Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 23.03.2004, Az.: 4 A 213/02
Eingliederungshilfe; lebenspraktische Fertigkeiten; Rehabilitation; Rehabilitationsunterricht; sonderpädagogische Betreuung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 23.03.2004
- Aktenzeichen
- 4 A 213/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50601
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 39 BSHG
- § 40 BSHG
- § 55 Abs 2 Nr 3 SGB 9
- § 2 Abs 1 SGB 10
- § 55 SGB 9
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme von Kosten für Rehabilitationsunterricht.
Der 1952 geborene Kläger ist seit Geburt mehrfachbehindert. Er ist seit dem 16. Januar 1997 in der Wohnstätte „A.“ der Lebenshilfe GmbH B. vollstationär untergebracht. Daneben wird er teilstationär in der Werkstatt für Behinderte betreut. Der Beklagte gewährt ihm für beide Einrichtungen Eingliederungshilfe.
Am 17. Mai 2001 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für einen Rehabilitationsunterricht zur Erlangung lebenspraktischer Fertigkeiten. Er leide u.a. an einer starken Sehbeeinträchtigung. Dies führe im alltäglichen Leben zu erheblichen Schwierigkeiten. Er sei immer öfter auf Hilfestellung durch pädagogische Mitarbeiter und Mitbewohner angewiesen. Eine Sehhilfenberatung beim Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg e.V. habe ein Rehatraining empfohlen, damit er Erfahrungen sammeln könne, um seinen Sehverlust zu kompensieren. Als Anlage fügte er einen Kostenvoranschlag des Instituts für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter e.V. (IRIS) vom 24. April 2001 bei. Nach dem ebenfalls beigefügten Informationsblatt bietet das Rehabilitationstraining Hilfen und Methoden an, „nicht-sehend“ oder mit einem Restsehvermögen den Alltag sicherer und selbständiger zu bewältigen. Durch individuell angepassten Unterricht aus den verschiedenen Teilbereichen (z.B. Essensfertigkeiten, Grundfertigkeiten des Kochens und des Nähens; Kleiderpflege, Haushaltstechniken, Körperpflege, häusliche Reparaturen und Kommunikationsfertigkeiten) erwerbe der blinde oder sehbehinderte Teilnehmer die Fähigkeit, seinen Alltag besser zu bewältigen.
Mit Bescheid vom 11. Juli 2001 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung bezog er sich auf ein Rundschreiben des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben, nach dem die gesamte erforderliche Hilfe für den behinderten Menschen vom Träger der stationären Einrichtung, in der sich dieser befinde, erbracht werden müsse. Dies gelte auch, wenn besondere ergänzende Fördermaßnahmen erforderlich seien. Der Kläger erhalte Eingliederungshilfe in der stationären Einrichtung der Lebenshilfe in A.. Der Träger der Einrichtung müsse grundsätzlich die gesamte erforderliche Hilfe erbringen. Hierzu gehörten ebenfalls die in Einzelfällen erforderlichen heilpädagogischen Fördermaßnahmen wie der beantragte Rehabilitationsunterricht. Wenn diese Hilfe erforderlich sei, sei sie Bestandteil der stationären Betreuungsmaßnahme und müsse über den Pflegesatz abgerechnet werden.
Der Kläger legte dagegen am 1. August 2001 Widerspruch ein. Die Lebenshilfe sei keine Facheinrichtung für Sehgeschädigte und Blinde. Die Pflegesätze seien für geistig behinderte Menschen konzipiert. Blindheit sei keine geistige Behinderung und verlange andere blindenspezifisch pädagogische Gesichtspunkte.
Nach der amtsärztlichen Stellungnahme von Frau Dr. C. vom 29. August 2001 liegt bei dem Kläger eine Mehrfachbehinderung vor. Aufgrund einer frühkindlichen schweren Erkrankung seien mehrere Organsysteme betroffen. Es liege eine erhebliche Sehbehinderung vor, die Sehleistung sei schwankend. Weiterhin bestünden Behinderungen im grob- und feinmotorischen Bereich sowie eine geistige Behinderung. Unter Berücksichtigung der neben der Sehbehinderung vorliegenden Retardierungen sei zweifelhaft, ob das Rehatraining zu einer deutlichen Verbesserung der lebenspraktischen Fertigkeiten bei dem Kläger führe. Der Kläger sei im Bereich der Körperpflege und bei der Tabletteneinnahme ohnehin auf Hilfe angewiesen. Da er in einer Wohnstätte der Lebenshilfe stationär betreut werde, entfielen Tätigkeiten wie z.B. Fußboden reinigen oder Zubereiten einer warmen Mahlzeit. Da seine Konzentrationsfähigkeit Schwankungen unterliege, sei fraglich, inwieweit er die Inhalte des Trainings verstehen und umsetzen könne. Die Rehabilitationsmaßnahme sei daher zur Zeit nicht notwendig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Mai 2002 wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben den Widerspruch des Klägers zurück. Bei der beantragten Maßnahme zur Erlangung lebenspraktischer Fertigkeiten handele es sich um einen Teil des abgestimmten Leistungsangebotes der Wohnstätte und werde für den Kläger, wie dem Entwicklungsbericht vom 8. Dezember 1999 zu entnehmen sei, bereits durch einen auf ihn individuell abgestellten Hilfeplan im Rahmen dieses Maßnahmenkataloges durch die Einrichtung erbracht. Aufgrund des Betreuungsumfangs einerseits und des Ausmaßes der Mehrfachbehinderung andererseits werde die Notwendigkeit einer zusätzlichen Rehabilitationsmaßnahme durch das amtsärztliche Gutachten verneint.
Der Kläger hat am 5. Juni 2002 Klage erhoben.
Zur Begründung trägt er vor, dass es einer speziellen sonderpädagogischen Betreuung für Blinde und Sehbehinderte bedürfe, wenn ein Training zur Erlangung lebenspraktischer Fertigkeiten durchgeführt werden solle, denn dieses Training könne nicht über Nachahmungseffekte vermittelt werden. Das Fachpersonal stoße im Hinblick auf seine hochgradige Sehbehinderung an die Grenzen eines entwicklungsorientierten Umgangs mit ihm. Der Beklagte hätte vor Ort prüfen müssen, ob die Betreuung in der Einrichtung, soweit sie für den lebenspraktischen Bereich notwendig sei, sichergestellt werde. Sollte dies nicht der Fall sein, müsse der Pflegesatz erhöht werden, damit die Einrichtung in die Lage versetzt werde, entsprechendes Fachpersonal anzustellen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 7. Mai 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für die Durchführung des Trainings zur Erlangung von lebenspraktischen Fertigkeiten bei dem Institut für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter e.V. (IRIS), Bachstraße 30 in Hamburg, zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen.
Im Klageverfahren sind die Leistungsbeschreibung der Einrichtung und der am 21. Januar 1999 geschlossene Heimvertrag vorgelegt worden. Nach dem Heimvertrag gehört zu den Leistungen des Trägers auch die pädagogische und heilpädagogische Förderung in den lebenspraktischen Verrichtungen, der persönlichen Lebensführung und im sozialen Verhalten (§ 1 Nr. 2 g).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 11. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 7. Mai 2002 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte ihm für die Durchführung des Trainings zur Erlangung von lebenspraktischen Fertigkeiten bei dem Institut für Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter e.V. (IRIS) Eingliederungshilfe gewährt.
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Nach § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Der Kläger gehört unstreitig zu diesem Personenkreis. Unter die Maßnahmen der Eingliederungshilfe fallen gem. § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB IX, zu denen gem. § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten gehören, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die hier beantragte Maßnahme zur Erlangung von lebenspraktischen Fertigkeiten fällt daher grundsätzlich unter die Leistungen der Eingliederungshilfe.
Der Kläger hat aber deshalb keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe für die begehrte Maßnahme, weil der Beklagte ihm bereits Eingliederungshilfe gewährt und zwar für die Unterbringung in der Wohnstätte „A.“ der Lebenshilfe. Nach dem zwischen dem Kläger und der Lebenshilfe am 21. Januar 1999 geschlossenen Heimvertrag gehört die pädagogische und heilpädagogische Förderung in den lebenspraktischen Verrichtungen, der persönlichen Lebensführung und im sozialen Verhalten zum Leistungsumfang der Einrichtung. Auch nach der Leistungsbeschreibung der Wohnstätten der Lebenshilfe fällt die Förderung lebenspraktischer Fertigkeiten unter das Leistungsangebot dieser Einrichtungen. Wenn aber schon die Einrichtung nach dem Heimvertrag verpflichtet ist, den Kläger im lebenspraktischen Bereich zu fördern, kann er dafür keine zusätzlichen Maßnahmen außerhalb der Einrichtung beanspruchen. Vielmehr hat sich der Kläger an die Einrichtung zu wenden und ihr gegenüber seinen Anspruch aus dem Heimvertrag geltend zu machen. Soweit der Kläger vorträgt, er bedürfe aufgrund seiner Sehbehinderung einer speziellen sonderpädagogischen Betreuung, die die Einrichtung nicht leisten könne, kann dies nicht zu einem Anspruch gegen den Beklagten führen. Die Einrichtung hat in Kenntnis der seit Geburt bestehenden Mehrfachbehinderung des Klägers, zu der auch die starke Sehbehinderung gehört, den genannten Vertrag geschlossen und sich zur Leistungserbringung gegenüber dem Kläger verpflichtet. Daran muss sie sich festhalten lassen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass im Übrigen erhebliche Zweifel daran bestehen, ob die begehrte Maßnahme für den Kläger notwendig und geeignet ist, um über die bisher von der Einrichtung geleistete Betreuung hinaus, seine lebenspraktischen Fertigkeiten zu verbessern. So ist der Kläger nicht nur aufgrund seiner Sehbehinderung sondern auch wegen seines Anfallsleidens außerhalb des Wohnheims auf Begleitung durch einen Mitarbeiter des Wohnheims angewiesen. Auch bei den täglichen Versorgungsleistungen und im hauswirtschaftlichen Bereich benötigt er vielfache Hilfestellungen. Nach dem amtsärztlichen Gutachten vom 29. August 2001 ist aufgrund der Behinderungen des Klägers und seiner schwankenden Konzentrationsfähigkeit die beantragte zusätzliche Rehabilitationsmaßnahme nicht als notwendig angesehen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 124 a VwGO i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO liegen nicht vor.