Beklagten am 7. Juni 2016 gestellt. Mit dieser Therapie hat er eigenständig am 10. Juni 2016 begonnen. Mithin hat der Kläger den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über seinen Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt, so dass die Voraussetzungen des § 36 a Abs. 3 Nr. 1 SBG VIII vorliegen.
Die Tatbestandvoraussetzungen des § 36 a Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII sind hingegen nicht erfüllt.
Nach § 36 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe in den Fällen, in denen Hilfen vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und weitere Anforderungen erfüllt sind. Die Voraussetzungen der für die Übernahme der Kosten für eine Dyskalkulietherapie allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 35 a Abs. 1 SGB VIII lagen im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung am 20. Januar 2017 im Ergebnis nicht vor. Dieser Zeitpunkt ist maßgeblich, weil die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid nicht etwa für unbestimmte Zeit künftige Jugendhilfeleistungen ablehnte. Sie konnte als Jugendhilfeträger vielmehr nur eine Entscheidung nach Maßgabe der im Zeitpunkt ihrer Entscheidung bekannten leistungsrelevanten Umstände treffen. Sofern sich nach Bescheiderlass Veränderungen in den Leistungs- oder Sozialverhältnissen des Klägers ergeben hätten, müssten sie in einem neuen Antragsverfahren gegenüber dem Jugendhilfeträger geltend gemacht werden (st. Rspr der Kammer, vgl. nur Urteil vom 22.01.2019 - 2 A 221/17 - n.v.; vom 28.01.2015 - 2 A 1006/13-, juris, Rn. 27; BVerwG, Urteil vom 08.06.1995 - 5 C 30.93 -, FEVS 46, 94 = juris, Rn. 11).
Gemäß § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Satz 2).
Gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe nach dem Bedarf im Einzelfall unter anderem in ambulanter Form geleistet. Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen richten sich gemäß Abs. 3 der Bestimmung nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1, den §§ 54, 56 und 57 SGB XII, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden.
Tatbestandliche Voraussetzung der Gewährung von Eingliederungshilfe sind danach zwei Elemente, die kumulativ vorliegen müssen, zum einen die Abweichung von der alterstypischen seelischen Gesundheit (seelische Störung), zum anderen die dadurch kausal verursachte (bereits eingetretene oder zu erwartende) Teilhabebeeinträchtigung. Dem Jugendamt kommt bei der Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe vorliegen, kein Beurteilungsspielraum zu; vielmehr unterliegt die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 35 a Abs. 1 SGB VIII der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.03.2007 - 7 E 10212/07 -, juris, Rn. 9; Fischer, in: Schellhorn u.a., SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 35a Rn. 21).
In dem hier relevanten Beurteilungszeitpunkt am 20. Januar 2017 wich die seelische Gesundheit des Klägers nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand ab.
Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen (§ 35 a Abs. 1a SGB VIII).
Gemäß § 35 a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII hat die Beurteilung, ob eine Abweichung der seelischen Gesundheit vorliegt, auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erfolgen. Allerdings enthalten die Klassifikationen nach ICD-10 keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der unter F81 genannten Entwicklungsstörungen. In ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil vom 04.06.2019 - 2 A 568/16 -; Beschluss vom 24.05.2017 - 2 B 323/17 -, n.v.; Urteil vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 - Rn. 28 f.; grundlegend Urteil der Kammer vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, Rn. 39 ff. m.w.N., bestätigt durch Beschluss des Nds. OVG vom 04.02.2009 - 4 LC 514/07 -; jeweils juris) vertritt das Gericht deshalb die Auffassung, dass die fachlichen Standards für die Diagnose einer Dyskalkulie (wie auch einer Legasthenie) den zum jeweiligen Beurteilungszeitpunkt geltenden Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) bzw. der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) zu entsprechen haben.
Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses im Januar 2017 waren dies für die Diagnose einer Dyskalkulie noch die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 3. Aufl. 2007 (hrsg. vom Deutschen Ärzte-Verlag).
Bisher war die Kammer im Hinblick auf die zum jeweiligen Beurteilungszeitpunkt einschlägigen Leitlinien von Folgendem ausgegangen (Urteil vom 22.02.2007 - 2 A 351/05 -, Rn. 39 ff. m.w.N; weiterhin: Urteil vom 28.01.2015 - 2 A 1006/13 -, Rn. 44 ff.; jeweils juris):
„Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese-Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/ Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).
Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z. B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z. B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.
Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht Reuter-Liehr (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck (NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.
Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im wesentlichen drei Faktoren.
Zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang. Zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird (insoweit Urteil vom 26. Januar 2006).“
In der dritten überarbeiteten und erweiterten Auflage der Leitlinien der DGKJP zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (veröffentlicht im Deutschen Ärzte-Verlag, Stand: 2007, S. 207 ff.) wurde die Frage des Verhältnisses zwischen Intelligenzleistung und Rechtschreib-/Lese- bzw. Rechenleistung neu bewertet. Zwar heißt es im Grundsatz, das Leistungsniveau im Lesen bzw. Schreiben sollte zur Stellung einer Diagnose zunächst den Grenzwert von Prozentrang ca. 10 nicht überschreiten, und ferner solle die Diskrepanz zwischen Rechtschreib- bzw. Leseleistung und Intelligenz eine Standardabweichung von mind. 1,2 betragen. Neu war dort indes, dass bei extrem niedrigem oder extrem hohem IQ die Anwendung eines sogenannten Regressionsmodells empfohlen wurde (a.a.O., Abschnitt 2.5, S. 212 ff.; Urteil der Kammer vom 10.07.2007 - 2 A 483/05 -, juris, Rn. 28 f.).
Die vorstehenden Grundsätze finden für den vorliegend ausschlaggebenden Beurteilungszeitpunkt (20.01.2017) für die Diagnose einer Rechenstörung weiterhin Anwendung. Denn insoweit ist keine relevante Änderung der Leitlinien erfolgt.
Die S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung der DGKJP (AWMF-Registernummer 028/046, Erstveröffentlichung 2/2018, abrufbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-046.html) findet im vorliegenden Fall keine Anwendung. Nach Auffassung der Kammer können nämlich für die Diagnostik nur solche Leitlinien maßgeblich sein, die zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses bereits veröffentlicht waren. Denn erst in diesem Zeitpunkt wird ein (neuer) Standard gesetzt. Da es sich bei den Diagnosemethoden und -kriterien um schwierige und umstrittene medizinische Fragen handelt, zu denen erst nach langen fachwissenschaftlichen Diskussionsprozessen Empfehlungen gegeben werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Leitlinien lediglich im Nachhinein einen (bereits zuvor allgemein anerkannten) Standard festschreiben. Da die im Jahr 2018 zur Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung veröffentlichte Leitlinie vorliegend keine Anwendung findet, muss die Kammer nicht entscheiden, ob sie sie in künftigen Fällen anwendet und daher für die Frage des Vorliegens einer Rechenstörung von der Verwendung des Intelligenzdiskrepanzkriteriums absieht.
In diesen Leitlinien heißt es für die Rechenstörung ferner, die grundsätzliche Diagnostik entspreche formal dem Vorgehen bei den Lese- und Rechtschreibstörungen (vgl. S. 216 der Leitlinien). Für diese wird ausgeführt (a.a.O. S. 212), das Leistungsniveau im Lesen bzw. Schreiben solle zur Stellung einer Diagnose zunächst den Grenzwert von Prozentrang ca. 10 nicht überschreiten, d.h., bezogen auf die Normgruppe des Testverfahrens ist die ermittelte individuelle Leistung eindeutig nicht alters- bzw. jahrgangsstufengemäß. Vergleichsgruppe ist somit die Alters- oder Jahrgangsstufe. Speziell für die Rechenstörung heißt es auf S. 216, spezifisch sei die Anwendung von standardisierten Rechentests. Diese seien je nach Klassenniveau des betroffenen Schülers auszuwählen. Hier wird mithin eindeutig auf das Klassenniveau abgestellt. Dies macht im vorliegenden Fall deshalb einen Unterschied, weil der Kläger ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt worden ist und weil er im Schuljahr 2016-2017 die 2. Klasse wiederholt hat. Bei „üblichem“ Schulverlauf wäre er somit im Zeitpunkt der Testung altersstufenmäßig in der 4. Klasse einzuordnen gewesen. Seine Klassenstufe war jedoch der Beginn der 2. Klasse. Für den Beginn der 2. Klasse, und hierzu zählt auch noch der November 2016, war der DEMAT 1+ Test anzuwenden. Dessen Anwendungsbereich sind das Ende der 1. und die ersten drei Monate der 2. Klasse (vgl. Stellungnahme der Klinik für Kinder- Jugendpsychiatrie vom 23. April 2018, Blatt 48 der Gerichtsakte). Eine Normierung für Schüler, die schon länger die 2. Klasse besuchen, existiert nicht. Der Test DEMAT 2+ ist nur für Schüler Ende der 2. Klasse normiert.
Bezogen auf die Klassenstufe hat die JSN damit den richtigen Diagnosetest angewendet. Bezogen auf die Altersstufe des Klägers indes nicht. Die Leitlinien sind in diesem Punkt nicht eindeutig. Auch spätere Versionen stellen alternativ auf die Jahrgangs- bzw. Klassenstufe ab. Aus dem Sinnzusammenhang ergibt sich für die Kammer jedoch, dass die Heranziehung des Testes für die relevante Klassenstufe wissenschaftlich nachvollziehbar und nicht zu beanstanden ist. Dies ergibt sich zum einen schon daraus, dass es keinen Sinn machen würde, leistungsbeeinträchtigte Kinder einem Test mit Aufgaben zu unterziehen, die sie schon deshalb nicht lösen können, weil sie die für ihr Alter maßgeblichen Lerninhalte tatsächlich infolge eines abweichenden Schulverlaufs noch gar nicht kennen können. Hinzu kommt, dass es Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII ist, die Eingliederung in die Lebensverhältnisse zu ermöglichen, in denen sich der Leistungsberechtigte befindet. Hierfür kann nicht eine fiktiv hypothetische Überlegung, in welcher sozialen Umgebung sich der Leistungsberechtigte entsprechend seiner Altersstufe befinden könnte, maßgeblich sein, sondern nur die tatsächliche Beschulung. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Kläger habe ja die 2. Klasse wiederholt und demgemäß gegenüber Erstbesuchern der Klasse einen Informationsvorsprung. Denn die Wiederholung der Klasse erfolgte ja gerade deshalb, weil sich der Kläger das Wissen der 2. Klasse – bisher – nicht angeeignet hatte.
Erscheint es damit vertretbar, dass die JSN den Rechentest DEMAT 1+ für den Kläger Anfang November 2016 angewendet hat, ist gegen den dabei festgestellten T-Wert nichts zu erinnern. Er ist zwar mit 45 deutlich höher als der für den Kläger von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Februar 2016 mit 33 festgestellte. Dies allein vermag die Richtigkeit der Testung im November 2016 jedoch nicht in Zweifel zu ziehen. Zu berücksichtigen ist nämlich einerseits, dass der Kläger den Unterrichtsstoff der 2. Klasse wiederholt und damit länger Zeit hatte, mathematische Fertigkeiten einzuüben, die auch für den Rechentest von Bedeutung sind. Zum anderen darf nicht aus dem Blick verloren werden, dass der Kläger seit dem 10. Juni 2016 eine Dyskalkulietherapie beim Therapeuten F. G. erhalten hat. Dieser selbst hat in seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2017 (Blatt 19 der Gerichtsakte) ausgeführt, der Kläger sei nach 20 Stunden Dyskalkulietherapie zunehmend konzentriert. Zudem hat die Beklagte ihr Ergebnis durch die (Teil-) Anwendung des Testes RZD 2-6 abgesichert.
Gemessen an diesen Grundsätzen litt der Kläger im November 2016 nicht an einer Rechenstörung (F81.2). Die T-Wert-Differenz beträgt nicht mehr als 1,2 Standardabweichungen. Dabei ist es rechtlich unerheblich, ob der beim Kläger anhand des Testes HAWIK IV festgestellte T-Wert 39 oder 49 betrug. Denn die T-Wert-Differenz zu der Teilleistung im Rechnen mit einem T-Wert von 45 beträgt unter keinem Gesichtspunkt mehr als die oben genannte Abweichung. Allerdings spricht viel für die Richtigkeit des Vorgehens der JSN, die hiermit, wie ihre in der mündlichen Verhandlung anwesende Vertreterin nachvollziehbar vorgetragen hat, die beim Kläger diagnostizierte Aufmerksamkeitsstörung, die in den unterdurchschnittlich ausgefallenen Teiltests des HAWIK IV zum Ausdruck kommt, in ihren Auswirkungen auf die Rechenleistung des Klägers mitberücksichtigt hat.
Etwas Anderes lässt sich auch nicht mit der auf die Aussagen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gestützten Argumentation des Klägers im Hinblick auf § 14 SGB IX vertreten. Soweit der Kläger damit argumentieren will, dass sich für ihn bei Beachtung der Vorgaben dieser Vorschrift ein Leistungsanspruch deshalb ergeben hätte, weil bei einer rechtzeitigen Testung der Test DEMAT 2+ mit einem höheren Anspruchsniveau hätte angewendet werden müssen, dem er nicht hätte gerecht werden können, kann das Gericht ihm nicht folgen. Dies setzt rein tatsächlich voraus, dass der Kläger bei rechtmäßigem Ablauf des Verfahrens am Ende der 2. Klasse hätte getestet werden müssen, mit der Folge, dass dann der DEMAT 2+ auf ihn anzuwenden gewesen wäre.
Gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellt der Rehabilitationsträger innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrages auf Leistungen zur Teilhabe fest, ob er zuständig ist. Satz 3 der Vorschrift regelt, dass der Antrag unverzüglich dem Rehabilitationsträger zugeleitet werden soll, der, für den Fall, dass für eine solche Leistungsfeststellung die Ursache der Behinderung geklärt werden muss, die Leistung ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung erbringt. Nach § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IX entscheidet der leistende Rehabilitationsträger innerhalb von 3 Wochen nach Antragseingang über den Antrag, wenn für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfes kein Gutachten eingeholt werden muss. Dies ist hier nicht der Fall, weil ein Gutachten erforderlich gewesen ist. Gemäß § 14 Abs. 2 S. 3 SGB IX wird die Entscheidung innerhalb von 2 Wochen nach Vorliegen des Gutachtens getroffen, wenn für die Feststellung des Rehabilitationsbedarfes ein solches erforderlich ist. Die Stellungnahme der JSN vom 16. November 2016 ist beim Fachamt der Beklagten aus nicht nachvollziehbaren Gründen erst am 27. Dezember 2016 eingegangen. Zwar wahrt der streitgegenständliche Bescheid vom 20. Januar 2017 die o.a. Frist damit nicht; jedoch lässt sich hieraus allein ein Anspruch auf Zahlung von Therapiestunden nicht ableiten. Dies wäre nur der Fall, wenn infolge des Verstoßes gegen § 14 SGB IX ein anspruchsvernichtender Geschehensablauf eingetreten wäre, der bei rechtmäßigem Verhalten nicht eingetreten wäre. Hierfür ist jedoch nicht die gemessen an den Vorgaben des § 14 SGB IX geringfügig verspätete Entscheidung der Beklagten ausreichend; möglicherweise aber der zwischen Antragstellung und Begutachtung des Klägers durch die JSN abgelaufene Zeitraum.
Unabhängig von der in der Literatur verneinten Frage, ob § 14 SGB IX auf Leistungen nach § 35 a SGB VIII überhaupt Anwendung findet (vgl. Werner in: Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, Loseblattsammlung, § 36 a Art. 1 KJHG Rn. 42; Schmid-Obkirchner in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. § 36 a Rn. 50 a), regelt § 14 Abs. 2 SGB IX gerade nicht die Frage, innerhalb welcher Zeit ein Gutachten einzuholen ist. Allerdings kann dem Gefüge der Vorschrift entnommen werden, dass Verzögerungen im Interesse des Leistungsberechtigten zu vermeiden sind. Die Annahme einer solchen Verzögerung liegt hier nicht fern, weil die Beklagte der JSN den Diagnoseauftrag bereits am 14. Juli 2016 erteilt hat, die Testung des Klägers jedoch erst Anfang November und damit fast 4 Monate später erfolgt ist.
Bedeutung kann eine solche Verzögerung rechtlich über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch bekommen. Dieser ist darauf gerichtet, in Fällen von Pflichtverletzungen eines Sozialleistungsträgers denjenigen Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zuständige Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsenden Pflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch greift ein, wenn ein Leistungsberechtigter in einem bestehenden oder angebahnten Sozialrechtsverhältnis, das auf einem Anspruch auf Sozialleistung beruht, durch die Verletzung sozialbehördlicher Pflichten einen Nachteil erlitten hat. Dabei kann es sich um Nebenpflichten handeln wie diejenigen zur Auskunft, Betreuung und Beratung oder zur verständnisvollen Förderung. Die Wertung gilt erst recht, wenn eine Hauptpflicht verletzt wird wie diejenige, über den an die Behörde herangetragenen Leistungsantrag eine rechtmäßige Entscheidung zu treffen (BVerwG, Urteil vom 30.06.2011 – 3 C 36/10 -, juris Rn. 15 und 18).
Selbst wenn man annehmen wollte, dass die Beklagte mit der Verzögerung der Begutachtung des Klägers eine sozialrechtliche Nebenpflicht verletzt hat, entsteht hierdurch ein Anspruch des Klägers auf Leistungsübernahme durch die Beklagte jedoch nicht.
Zum einen fehlt es schon an der Kausalität. Es steht nicht fest, dass beim Kläger eine Dyskalkulie diagnostiziert worden wäre, wenn für ihn der Rechentest DEMAT 2+ angewendet worden wäre. Eine solche Überlegung ist rein hypothetisch.
Zum anderen würde die Kausalität voraussetzen, dass bei rechtmäßigem Handeln der Beklagten nur eine Testung mit dem Test DEMAT 2+ möglich gewesen wäre. Dies wäre jedoch nur solange der Fall gewesen, wie der Kläger im Schuljahr 2015/2016 am Ende der 2. Klasse gewesen ist. Dies war in Folge des Beginns der Sommerferien 2016 in Niedersachsen am 23. Juni 2016 nur bis zu diesem Datum der Fall. Mit Beginn des neuen Schuljahres war für den Kläger, wie oben dargelegt, der DEMAT 1+ anzuwenden. Nur wenn die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, nach Antragseingang bei ihr am 7. Juni 2016 den Kläger bis zum 22. Juni 2016 einschließlich auf seine Dyskalkulie hin begutachten zu lassen, wäre überhaupt an einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu denken. In Anbetracht der komplexen Sachverhaltsfragen, die bei der Diagnose einer Dyskalkulie (ebenso wie bei der Legasthenie) zu klären sind, sieht die Kammer die Beklagte unter keinem denkbaren Gesichtspunkt verpflichtet, binnen 3 Wochen ein komplexes Gutachten über die Leistungsberechtigung nicht nur einzuholen, sondern auch noch erstellen zu lassen.
Selbst wenn § 14 SGB IX somit einschlägig wäre, könnte der Kläger hieraus für sich nichts herleiten. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 a Abs. 1 SGB VIII für die Gewährung einer Dyskalkulietherapie lagen somit nicht vor.
Unabhängig hiervon und selbstständig die Entscheidung tragend scheitert der klägerische Anspruch auch an § 36 a Abs. 3 Nr. 3 a SGB VIII. Denn zum Zeitpunkt des Beginns der Dyskalkulietherapie beim Therapeuten F. G. am 10. Juni 2016 duldete die Deckung des klägerischen Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung durchaus zeitlichen Aufschub. Ein Eilfall lag nicht vor.
Von einem Eilfall im Sinne dieser Vorschrift kann ausgegangen werden, wenn die Gewährung der Hilfe im Hinblick auf Art und Dringlichkeit des Hilfebedarfes in dem Sinne unaufschiebbar ist, dass die Leistung sofort und ohne die Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs erbracht werden muss. Fristen bis zu einer Entscheidung sieht § 36 a – anders § 14 SGB IX – nicht vor, sondern überlässt den zeitlichen Ablauf den Bedürfnissen des Einzelfalles. Bei komplexen Hilfebedarfen kann deshalb auch ein entsprechend längerer Zeitpunkt bis zur Entscheidung angemessen sein, wobei die in § 75 VwGO genannte Frist die äußerste Grenze markiert. Einzelne Meinungen betrachten für die Einholung eines Gutachtens nach § 35 a Abs. 2 SGB VIII und die weitere Prüfung der Leistungsvoraussetzungen in der Regel einen Zeitraum von einem halben Monat als angemessen (vgl. Schmid–Obkirchner, a.a.O. Rn. 49 und 50 a; Meysen in: Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 36 a Rn. 48 f.; Werner a.a.O., § 36 a Artikel 1 KJHG, Rn. 40 und 42). Das erscheint der Kammer in Anbetracht der komplexen Sachverhaltsermittlung sehr eng bemessen (vgl. die Ausführungen oben zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch). Eine Verpflichtung des Rehabilitationsträgers zu noch schnellerem Handeln besteht jedoch in Anbetracht der Komplexität des Hilfebedarfes bei der Dyskalkulie und der Schwierigkeiten der tatsächlichen Feststellungen auf keinen Fall. Zwischen Antragseingang und Therapiebeginn lagen hier nur drei Tage. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass innerhalb dieser Zeit über den Antrag des Klägers hätte entschieden werden müssen.
Dem klägerischen Hilfsbeweisantrag ist nicht nachzukommen.
Zum einen hat der Kläger Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Testergebnisse der JSN nicht gesät und sind solche für das Gericht auch nicht ersichtlich. Zu den unterschiedlichen Testergebnissen der Testung des Klägers bei der Kinderklinik einerseits und der JSN andererseits hat die Kammer oben ausgeführt. Eine Beweisfrage, die durch einen Sachverständigen geklärt werden könnte, ist somit nicht aufgeworfen worden.
Zum anderen ist ein solches Gutachten rechtlich unerheblich. Die Klage bleibt unabhängig vom Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen, zu denen ein Sachverständiger gehört werden soll, deshalb erfolglos, weil kein Eilfall im Sinne von § 36 a Abs. 3 Nr. 3 a SGB VIII vorliegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO in Verbindung mit 708 Nr. 11, 711 ZPO.