Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.12.2008, Az.: L 14 P 47/06
Antragstellung als Voraussetzung eines Leistungsanspruchs privat Pflegeversicherter
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 18.12.2008
- Aktenzeichen
- L 14 P 47/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 33574
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:1218.L14P47.06.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 30.05.2006 - AZ: S 9 P 74/03
Rechtsgrundlage
- § 6 Abs. 1 MB/PPV 1996
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 30. Mai 2006 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Sozialgericht (SG) die Beklagte zu Recht zur Gewährung von Pflegeleistungen für die Zeit von Juni 2004 bis 30. September 2005 verurteilt hat.
Der im Jahr 1940 geborene Kläger leidet unter einem Zustand nach Billroth II-Magenresektion, einem dementiellen Syndrom bei langjährigem Alkoholabusus sowie einem hirnorganischen Psychosyndrom. Er unterhält bei der Beklagten einen Pflegeversicherungsvertrag über Tarifleistungen in Höhe von 30%. Am 30. Mai 2002 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung von Pflegeleistungen. Im Auftrag der Beklagten erstattete der Arzt J. für die K. GmbH das Gutachten über den Kläger vom 5. Juli 2002. Er schätzte den täglichen Hilfebedarf für die Verrichtungen der Grundpflege auf 49 Minuten und der hauswirtschaftlichen Versorgung auf 45 Minuten ein und empfahl eine Nachbegutachtung in sechs Monaten. Mit Leistungszusage vom 19. August 2002 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen entsprechend der Pflegestufe I seit März 2002. Seit 12. Juni 2002 befindet sich der Kläger in dem Alten- und Pflegeheim Landhaus L ... Am 5. Februar 2003 erstattete der Arzt Dr. M. für die K. GmbH das Gutachten über den Kläger, worin er den täglichen Hilfebedarf für die Verrichtungen der Grundpflege auf 5 Minuten und denjenigen für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen auf 45 Minuten einschätzte. Mit Schreiben vom 19. Februar 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, zum 1. März 2003 werde sie die Gewährung der Pflegeleistungen einstellen. Der Kläger erhob dagegen Einwendungen unter Hinweis auf einen Pflegenachweis des Landhauses L., aus dem sich ein täglicher Hilfebedarf von fast 100 Minuten ergebe. Mit Schreiben vom 17. Juni 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie behalte ihre Entscheidung bei. Zur Begründung führte sie u.a. an, dass der Pflegenachweis des Landhauses L. teilweise Pflegemaßnahmen beinhalte, die nicht Gegenstand des Pflegebegriffs im Sinne der gesetzlichen Pflegeversicherung seien.
Mit seiner Klage vom 16. Dezember 2003 hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung hat er angeführt, er leide teilweise unter Desorientiertheit, Antriebsarmut und Gedächtnisschwäche. Deshalb bedürfe er bei einigen Verrichtungen der Beaufsichtigung und Überwachung bzw. Anleitung. Bei der sechsmal wöchentlich durchzuführenden Ganzkörperwäsche sei ein Hilfebedarf für die Unterstützung, Anleitung und Beaufsichtigung von 15 Minuten täglich anzusetzen. Auch das mehrmals wöchentlich durchgeführte Duschen sei hilfebedürftig. Da er das Tragen von Windeln bzw. Vorlagen ablehne, beschmutze er sich häufig mit Harn und Stuhl. Sowohl das Rasieren als auch die Zahnpflege und das Kämmen seien hilfebedürftig. Da er teilweise nicht rechtzeitig die Toilette aufsuchen könne, bestehe ebenfalls Hilfebedarf bei der Darm- und Blasenentleerung. Insoweit seien viermal täglich je drei Minuten in Anrechnung zu bringen. Auch das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen sei hilfebedürftig. Beim An- und Auskleiden sei der Hilfebedarf mit zehn Minuten zu berechnen. Auch beim Gehen innerhalb des Heimes müsse er unterstützt werden. Tagsüber und nachts seien dafür insgesamt zehn Minuten anzusetzen. Auch leide er unter einem überschießenden Bewegungsdrang, so dass er beaufsichtigt werden müsse, da er bereits mehrfach das Heim verlassen habe. Der Kläger hat ein Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. N. vom 18. Dezember 2003 überreicht.
Auf Veranlassung des SG hat der Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen, Betriebs- und Umweltmedizin Dr. O. am 27. September 2005 das Gutachten über den Kläger erstattet. Dem lag eine Untersuchung des Klägers im Landhaus L. am 16. September 2005 zugrunde. Als Diagnose führte er insbesondere ein Korsakow-Syndrom an. Der Sachverständige schätzte darin den Hilfebedarf für die täglichen Verrichtungen der Grundpflege auf 51 Minuten ein und denjenigen für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen auf 45 Minuten. Er führte weiter aus, dass der von ihm angenommene Hilfebedarf vermutlich ab 1. Juni 2004 bestehe.
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2005 sagte die Beklagte dem Kläger zu, ihm ab 1. Oktober 2005 wieder Leistungen entsprechend der Pflegestufe I zu gewähren. Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, der Gutachter Dr. M. habe überzeugend dargelegt, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers unter den Bedingungen des strukturierten Tagesablaufs in der vollstationären Einrichtung verbessert und stabilisiert habe, weshalb der Hilfebedarf erheblich zurückgegangen sei. Die Einholung des Gutachtens von Dr. O. widerspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Danach sei das von der privaten Pflegeversicherung eingeholte Gutachten - hier das von Dr. M. - für die Vertragsparteien verbindlich, wenn sich nicht dessen "offenbare" Unrichtigkeit nachweisen ließe. Dafür sei erforderlich, dass sich die Fehlerhaftigkeit des betreffenden Gutachtens dem sachkundigen Beobachter aufdrängen müsse. Der Kläger habe hier nicht vorgetragen, worin die offensichtliche Unrichtigkeit des Gutachtens von Dr. M. bestehe. Ein Großteil der von ihm angeführten Hilfeleistungen, die im Landhaus L. erbracht würden, seien für die Ermittlung des Pflegebedarfs im Sinne der gesetzlichen Pflegeversicherung gar nicht relevant. Dazu gehöre z.B. das Eincremen der Füße, die Aufforderung zur Medikamenteneinnahme und zur Beschäftigung, das Zeigen des Zimmers sowie die Aufforderung, zum Frühstück zu gehen. Abgesehen davon, dass das vorliegende Gutachten vom SG daher gar nicht habe eingeholt werden dürfen und auch die dem Sachverständigen gestellten Beweisfragen nicht auf eine offensichtliche Unrichtigkeit des Gutachtens von Dr. M. abzielten und mithin unrichtig gewesen seien, habe der Sachverständige Dr. O. immerhin bestätigt, dass am 1. März 2003 die Voraussetzungen für die Pflegestufe I nicht vorgelegen hätten. Sofern das SG das Gutachten von Dr. M. tatsächlich als offensichtlich fehlerhaft angesehen haben sollte, wäre es nach der Rechtsprechung des BSG dazu verpflichtet gewesen, der Beklagten die Möglichkeit zu eröffnen, ein neues Gutachten einzuholen. Ein solcher Hinweis sei jedoch vorliegend nicht erfolgt.
Mit Urteil vom 30. Mai 2006 hat das SG Oldenburg die Beklagte verurteilt, dem Kläger Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe I ab Juni 2004 zu zahlen. Zur Begründung hat das SG Folgendes angeführt. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung nur noch die Gewährung von Leistungen ab 1. Juni 2004 beantragt habe, habe eine Klagerücknahme stattgefunden. In der Zeit vom 1. Juni 2004 bis 30. September 2005 habe die Beklagte dem Kläger deshalb weiterhin Leistungen entsprechend der Pflegestufe I zu gewähren, weil eine erneute erhebliche Pflegebedürftigkeit bereits ab 1. Juni 2004 bestehe. Dies folge aus dem überzeugenden Gutachten von Dr. O ... Auch sei der Antrag des Klägers vom 30. Mai 2002 noch nicht verbraucht, weil die Beklagte ihre ursprüngliche Leistungszusage widerrufen habe und hiergegen ein Klageverfahren angestrengt worden sei. Ein Verwertungsverbot des von Amts wegen eingeholten Gutachtens von Dr. O. bestehe nicht. Das Gericht sei von der offenbaren Unrichtigkeit des Gutachtens von Dr. M. anhand der ausführlichen und eingehenden Begründung des Klägers überzeugt gewesen. Aus dem Attest von Dr. N. vom 18. Dezember 2003 folge, dass es beim Kläger in den letzten Wochen zu einer starken Verschlechterung der psychischen Verfassung gekommen sei. Spätestens beim Erlass der gerichtlichen Beweisanordnung hätte die Beklagte widersprechen müssen und eigene Beweisbemühungen anbieten müssen. Im Übrigen habe sie selbst gegen Ende des Jahres 2005 ein weiteres K. -Gutachten in Auftrag gegeben.
Gegen das ihr am 5. September 2006 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 29. September 2006 Berufung eingelegt. Zur Begründung führt sie an, das Urteil des SG sei schon deshalb unrichtig, weil es sie - die Beklagte - ohne zeitliche Begrenzung zur Gewährung von Pflegeleistungen entsprechend der Pflegestufe I verurteile. Sie zahle jedoch seit November 2005 (gemeint ist: Oktober 2005) wieder Leistungen entsprechend der Pflegestufe I an den Kläger. Der streitige Zeitraum sei daher offensichtlich vom 1. Juni 2004 bis zum Oktober 2005 (richtig: September 2005) begrenzt. Das SG habe mit keinem Wort festgestellt, dass das im Jahr 2003 eingeholte K. -Gutachten "offensichtlich" unrichtig sei. Die Verwendung des vom SG eingeholten Gutachtens von Dr. O. sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG unzulässig. Insbesondere fehle es für eine Verurteilung der Beklagten ab 1. Juni 2004 an einem Antrag des Klägers, nachdem die Beklagte den Wegfall der Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit festgestellt habe. Darüber hinaus könne sie - die Beklagte - nicht nachvollziehen, wie ein Gutachten ab einem bestimmten Zeitpunkt offensichtlich unrichtig sein könne. Das BSG habe ausgeführt, dass für die Beurteilung einer offensichtlichen Unrichtigkeit des Schiedsgutachtens auf den Sachstand und die Erkenntnismittel zum Zeitpunkt der Begutachtung abzustellen sei, deshalb könnten gutachterliche Feststellungen nicht etwa "plötzlich" offensichtlich falsch sein. Vielmehr habe das Gericht den Pflegeversicherer aufzufordern, bei möglichen Situationsänderungen den Pflegebedarf erneut festzustellen. Dies sei im vorliegenden Fall aber nicht geschehen. Die Beklagte sei gegen Ende des Jahres 2005 ohne einen ausdrücklichen Antrag des Klägers tätig geworden, sie habe einen solchen zu seinen Gunsten fingiert.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 30. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Zu Recht sei das SG spätestens ab Juni 2004 von einer offensichtlichen Unrichtigkeit des Gutachtens von Dr. M. ausgegangen.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes sowie der von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird auf die Gerichtsakte und die Unterlagen der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.
Das Urteil des SG Oldenburg vom 30. Mai 2006 erweist sich als unrichtig, denn die Beklagte ist nicht verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juni 2004 bis 30. September 2005 Leistungen entsprechend der Pflegestufe I zu gewähren.
Die Leistungsansprüche privat Pflegeversicherter sind im § 23 Abs. 1, 3 und 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) geregelt. Danach muss der vertraglich vereinbarte Versicherungsschutz Leistungen vorsehen, die denen der sozialen Pflegeversicherung nach dem 4. Kapitel des SGB XI nach Art und Umfang gleichwertig sind. In Ausführung der gesetzlichen Verpflichtungen haben die privaten Versicherungsunternehmen, die die private Pflegeversicherung durchführen, als allgemeine Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung Musterbedingungen (MB/PPV 1996) entwickelt, in die die Vorgaben des Leistungsrechts des SGB XI weitgehend übernommen worden sind. Einschlägig ist hier § 6 Abs. 1 MB/PPV 1996, wonach Pflegeleistungen nur auf Antrag gewährt werden.
An einem solchen Antrag fehlt es jedoch vorliegend, worauf die Beklagte zu Recht hingewiesen hat. Der Antrag des Klägers vom 30. Mai 2002 kann nicht mehr herangezogen werden, denn er hat sich durch die Bewilligung der Leistung zum 1. März 2002 erledigt. Nachdem ihm die Pflegeleistungen zum 1. März 2003 entzogen wurden, bedurfte es mithin eines neuen Antrags (vgl. zur Erledigung bzw. Fortwirkung von Anträgen: BSG-Urteil vom 13. Mai 2004, B 3 P 7/03 R). Ein solcher Antrag ist weder den Schreiben des Klägers, die dieser nach dem Erhalt der Mitteilung über die Einstellung der Pflegeleistungen an die Beklagte übersandt hat, noch seiner Klageschrift zu entnehmen, weil er sich darin nur gegen die Entziehung der Pflegeleistungen wendet, aber nicht außerdem (hilfsweise) deren erneute Bewilligung begehrt. Selbst wenn man aber zugunsten des Klägers von einem neuen Antrag auf Gewährung von Pflegeleistungen ausgehen würde - wie dies die Beklagte offenbar gemacht hat, da sie einen Antrag "fingierte" - steht dem Kläger ab 1. Juni 2004 kein Pflegegeld entsprechend der Stufe I zu. Das Gutachten von Dr. O. vom 27. September 2005, das das einzige in diesem Zeitpunkt ist, kann dafür nicht herangezogen werden. Dabei kann letztlich offen bleiben, ob das SG - anstelle der Beklagten - berechtigt war, ein solches medizinisches Gutachten einzuholen, weil es jedenfalls keinem Verwertungsverbot unterliegt (vgl. BSGE 88, 262 ff. [BSG 22.08.2001 - B 3 P 21/00 R]).
Nach der Überzeugung des Senats hat Dr. O. jedoch nicht schlüssig dargelegt, weshalb der Kläger bereits ab 1. Juni 2004 einen Hilfebedarf von 51 Minuten täglich bei den Verrichtungen der Grundpflege hat. Der Sachverständige führt dazu in seinem Gutachten aus, dass er nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einschätzen könne, ob der von ihm angenommene Hilfebedarf auch bereits am 1. März 2003 vorgelegen habe. Es sei lediglich davon auszugehen, dass eine Pflegebedürftigkeit entsprechend seinen Feststellungen bereits geraume Zeit vor dem Begutachtungsdatum am 16. September 2005 vorgelegen haben müsste. Da der exakte Zeitpunkt nicht zu ermitteln sei, schlage er vor, die Zeitspanne zwischen dem letzten Pflegegutachten vom 5. Februar 2003 und dem von ihm angefertigten Gutachten zu halbieren und deshalb die Pflegestufe I ab 1. Juni 2004 anzunehmen. Der 1. Juni 2004 ist mithin ein vom Sachverständigen ohne sachliche Anhaltspunkte gegriffener Zeitpunkt, der nicht zu überzeugen vermag.
Dem Senat liegen auch keine weiteren medizinischen oder pflegerischen Unterlagen vor, die für das Ergebnis von Dr. O. sprechen. Aus dem Pflegeprotokoll des Landhauses L. vom 31. Dezember 2003 ergibt sich insoweit nichts. Die darin aufgeführten Pflegeleistungen (89 Minuten täglich) betreffen nicht nur die Verrichtungen der Grundpflege, sondern auch die hauswirtschaftliche Versorgung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).