Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 01.06.2005, Az.: 1 A 21/02
Abschiebeverbot; Abschiebung; Flucht; Flüchtling; Flüchtlingsbegriff; Klagerücknahme; Nachfluchtatbestand; Nachfluchtgründe; objektive Nachfluchtgründe; Opfer; Opferbetrachtung; politische Verfolgung; Qualifikationsrichtlinie; Schutztheorie; subjektive Nachfluchtgründe; Täter; Vietnam; vietnamesischer Staatsangehöriger; Wiederaufnahme; Wiederaufnahmegründe
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 01.06.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 21/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50696
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 AufenthG
- § 28 Abs 2 AsylVfG
Tenor:
Dem Kläger geht es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abschiebungshindernissen.
Der 1969 geborene Kläger vietnamesischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens gelangte - nach mehrjährigem Aufenthalt in der CSFR (1988-1991) - im April 1991 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 24.5.1998 erstmals einen Asylantrag. Dieser wurde nach seiner Anhörung (Furcht, als „Landesverräter“ bestraft zu werden) durch Bescheid vom 22. August 1991 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage hatte insofern Erfolg, als die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides gerichtlich verpflichtet wurde, beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen (Urt. des Verwaltungsgerichts Braunschweig v. 14.7.1992 - 3 A 3173/92 -). Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wurde dieses Urteil durch das rechtskräftige Urteil des Nds. Oberverwaltungsgerichts v. 27.1.1994 - 11 L 5043/92 - geändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Am 10. Dez. 2001 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er habe sich als Mitglied der „Allianz freies Vietnam“/ Berlin, die sich für Freiheit, Demokratie und Religionsfreiheit in Vietnam einsetze und deren Mitglieder in Vietnam verfolgt würden, exilpolitisch betätigt, wie seine Unterlagen und Belege zeigten. Mit Bescheid vom 8. Januar 2002 (2 727 060-432) - zugestellt per Übergabe-Einschreiben (abgesandt am 9.1.02) - lehnte die Beklagte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen. Der Antragsteller wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei die Abschiebung nach Vietnam für den Fall angedroht wurde, dass die Ausreisefrist nicht eingehalten werde.
Zur Begründung seiner am 17. Januar 2002 erhobenen Klage erweitert und vertieft der Kläger seinen Standpunkt, als aktives Mitglied eines exilpolitisch tätigen - antikommunistischen - Vereins, dessen Mitglieder in Vietnam verfolgt würden, müsse er bei seiner Rückkehr mit Inhaftierung und Verfolgung rechnen. Er habe nicht nur bei einer exilpolitischen Zeitschrift mitgearbeitet, sondern auch an den „gefährlicheren“ Demonstrationen vor der vietnamesischen Botschaft, wo gefilmt und registriert werde, teilgenommen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Januar 2002 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf den angefochtenen Bescheid und dessen Gründe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Gründe
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag (nur) noch um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
Im Übrigen - wegen der ursprünglich begehrten Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16 a Abs. 1 GG - ist die Klage nach der Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung kostenpflichtig einzustellen (§§ 92 Abs. 3, 155 Abs. 2 VwGO).
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist jener der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 AsylVfG. Für diesen Zeitpunkt ist eine Gleichsetzung retrospektiv-politischer Verfolgung iSv Art. 16 a GG mit einer prognostischen Bedrohung iSv § 60 AufenthG nicht möglich. Der zeitliche Unterschied zwischen einer zurückliegenden Verfolgungssituation und der prognostischen Einschätzung einer Bedrohung ist - von inhaltlichen Differenzen abgesehen - derart erheblich, dass eine Gleichsetzung nicht in Betracht kommt.
2. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention iVm § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in die Heimat bei prognostischer Einschätzung eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Denn gem. § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung der in den Art. 3, 4, 7 und 8 EMRK genannten Rechtsgüter oder aber der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004; BVerwGE 89, 296; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 51 AuslG, Rdn. 4 m.w.N.). Die Verfolgung kann vom Staat ausgehen, aber auch von anderen Akteuren (§ 60 AufenthG).
Mit § 60 AufenthG und seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf die Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (§ 60 Abs. 5 AufenthG) sowie seiner Anerkennung einer Mehrzahl von „Verfolgern“ (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) hat sich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/83/EG v. 30.9.2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel weg von der Täter- hin zu einer Opferbetrachtung vollzogen, der sich dem Sinn und Zweck der gen. Richtlinie entsprechend auch inhaltlich auswirkt. Vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.:
„Ferner ergibt sich die oben genannte Sichtweise des § 60 I AufenthG aus einer Auslegung, die sich an der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (sog. „Qualifikationsrichtlinie“, ABl. Nr. L 304 vom 30.09.2004, S. 12 ff.) orientiert. Diese Auslegung ist geboten, auch wenn die Umsetzungsfrist des Art. 38 I der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist (Umsetzung bis 10.10.2006). Denn mit § 60 I AufenthG sollte das deutsche Recht schon insoweit an die genannte Richtlinie angepasst werden (ebenso bzgl. § 60 I S. 4 AufenthG: Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU, Stand: Dezember 2004, Zif. 60. 1.4; Renner, ZAR 266 ff. (269); Duchrow, ZAR, 2004, S. 339 ff. (340); Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73). Daher liegt es nahe, § 60 I AufenthG schon jetzt richtlinienkonform auszulegen, zumal eine Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist insoweit Beachtung verlangt, als es einem Mitgliedstaat verboten ist, ihre rechtzeitige Umsetzung durch kontraproduktive Maßnahmen zu vereiteln (vgl. EuGH, Urteil v. 18.12.1997 - Rs. C-129/96 - „Inter-Environnement Wallonie ASBL“, Slg. 1997, S. I-7411 ff., Rn. 40 ff.). Die Qualifikationsrichtlinie geht in Art. 2 c), Art. 6-8 jedoch nicht vom deutschen Begriff der „politischen Verfolgung“ i.S. der sog. „Zurechnungslehre“, sondern von dem in der Genfer Konvention zugrunde gelegten Flüchtlingsbegriff i.S. der sog. „Schutztheorie“ aus (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 73 ff.).“
Soweit § 60 AufenthG voraussetzt, dass der Ausländer im Herkunftsland in diesem Sinne "bedroht" ist, lässt sie erkennen, dass eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muss. Es genügt dafür im Rahmen der erforderlichen Prognose unter Ver- und Bewertung entsprechender Fakten schon eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt künftiger asylrelevanter Schädigungen, so dass insoweit nicht etwa eine „Sicherheit“ gegeben sein muss. Da inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist (am 20. Tag nach ihrer am 30. September 2004 - L 304/12 - erfolgten Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union / Art. 39 der Richtlinie), sind heute in Übereinstimmung mit dem gen. Urteil des VG Stuttgart (s.o.) auch deren Standards im Wege der Auslegung zu beachten (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff). Soweit diese Richtlinie in Art. 2 c) und Art. 4 Abs. 4 die subjektive „Furcht des Antragstellers vor Verfolgung“ zum Ausgangspunkt nimmt und auf diese Weise in § 60 Abs. 1 AufenthG ein - schon früher in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltenes (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. § 51 AuslG Rdn. 4) - subjektives Element trägt, ist es so, dass auch diese Furcht sachlich - anhand von Fakten - „begründet“ sein muss (Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie). Auch der in der gen. Richtlinie angesprochene Wille, nicht in seinen Herkunftsstaat zurückzukehren (Art. 2 c), muss auf eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ zurückgehen.
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist aufgrund einer individuellen Prüfung und Wertung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) somit dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen unter Wertungsgesichtspunkten überwiegen (vgl. dazu schon BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).
Solche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Menschenwürde- und Freiheitsrechten des Klägers ist hier auf der Grundlage einer entsprechenden Würdigung und Bewertung der Sach- und Rechtslage gegeben.
2.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass der neu angefügte Abs. 2 des § 28 AsylVfG die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren vermag, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich schon dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, kommt der allgemeine Grundsatz des Art. 5 der gen. Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU v. 30.9.04 / L 304/12) zur Geltung. Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme iSv Art. 5 Abs. 3 der gen Richtlinie 2004/83/EG dar und ist nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AufenthG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem Grundsatz der gen. Richtlinie in Art. 5 - großzügig und weit.
Im Übrigen stellt es einen objektiven Nachfluchttatbestand dar, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (so BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen bis hin zu Repressionen im Heimatstaat stets im Rahmen des § 28 Abs. 2 AufenthG als objektiver Nachfluchttatbestand heranziehbar und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind.
2.2 Soweit die ablehnenden Entscheidungen des Bundesamtes darauf zurückgehen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG für ein Wiederaufgreifen nicht erfüllt seien, ist dem Kläger zuzubilligen, dass entsprechende Gründe selbstverständlich auch noch während des gerichtlichen Verfahrens jederzeit nachgeschoben werden können (und deshalb nicht etwa noch bei der Beklagten jeweils erneut gesonderte Folgeanträge zu stellen wären). Denn das gerichtliche Verfahren ist für derartige Gründe offen, § 77 AsylVfG. Dabei sind einzelne Wiederaufnahmegründe wie auch Dauersachverhalte - z.B. die Mitgliedschaft in einer Organisation oder Verschärfungen im Heimatland - zwar im Verwaltungsverfahren innerhalb von 3 Monaten nach deren Eintritt oder Beginn geltend zu machen, bei Verschärfungen oder Neueinschätzungen 3 Monate nach einer entsprechenden Neubewertung. Sachverhalte aber, die sich als Fortsetzung rechtzeitig eingeführter Grundsachverhalte darstellen, sind nicht einmal im Verwaltungsverfahren in der dargestellten Weise fristgebunden. Hier genügt es, wenn der Grundsachverhalt schon einmal fristgemäß vorgetragen wurde.
Bei der exilpolitischen Betätigung, die sich nicht auf einzelne „Aktionen“ reduzieren lässt, die aber auch durch stets neue Entschlüsse „getragen“ wird, genügt es, wenn sie anlässlich eines Entschlusses und einer Betätigung fristgerecht vorgetragen wurde. Liegt ein neuer oder erneuerter Entschluss regimekritischer Betätigung vor, ist der entsprd. Vortrag fristgerecht, wenn er binnen 3 Monaten nach dem neuen Entschluss vorgebracht wird. Für die weitere Entwicklung und Einschätzung kommt es dann darauf an, in welchem Ausmaß eine regimekritische Betätigung mit asylrechtlicher Relevanz vorliegt.
Auch beim Dauersachverhalt politischer Veränderungen und Verschärfungen im Heimatland reicht es aus, wenn die entsprechende Einschätzung einer Verschärfung, die sich bei schleichenden oder sich stufenweise darstellenden Entwicklungen nur schwer zeitlich ein- und abgrenzen lässt, einmal fristgerecht - in zeitlicher Nähe zu einer möglichen Neueinschätzung - in das Verfahren eingeführt wurde. Der weitere Vortrag kann dann darauf Bezug nehmen, da er nur deren Vertiefung dient.
Im Übrigen ist es so, dass bei nicht durchgreifenden Gründen iSv § 51 Abs. 1 VwVfG (und damit dem Fehlen eines Anspruchs auf ein Wiederaufgreifen) die Verwaltungsbehörde daneben stets ein Wiederaufgreifen im Ermessenswege gem. §§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG zu prüfen hat und sie bei hinreichend schwerwiegenden Gründen dazu auch iSe Ermessenreduzierung verpflichtet ist (Kopp/Ramsauer, VwVfG-Kommentar, 8. Aufl. § 51 Rdn. 24 m.w.N.). Blendet eine Behörde naheliegende Erkenntnisse einfach aus, kann eine Ermessensreduzierung auf Null mit der Folge eines Anspruches auf ein Wiederaufgreifen aus Gründen der Ermessensschrumpfung gegeben sein (Kopp/Ramsauer, aaO, § 48 Rdn. 55 m.w.N.).
Diesen zu stellenden Anforderungen genügt hier der Vortrag des Klägers:
2.2.1 Die vom Kläger im gerichtlichen Verfahren erst vorgelegten Nachweise exilpolitischer Betätigung in Deutschland sind als zulässigerweise nachgeschobene Gründe und Belege je für sich geeignet, die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 VwVfG, der nur für das Verwaltungsverfahren gilt, zu überwinden. Das gerichtliche Verfahren ist nämlich für ein Nachschieben entsprechender Gründe offen, § 77 AsylVfG. Hierbei mag es sein, dass die reine Mitgliedschaft im gen. Verein nicht rechtzeitig vorgetragen wurde. Damit sind aber nicht auch exilpolitische Betätigungen anderer Art wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen pp. präkludiert. Es ist dem Kläger nicht versagt, solche Betätigungen als Anlass für ein Folgeverfahren vorzutragen. Die These, entsprechende Betätigungen würden in Vietnam nicht beachtet bzw. erst ab einer höheren Schwelle Aufmerksamkeit finden, ist dann Teil des eröffneten Folgeverfahrens und kein Anlass, entsprechenden Vortrag unter Hinweis auf § 51 VwVfG erst gar nicht zu beachten. Insoweit ist anerkannt, dass die bloße Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung schon ausreicht (Kopp/Ramsauer, aaO., § 51 Rn. 36 a m.w.N.; Thür.OVG, Urt. v. 6.3.2002 - 3 KO 428/99 -).
2.2.2 Auch die Änderung der Rechtslage im Hinblick auf das ab dem 1.1.2005 geltende Zuwanderungsgesetz, aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/EG des Jahres 2004, welche von dem Kläger im Jahre 2001 naturgemäß noch nicht vorgetragen werden konnte, rechtfertigt eine Befassung mit dem Folgeantrag, da es sich insoweit um eine erhebliche und tiefgreifende Änderungen der Rechtslage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG handelt.
2.2.3 Ebenso rechtfertigen die Hinweise auf eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), die Unterdrückung der Religion und Meinungsfreiheit einschließlich der dabei gehandhabten „Willkür“ und der unsystematischen Verhaftungen eine Befassung mit dem Folgeantrag, zumal dem Kläger diesbezüglich auch nur eine normale Zeitungslektüre angesonnen werden kann. Ihm kann es daher nicht als grobes Verschulden vorgehalten werden, wenn er den Dauersachverhalt einer fortlaufenden Verschärfung der Verhältnisse in Vietnam erst nach Erkennbarkeit im gerichtlichen Verfahren vorgebracht hat.
Letztlich aber hätte die Beklagte sich angesichts der erheblichen Veränderungen in Vietnam sowie der veränderten Rechtslage einem Wiederaufgreifen im Ermessenswege (§§ 51 Abs. 5, 48 f. VwVfG) nicht entziehen können.
2.3. In diesem Fall, dass nämlich die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG erfüllt sind, ist in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.) davon auszugehen, daß eine Zurückverweisung des Verfahrens an das Bundesamt nicht mehr in Betracht kommt, vielmehr das Verwaltungsgericht selbst in der Sache durchzuentscheiden hat (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO). Somit ist hier materiell-rechtlich maßgeblich, ob in der Sache Abschiebungsverbote oder -hindernisse gegeben sind.
2.4. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - im Jahre 2005 - stellt sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Entscheidung so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam stark verändert, nämlich deutlich verschärft haben. Weiterhin ist inzwischen die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 und daneben im deutschen Recht das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.
2.4.1 Die genannte Richtlinie ist bereits anwendbar (EuGH Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 Pfeiffer, Rn. 101 ff; BVerfGE 75, 223 [BVerfG 08.04.1987 - 2 BvR 687/85] f/ 241,242), obwohl die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (dazu Hoffmann im Asylmagazin 4/2005):
„In einem Beschluss vom 29.12.2004 hatte der VGH Hessen sogar darüber hinausgehend und bezogen auf die sog. "Freizügigkeitsrichtlinie" nochmals ausdrücklich festgestellt, dass sich aus der Richtlinie bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist der gemeinschaftsrechtliche Stand der Freizügigkeitsrechte entnehmen ließe (VGH Hessen, Beschluss vom 29.12.2004 - 12 CG 3649/04 -).“
Mit dem VG Braunschweig und dem VG Stuttgart (aaO.) ist davon auszugehen, dass die gen. Richtlinie bereits heranzuziehen ist. Vgl. VG Braunschweig, Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -:
„Nach der bei der Anwendung des § 60 AufenthG zu berücksichtigenden Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 4. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatenangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt EU 2004 L 304/12 vom 30.09.2004) ist der gebotene Schutz vor Verfolgungshandlungen von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einem wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, generell gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (Art. 7 der Richtlinie 2004/83/EG).“
Bei der somit gebotenen individuellen Prüfung aller Angaben des Klägers sowie der allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass der Kläger sich offenkundig um einen kohärenten und plausiblen Vortrag hinsichtlich seines Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte sowie für Religionsfreiheit in Vietnam bemüht hat, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit des Klägers festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen des Klägers, der in der mündlichen Verhandlungen vom 18. Mai 2005 einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren, über die Aussagen noch hinausgehenden Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. auch BVerwGE 55, 82).
2.4.2 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Insoweit heißt es im Sinne einer aktuellen Lagebeschreibung in der FR v. 29.4.2005, S. 1:
„Die Kommunisten lassen keine Meinungs-, Versammlungs- oder Gewerkschaftsfreiheit zu, unterdrücken jede Opposition, kontrollieren Medien und Internet. ´Vietnams elende Menschenrechtslage ist in neue Tiefen gesunken´, schrieb 2003 die Organisation Human Rights Watch. 2004 berichtete HRW, die Lage habe sich noch verschlimmert. Dissidenten würden verhaftet, manche gefoltert. Besonders gefährlich lebten Mitglieder ethnischer und religiöser Minderheiten, vor allem Buddhisten und Christen im Hochland“.
Das politische Engagement eines Einzelnen ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Registrierungen, (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. „Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt“ (so auch der Lagebericht AA v. 12.2. 2005, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)
Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 12.02.2005) aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ bzw. solche, die dafür gehalten werden, inhaftiert oder bestraft werden und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO., S. 5). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Viele Journalisten üben „Selbstzensur“. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht, aaO. S. 6).
In Übereinstimmung hiermit heißt es im IGFM-Jahresbericht 2004 (v. Febr. 2004, zu Pkt. 1) u.a.:
„Spionagetätigkeiten werden in Vietnam mit hohen Strafen - auch mit der Todesstrafe geahndet. Die IGFM zweifelt an dem Rechtfertigungscharakter dieses Vorwurfs, weil er sehr weit ausgelegt und in den letzten Monaten exzessiv gegen Dissidenten angewandt wurde, die Informationen über das Internet verbreitet hatten. Für die vietnamesische Strafverfolgung ist nicht die Art, sondern allein der Nutzungszweck der übermittelnden Informationen relevant. Allein das Ansammeln und Weiterleiten von Informationen aus öffentlichen bzw. offiziellen Quellen, die der Empfänger für seine Kritik an der Politik des vietnamesischen Staates nutzen könnte, erfüllen den Tatbestand "Spionage". Nguyen Khac Toan, Pham Hong Son und Nguyen Vu Binh wurden sogar für Kontakte mit vietnamesischen Oppositionellen im Exil bestraft. Der Fall von den drei Verwandten des katholischen Pfarrers Nguyen Van Ly, die kurz nach seiner Verhaftung im Juni 2001 ebenfalls festgenommen wurden, verdeutlicht die Willkür und den politischen Charakter dieser Verfolgung. Ihnen wurde anfangs Spionage vorgeworfen, weil sie Berichte über die Verfolgung der Religionsgemeinschaften in Vietnam an einen Radiosender und eine Menschenrechtsorganisation in den USA weitergegeben hatten. Infolge weltweiter Proteste wurde der Prozess zweimal verschoben, die Anklage wegen Spionage später fallen gelassen und auf "Missbrauch der freiheitlich demokratischen Rechte" (mit Strafmaß zwischen sechs Monaten und sieben Jahren) umgeändert. Im Revisionsverfahren im November 2003 wurden die im September 2003 verhängten Haftstrafen von drei, vier und fünf Jahren auf entsprechend vier Monate, und zwei mal 32 Monate reduziert. In einem weiteren Revisionsverfahren im August 2003 wurde die Strafe von Dr. Pham Hong Son nach weltweiten Protesten auf fünf Jahre Haft und drei Jahre Hausarrest reduziert.“
Dabei schreckt die vietnamesische Polizei und Justiz auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK / Verbot der Folter) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Die sechs Mennoniten um Pastor Nguyen Hong Quang waren Mitte November wegen "Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu Haftstrafen zwischen neun Monaten und drei Jahren verurteilt worden. Die Brüder Nguyen Huu Nghia und Nguyen Thanh Nhan kamen am 2. bzw. 3. Dezember frei, nachdem sie am 2. März dieses Jahres verhaftet worden waren. Ihre Zeugenaussagen, die der in Frankfurt ansässigen IGFM vorliegen, belegen die Gewaltanwendungspraxis der vietnamesischen Polizei und der Justizbehörden.
Polizei und Staatsanwalt hatten versucht, die Gefangenen zu zwingen, Pastor Quang als Anstifter und Rädelsführer der März-Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Mennoniten zu denunzieren. Sie wurden zum Verhör bestellt, meist nachdem kriminelle Häftlinge sie schwer geschlagen hatten. Den Brüdern wurden vorgefertigte Verhörprotokolle zur Unterschrift vorgelegt, in dem sie ihre angeblichen Straftaten zugeben und Reue zeigen. Weil die Gefangenen dies nicht taten, wurden sie misshandelt. Heute können die beiden Brüder infolge der Misshandlungen nicht mehr arbeiten. Im Gefängnis wurden sie mehrmals ins Gesicht bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Ihre Nasenbeine wurden gebrochen. Nhan wurde gezwungen, vier Monate lang auf Zehenspitzen zu hocken. Das lange Sitzen und die Schläge auf die Wirbelsäule im Lendenbereich haben zur Nervenschädigung geführt. Das linke Bein von Nhan ist heute gelähmt und er kann nicht mehr schmerzfrei sitzen. Zwei Monate verbrachte er in Isolationshaft, in einer kleinen Zelle ohne Fenster und Belüftung. Zweimal wurde er bewusstlos aus der Zelle getragen. Sein Bruder Nghia leidet infolge von Schlägen und Tritten auf Brust und Kopf an schweren Atembeschwerden, chronischen Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen. Die Gefängniswärter sollen kriminelle Mitgefangene angestiftet haben, ihn zu misshandeln. Bis zu seiner Freilassung wurde er fast zwei Monate lang in der Krankenstation des Gefängnis Chi Hoa behandelt. Übereinstimmend berichteten Nhan und Nghia von weiteren Misshandlungen an zwei anderen inhaftierten Mennoniten, Pham Ngoc Thach und Nguyen Van Phuong, ihre Schmerzschreie und Hilferufe seien in allen Gefängniszellen zu hören gewesen. Nhan und Nghia trafen die Mennonitin Le Thi Hong Lien zum ersten Mal wieder am Prozesstag 12.11.2004. Frau Lien war in einer sehr schlechten körperlichen und seelischen Verfassung. Sie redete nicht und weinte andauernd.“
Gegen diese äußerst negative Gesamteinschätzung spricht nicht, dass der vietnamesische Pater Nguyen Van Ly - Shalompreisträger des Jahres 2004 -, der sich beharrlich für Religions- und Meinungsfreiheit in Vietnam eingesetzt hat und seit 1983 wiederholt willkürlich angeklagt und verurteilt wurde, anlässlich des Tet-Festes jetzt (2005) offenbar vorzeitig aus der Haft entlassen wurde - einer Haft, die er zeitweise unter menschenunwürdigen Bedingungen in Isolationshaft verbringen musste (so die Eichstätter Ortsgruppe von ai v. Febr. 2005). Denn die allgemeine Menschenrechtslage, wie sie von sachkundigen Beobachtern der Lage in Vietnam beurteilt wird, hat sich dadurch noch nicht grundlegend verändert.
Gleiches gilt für die jüngst erfolgte Freilassung der 21-jährigen Christin Le Thi Hong Lien in Ho Chi Minh Stadt zum 30. April 2005 (vgl. die Pressemitteilung der IGFM v. 27.4.2005 ; siehe dazu auch obige Meldung der IGFM v. 17.12.2004):
„Die durch Folter psychisch schwer erkrankte Christin Le Thi Hong Lien soll nach Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) am 30. April aus vietnamesischer Haft freikommen. Die mennonitische Lehrerin war im November zusammen mit anderen Christen zu zwölf Monaten Haft verurteilt worden. Der IGFM liegen Augenzeugenberichte vor, daß die Verurteilten wiederholt gefoltert wurden, oft bis zur Bewußtlosigkeit. Die IGFM führt die Freilassung auf internationale Proteste zurück. idea und die IGFM hatten die 21jährige im Dezember als „Gefangene des Monats“ benannt“ (Evangeliums-Rundfunk Österreich - ERF/ Evangelische Nachrichtenagentur, idea v. 3.5.2005).
Das Schicksal der Freigelassenen belegt vielmehr die drastische vietnamesische Verfolgungspraxis gegen Oppositionelle bzw. gegen solche Menschen, die dafür vom Staat gehalten werden - einschließlich menschenrechtswidriger Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK).
Indiz dafür, dass es vielmehr sogar eine bis nach Deutschland reichende, gezielte Verfolgung von Regimegegnern aus Vietnam gibt, ist die aus Vietnam bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg am 17. März 2005 eingegangene Anzeige gegen einen vietnamesischen Staatsbürger, der hier als Flüchtling anerkannt wurde (Az. der Staatsanwaltschaft Lüneburg: 1107 Js 6546/05).
Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen mit Härte unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2004 von amn. Intern. - ai - (Vietnam, S. 414 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern sogar der Zugang zum Land verweigert wird (S. 415 r. Spalte) und die Justiz gegen Regierungskritiker vorgeht.
Auch die von einem Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2005 (in der Sache 1 A 70/02) vorgelegte Polizeizeitung vom 23. März 2005, in der eine Kooperation zwischen China und Vietnam hinsichtlich der „Sabotage der feindlichen Gruppierungen im In- und Ausland“ gefordert wird, ist ein Beleg dafür, dass von der vietnamesischen Parteilinie abweichende Meinungen mit Härte verfolgt werden sollen.
Denn Meinungsfreiheit wird in Vietnam als Gefährdung des Staates verstanden. Schon öffentliche Stellungnahmen im Internet für „Demokratie“ und „hoffnungsvolle Anzeichen“ dafür werden mit unverhältnismäßig hohen (Verfolgungs-)Strafen belegt (vgl. dazu den Country Report des Englischen „Home Office“ v. April 2004), etwa mit 13-jähriger Gefängnisstrafe, die vom vietnam. Supreme court auf dann immer noch 5 Jahre herabgesetzt wurde. Für die Richtigkeit dieser Nachricht spricht die Meldung von news (heise-online v. 26.8. 2003):
„Ein vietnamesisches Berufungsgericht hat die Haft für einen Dissidenten, der einen Artikel über Demokratie im Internet veröffentlicht hatte, von 13 auf 5 Jahre verringert. Das teilte ein Justiz-Sprecher am Dienstag in der Hauptstadt Hanoi mit. Phan Hong Son war im Juni nach den Gesetzen des kommunistischen Landes der Spionage für schuldig befunden worden, weil er einen Aufsatz des US- Außenministeriums mit dem Titel "Was ist Demokratie?" übersetzt und ins Netz gestellt hatte. Der Haftstrafe soll sich allerdings ein dreijähriger Hausarrest anschließen, sagte der Sprecher.
Die US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch rief die vietnamesische Führung auf, Son umgehend freizulassen. Das Verfahren sei nicht fair und widerspreche internationalen Vereinbarungen über die Menschenrechte. "Verteidiger können nichts ausrichten, weil es ein politischer Prozess ist", sagte Regionaldirektor Brad Adams. Die vietnamesische Regierung blockiert bereits den Zugriff auf rund 2000 Webseiten, von denen die meisten politischen oder pornografischen Inhalt haben. Sämtliche Medien des Landes unterliegen strikter Kontrolle des Staates.“
Die Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 bestätigt das, der zufolge nämlich
„Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.
Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde beispielsweise Dr. Nguyen Dan Que lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte (vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004, S. 416). Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.)
2.4.3 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den Tatsachen, wie sie aus Vietnam von Sachverständigen berichtet werden (s.o.) und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es „unerheblich“ sein soll,
„ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.“
Gegenüber den Verhältnissen des Jahres 1994 haben sich somit die maßgeblichen Entscheidungskomponenten in den letzten Jahren gravierend verändert - was bei Betrachtung der Nachrichtenlage und der geltenden Vorschriften offenkundig ist.
2.4.4 Die dem Kläger als einem fundamental „Andersdenkenden“ bzw. Dissidenten bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv, was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte. Er ist seit 2004 Mitglied des Hamburger Vereins vietnamesischer Flüchtlinge und hat dort „sehr viele Veranstaltungen mitorganisiert“ (Protokoll der mündlichen Verhandlung v. 1.6.2005, S. 2). Früher war er stets „ständiger Gast“ und wurde zu allen Veranstaltungen eingeladen. Er war damit exilpolitisch tätig. Daneben hat er nicht nur für die Zeitschrift „Canh-En“ (Schwalbenflügel) kritische Artikel geschrieben, die er auch finanziell unterstützt hat (Bl. 44 d. GA), sondern er hat auch an zahlreichen Demonstrationen, Veranstaltungen und Diskussionen teilgenommen und diese „mitorganisiert“ (Protokoll der mündl. Verhandlung v. 1.6.2005, S. 2). In den Jahren 2003 bis 2005 war er regelmäßig an den Demonstrationen vor der vietnamesischen Botschaft in Berlin beteiligt, wo er gefilmt und registriert wurde. Auf diese Weise ist er den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist er als Dissident bereits datentechnisch erfasst und registriert. Belegt wird das dadurch, dass er anlässlich einer Registrierung im vietnamesischen „Stammbuch“ gestrichen wurde, was seine Eltern in große Angst versetzt hat. Dieses entspricht der vietnamesischen Praxis, auch auf die Familie eines Dissidenten psychologisch Druck auszuüben und sie zu drangsalieren. Zu Recht hat der Kläger darauf verwiesen, dass Vietnam ein „Polizeistaat“ sei und es folglich gegen Willkürmaßnahmen in Vietnam keinen geordneten und verlässlichen Rechtsschutz gibt. Die vietnamesische Führung fordert offenbar unbedingten Gehorsam ein und straft „Abweichler“ bzw. solche, die dafür gehalten werden, mit Härte ab. Nur absolut angepasste und gehorchende Bürger bleiben von staatlichen Maßnahmen verschont. Hierzu gehört der Kläger nicht. Denn unter Einbeziehung dessen, was er bislang in Deutschland betrieben hat (Demonstrationen, Teilnahme an Diskussionen), dürften genügend Gründe vorliegen, gegen den Kläger vorzugehen.
Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie an sich „unerheblich“, ob der Kläger aufgrund seiner „Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung“ in irgendeiner Weise „tätig geworden ist“ (s.o). Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG schon als solche geschützt. Dabei ist davon auszugehen, dass der gesamte Vortrag des Kläger eine politische Überzeugung widerspiegelt, die auf die Wahrnehmung von Menschen- und Freiheitsgrundrechten zurückgeht:
„Politische Überzeugung“ sollte im weitesten Sinn verstanden werden und jede Meinung zu jeder Angelegenheit einschließen, auf die der Staatsapparat, die Regierung, die Gesellschaft oder die Politik Einfluss nehmen. Dazu kann auch eine Meinung zu den Rollenbildern der Geschlechter gehören. Auch unangepasstes Verhalten, das den Verfolger veranlasst, der Person eine politische Überzeugung zuzuschreiben, fällt in diese Kategorie. An sich gibt es in diesem Sinn keine immanent politische oder immanent unpolitische Tätigkeit, doch kann ihr Wesen anhand des Gesamtbildes des Falles bestimmt werden. Ein mit politischer Überzeugung begründeter Antrag setzt hingegen voraus, dass der Antragsteller oder die Antragstellerin Auffassungen vertritt oder vermeintlich vertritt, die von den Behörden oder der Gesellschaft nicht toleriert werden, da sie Ausdruck einer kritischen Haltung gegenüber ihrer Politik, Tradition oder Methodik sind. Voraussetzung ist ferner, dass diese Ansichten den Behörden oder den betreffenden Teilen der Gesellschaft zur Kenntnis gelangt sind oder gelangen könnten oder von diesen den Antragstellenden unterstellt werden. Eine solche Meinung muss nicht unbedingt zum Ausdruck gebracht worden sein, und es ist auch nicht erforderlich, dass bereits irgendeine Form von Diskriminierung oder Verfolgung stattgefunden hat. Unter diesen Umständen müssten bei der Entscheidung, ob begründete Furcht vorliegt oder nicht, die Folgen berücksichtigt werden, die Antragstellende mit einer bestimmten politischen Einstellung zu tragen hätten, wenn sie in dieses Land zurückkehren würden.“
(UNHCR Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32):
Bei einer derartigen Folgenbetrachtung ist hier für den Kläger einzubeziehen, dass in Vietnam gerade die (politische) Gesinnung, das Denken, die Einstellung sehr genau kontrolliert und überwacht wird. Die Aktivitäten haben - entgegen der Auffassung der Beklagten - weniger Gewicht. Ein Staatsbürger, der bereits durch abweichendes Verhalten, durch Verfassen von kritischen Zeitungsartikeln und durch sonstige exilpolitische Aktivitäten aufgefallen ist und der sich sehr engagiert betätigt hat, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit aus Gründen seiner abweichenden politischen Gesinnung erheblich diskriminiert, verfolgt und ggf. auch gefoltert, zumindest mit Härte „umerzogen“ werden.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 1. Juni 2005 glaubwürdig dargestellt, dass sein Engagement und seine Teilnahme an Demonstrationen (vgl. die diversen Bescheinigungen in den Akten und Beiakten) letztlich darauf abzielen, mehr Menschenrechte und Religionsfreiheit in Vietnam zu erreichen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass all diese Tätigkeiten des Klägers als eine „zersetzende Propaganda“ eingeschätzt werden dürfte, die zum einen den Sicherheitsorganen bekannt geworden ist und die zum anderen harte Strafen nach sich ziehen werden. Der Kläger hat dargestellt, dass er bei Demonstrationen vor der vietnamesischen Botschaft in Berlin gefilmt worden sei, die Botschaft also wisse, wer er sei. Aus so beschafften Informationen dürften in Vietnam dann auch Konsequenzen gezogen werden. Als überzeugter Anhänger einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist er daher im Falle einer Rückkehr nach Vietnam in einem sehr hohen Maße gefährdet. Seine Meinung angepasst zurückzuhalten, kann ihm nicht angesonnen werden. Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch seine Asylantragstellung in Vietnam somit als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Dissident angesehen werden.
Denn politische Betätigung - ob nun im In- oder Ausland - wird in Vietnam nach wie vor regelmäßig verfolgt und hart bestraft. Vgl. dazu das Gutachten von G. Will v. 2. Mai 2003:
„2. Bis zu dem oben unter 1) geforderten Beweis des Gegenteils muss davon ausgegangen werden, dass Verfasser regimekritischer Internetbeiträge wie Verfasser regimekritischer Zeitschriftenbeiträge im Falle einer Rückkehr nach Vietnam mit einer Bestrafung rechnen müssen. Die entsprechenden Artikel des vietnamesischen StGB lassen hier keine Zweifel zu. Für die Erhebung einer Anklage spielt das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist vielmehr, ob der oder die Beschuldigte gute Beziehungen zu hohen Führungspersönlichkeiten hat, die bereit sind, ihn zu schützen oder ob der oder die Beschuldigte selbst zur Nomenklatura gehört bzw. gehört hatte, sodass eine Anklageerhebung und Verurteilung zu unerwünschten politischen Folgen führen könnten. Das Ausmaß der regimekritischen Aktivitäten wird allenfalls bei der Zumessung des Strafmaßes Berücksichtigung finden.
Meine diesbezüglichen Erwartungen stützen sich zunächst auf die auch Ihnen bekannten drakonischen Haftstrafen, mit denen in jüngster Zeit regimekritische Internetaktivisten verurteilt wurden, obwohl einige von ihnen keineswegs zum Sturz des Regimes aufgerufen, sondern lediglich die Politik der Regierung gegenüber der VR China kritisiert hatten. Es ist weder aus logischen Gründen noch von den Bestimmungen des vietnamesischen StGB her betrachtet einzusehen, warum ein regimekritischer Internetaktivist, wenn er im Inland agiert, hart bestraft wird, aber wenn er vom Ausland aus agiert, straffrei ausgehen soll. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, so hat eine Reihe von wütenden Angriffen auf regimekritische Internetbeiträge, die Mitte April dieses Jahres in der Armee-Zeitung erschienen sind, deutlich gemacht, dass die vietnamesische Führung entschlossen ist, gegen "feindliche Kräfte", ganz gleich ob sie im Inland oder vom Ausland aus sich des Internets bedienen, um ihre regimekritischen Vorstellungen zu verbreiten, mit aller Härte vorgehen und die Kontrolle über das Internet weiter verschärfen wollen.
Somit ist es für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam unerheblich, in welchem Maße exilpolitische Betätigungen vorliegen und ob sie eine bestimmte - mehr oder weniger hohe - „Schwelle“ überschreiten. Allein entscheidend ist die abweichende, nicht mehr „linientreue“ Gesinnung, die hinter den entsprechenden Aktivitäten steht. Hierbei sind unbekannte und weniger prominente Bürger - wie der Kläger - eher gefährdet als Personen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen (VG München, Asylmagazin 2003, 30; Dr. Weggel, Stellungn. v. 10.8.2003 an VG Darmstadt). Für Verfolgungsmaßnahmen in Vietnam selbst sind dann (Partei-)Beziehungen entscheidend, über welche der Kläger nicht verfügt, oder aber Zufälligkeiten anderer Art.
2.4.5 Im Übrigen ist die politisch motivierte Einschränkung der allgemeinen Religionsfreiheit in Vietnam, die vom vietnamesischen Staat eingesetzt wird, um religiöse Organisationen aller Art zu kontrollieren und zu verfolgen, für den entsprechend engagierten Kläger des Weiteren Anknüpfungspunkt und Motiv für sein - berechtigtes - Meinungsäußerungs- und Demonstrationsverhalten in Deutschland. Er hat sich deutlich für Religionsfreiheit in Vietnam eingesetzt und sich für Vorträge zum Thema „Die Verletzungen der Religionsfreiheit in Vietnam“ engagiert sowie eine entsprechende „Protestnote“ mitgetragen und mitunterzeichnet (Bl. 42 GA). Er hat an den Mahnwachen in Berlin und an einer Kundgebung vor der Botschaft der Soz. Rep. Vietnam zugunsten von Priestern und buddhistischen Mönchen teilgenommen (Bl. 54 GA), was von vietnamesischen Sicherheitskräften erfahrungsgemäß erfasst und registriert worden sein dürfte.
Angesichts der dargestellten Menschenrechtslage (s.o.) in Vietnam ist daher bei einer prognostischen Einschätzung zu erwarten, dass der Kläger auch aus diesem Grunde seines religiös motivierten Engagements Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein wird. Denn der vietnamesische Staat ist mit seinen Organen gegenüber Religionsgemeinschaften und entsprechenden Organisationen einschließlich ihrer Anhänger bzw. Mitglieder nicht tolerant. Sämtliche Gesetze, die (allerdings nur) theoretisch eine Religionsfreiheit garantieren, stehen in Vietnam unter dem Vorbehalt, dass die Freiheit nicht dazu missbraucht werden dürfe, den oft unbestimmt gehaltenen Gesetzen und der Politik Vietnams - einer Diktatur - zuwiderzuhandeln. Derartige Klauseln einschließlich ihrer politisch motivierten Auslegung stellen von jeglicher Gesetzesbindung frei und erlauben in der tagtäglichen Praxis eine „weitgehende Einschränkung“ des entsprd. Rechts auf Religionsfreiheit (AA Lagebericht v. 12.2.2005). Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher strikt untersagt und wird staatlich verfolgt. Die Unruhen im zentralen Hochland im Februar 2001 müssen daher auch im Kontext dieses Konfliktes um Religionsfreiheit gesehen werden (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 8).
Vgl. dazu Amnesty international im Länderbericht Vietnam v. Juni 2001:
„Die Artikel 69 und 70 der vietnamesischen Verfassung von 1992 garantieren Meinungs- und Religionsfreiheit. Die Verfassung besagt aber auch, dass "niemand die Religion missbrauchen darf, um Gesetze und Praktiken des Staats zu verletzen". Diese Einschränkung der freien Religionsausübung wird von der vietnamesischen Regierung eingesetzt, um religiöse Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen. Einige religiöse Gruppen, wie z.B. die buddhistische Unified Buddhist Church of Viet Nam (UBCV), die buddhistische Religionsgemeinschaft Hoa Hao, der katholische Orden Congregation of the Mother Co-Redemptrix (CMC) oder Protestanten aus dem Norden des Landes, versuchen, unabhängig vom Staat zu wirken. Mitgliedern dieser Gruppen drohen Verfolgung und Inhaftierung. Von Inhaftierungen sind sowohl Angehörige des Klerus, als auch Laien betroffen.“
Vgl. dazu auch den Sachverständigen Dr. Will in seiner Stellungnahme v. 16.6.1999 an das VG Freiburg:
“Im vietnamesischen StGB werden die in der Verfassung aufgeführten Prinzipien präzisiert. So gibt es in Art. 81 c der vietnamesischen StGB den Straftatbestand “Verbreitung von Zwietracht zwischen religiös Gläubigen und Nicht-Gläubigen sowie zwischen religiös Gläubigen und der Volksmacht sowie den gesellschaftlichen Organisationen”. Für diesen Straftatbestand ist eine Gefängnisstrafe zwischen fünf und fünfzehn Jahren vorgesehen; in minder schweren Fällen zwischen zwei und sieben Jahren. Außerdem wird in Art. 199 des vietnamesischen StGB der Straftatbestand: “Betreiben abergläubischer Praktiken” aufgeführt, für den eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und drei Jahren, in besonders schweren Fällen zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen ist. Angesichts der in Vietnam praktizierten oftmals sehr weitgehenden Auslegung von Bestimmungen des StGB stehen hiermit genügend Möglichkeiten zur Verfügung, um die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern durch strafrechtliche Maßnahmen stark einzuschränken.
In den vergangenen Monaten ist außerdem eine zunehmende Nervosität der staatlichen Behörden Vietnams gegenüber den Religionsgemeinschaften zu beobachten. Da die wirtschaftliche Entwicklung längst nicht mehr so gut läuft wie zu Beginn der neunziger Jahre, die sozialen Probleme aber rasant zugenommen haben und die sozialistische Ideologie durch die wirtschaftliche Reformpolitik erheblich an Glaubwürdigkeit verloren hat, ist in Vietnam eine wachsende Orientierungslosigkeit entstanden, die viele Vietnamesen dazu bewogen hat, sich Religionsgemeinschaften zuzuwenden, die ein gültiges System von Werten und Erlösung aus der gegenwärtigen Misere versprechen. Von staatlicher Seite wird dies jedoch nur als Versuch gesehen, die staatliche Ordnung mit Hilfe und unter dem Deckmantel der Religion zu untergraben. Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden.” (...)
Vgl. dazu auch ai-Jahresbericht 2004 S. 417:
„Ungeachtet aller Bemühungen der Regierung, die Verbreitung unliebsamer Informationen zu verhindern, wurden immer wieder Vorwürfe über repressive Maßnahmen publik: So sollen vor allem im Zentralen Hochland Mitglieder verbotener protestantischer Kirchen bei Dorfversammlungen zur Abgabe von Erklärungen über den Verzicht auf ihren Glauben gezwungen worden sein.“
Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten in Vergangenheit und Gegenwart wie im Übrigen auch durch seine Asylantragsstellung in Vietnam somit als aktiver Regimegegner, als Andersdenkender, als Dissident angesehen werden.
2.4.6 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Die Präsidenten der „Volkskomitees“ auf Provinzebene dürfen hiernach jede Person bis zu 2 Jahren ohne Gerichtsverfahren inhaftieren - und auch verbannen (AA Lagebericht v. 12.2. 2005, S. 6). Es ist allerdings unklar, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Arbeits- und Verbannungslager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - „abgestraft“ werden. Angesichts des engagierten Verhaltens des Klägers bei Demonstrationen in Deutschland liegt es unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten sehr nahe, dass der Kläger bei einer Rückkehr - wie befürchtet - mit einer längeren Administrativhaft oder vergleichbaren Maßnahmen belegt werden wird.
Amnesty International geht nämlich davon aus, dass politisch Andersdenkende („Illoyale“) und Oppositionelle, die ihre abweichende Gesinnung einmal offenbart hätten, mit Mitteln staatlicher Maßnahmen aller Art, des Strafrechts sowie durch Haft - ohne jeden Prozess - in Vietnam drastisch verfolgt würden. Auch durch die ai-Stellungnahme gegenüber dem VG Neustadt/Wstr. vom 7.1.1997 wird bestätigt, dass „regimekritisches“ Verhalten, wozu in Einzelfällen auch schon humanitäre Hilfsaktionen zugunsten von Überschwemmungsopfern im Mekong-Delta zählen können (siehe FR v. 17.8.1995), ggf. hart bestraft wird, u.zw. auf der Grundlage der Staatsschutzvorschriften oder administrativer Haft (s.o.). Auch andere Erkenntnisquellen belegen diese Tendenz der harten Bestrafung „antisozialistischer Tätigkeit“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5; ai-Jahresbericht 2004, S. 414 f.; ai-Stellungn. v. 2.2.1999, ai-Schr. v. 5.11.1996 an VG Frankf./Oder; Prof. Lulei, Schr. v. 24.2.1998 an VG Frankfurt/Oder; Stellungn. Dr. G. Will an VG Berlin v. 17. Nov. 1999).
Nach einem Artikel des Sicherheitsministers in der Parteizeitung Nhân Dân vom 18.8. 2000 müsse die Regierung den „feindlichen Kräften unter den im Ausland lebenden Vietnamesen“ mit der ganzen Härte des Gesetzes begegnen. Von einer Schwelle exilpolitischer Betätigung oder Exponiertheit als Voraussetzung für staatliche Maßnahmen ist hier keineswegs die Rede gewesen, so dass potentiell jeder engagiert Andersdenkende, der das einmal gezeigt hat, betroffen sein kann.
Es bedarf keiner weiteren Ausführungen dazu, dass durch administrative Maßnahmen der in Vietnam ausdrücklich zugelassenen Art (vgl. AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5) gegen Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) verstoßen wird, zumal aus der RegierungsVO Nr. 31-CP nicht hervorgeht, unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen administrative Haftstrafen verhängt werden dürfen. Derartige Maßnahmen „unterminieren die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte“ (AA Lagebericht v. 12.2.2005, S. 5).
Der vietnamesische Dissident Doan Viet Hoat warnte im Februar 1999 denn auch davor zu glauben, dass ein wirtschaftlich prosperierendes Land automatisch schon demokratische Strukturen entfalte; bei einer Abschiebung regierungskritischer Vietnamesen drohe ihnen vielmehr Unterdrückung (so FR v. 6.2.1999). Schon das „Lesen“ regierungskritischer Zeitungen kann Verfolgungsmaßnahmen des vietnamesischen Staates auf der Grundlage der Administrativhaft nach sich ziehen (IGFM Januar 1997, S. 23; Lagebericht des AA v. 1.4.2003), so dass Meinungsbekundungen und das öffentliche Eintreten dafür - wie es der Kläger getan hat - erst recht dazu führen dürfte. Auf eine „breite Öffentlichkeitswirkung“ kommt es in Vietnam nicht an. Aktive und überzeugte Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP sind stets gefährdet und werden als „politische Straftäter“ härter als andere abgestraft (durch Isolationshaft, Limitierung von Besuchen, Briefzensur), vgl. dazu den Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 8. Da Vietnam bislang nicht der VN-Anti-Folter-konvention beigetreten ist, können zudem Folterungen bzw. „einzelne Übergriffe von Sicherheitsorganen“ (Lagebericht AA v. 12.2.2005) in keiner Weise ausgeschlossen werden. Das Schmuggeln von Flugblättern mit antikommunistischen Inhalten reicht hierfür regelmäßig schon aus (so ai -Jahres-bericht 2002, S. 604)
2.4.7 Aufgrund dieser vielschichtigen, von alten Dogmen und einem Kurs der Erneuerung sowie einer - allerdings ins Stocken geratenen - wirtschaftlichen Öffnung des Landes bestimmten Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. Es ist damit mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv „behandelt“ wird oder nicht. Richter werden nach ihrer politischen Zuverlässigkeit ausgesucht und haben den politischen Organen strikt zu gehorchen. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht eingehalten wird (so schon Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999).
Staatliche Repressionen hängen oft von lokalen Gegebenheiten ab (Lagebericht AA v. 12.2.2005, S. 9). Allein der Besitz antikommunistischer Flugblätter kann für eine Verurteilung ausreichen, Kritiker der regierungsamtlichen Politik werden willkürlich verfolgt und schikaniert (ai-Jahresbericht 2002, S. 604). Vgl. dazu den IGFM-Jahresbericht 2004:
„In den letzten zwei Jahren wurden die politischen Dissidenten wie bei einer Entführung festgenommen. Die Familien der Opfer wurden von der Verhaftung nicht informiert und erhielten monatelang weder Information über den Verhaftungsgrund noch den Haftort.
Die Untersuchungshaft überschreitet in der Regel die vom Gesetz vorgegebene Frist. Während der Untersuchungshaft (in einigen Fällen bis zu 16 Monaten) durften die politischen Gefangenen ihre Familien nicht sehen, um den Druck auf sie zu verstärken. So durften die Ehefrauen von Dr. Pham Hong Son und Herrn Nguyen Vu Binh ihre Ehemänner 15 bzw. 16 Monaten lang nicht besuchen.
Selten stimmten die bei der Verhaftung angegebenen Gründe mit der Anklage überein, in manchen Fällen wurden sie während der Untersuchungshaft mehrmals geändert, so dass der Eindruck entstand, Anklage und Urteilspruch würden politisch diktiert. Die Verteidigung wurde in ihrer Arbeit vehement gehindert, in einzelnen Fällen konnte sie ihren Mandanten nur wenige Stunden vor Beginn der Verhandlung treffen und die Akten einsehen. Die meisten Prozesse gegen Dissidenten dauerten nicht länger als ein paar Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Meistens durfte nur ein enger Verwandter des Angeklagten an dem Prozess teilnehmen.“
Der Sachverständige Dr. G. Will hat sich diesbezüglich wie folgt zur Lage in Vietnam gutachterlich geäußert (Stellgn. v. 14.9.2000 an VG München, S. 3):
„Berücksichtigt man all diese Faktoren, so wird zumindest erklärbar, warum manche auch gegenüber ausländischen Medien geäußerte Auffassungen prominenter Oppositioneller ohne nennenswerte Sanktionen und Repressionen hingenommen werden, während kritische Anmerkungen eines unbekannten Bürgers sehr schwerwiegende Bestrafungen nach sich ziehen können.“
Die Gefahr einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG besteht dabei generell für Personen, die in Opposition zur gegenwärtigen Regierung und herrschenden Ideologie stehen und öffentlich Aktivitäten unternehmen bzw. (wie vor allem der Kläger) bereits unternommen haben. Im Falle eines inhaltlich regimekritischen, von der Parteidoktrin abweichenden Verhaltens kann die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).
Somit ist es (prognostisch) beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Ebenso ist das auch schon - unter anderen Voraussetzungen - 1992 in zutreffender Weise vom VG Braunschweig eingeschätzt worden (Urteil des VG Braunschweig v. 14.7.1992 - 3 A 3173/92 -, Bl. 40 ff. /Bl. 46 der Altakten) , woran heute unter veränderten Bedingungen erst recht festzuhalten ist.
Der Kläger ist folglich nach allem als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen. Es ist festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
3. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG, die lediglich hilfsweise beantragt worden ist, kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG analog).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.