Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 25.03.2004, Az.: 3 A 148/02

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
25.03.2004
Aktenzeichen
3 A 148/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 43308
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2004:0325.3A148.02.0A

In der Verwaltungsrechtssache

...

Streitgegenstand: Gebühren für polizeiliche Maßnahmen,

hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 2004 durch...

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2002 wird aufgehoben.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Polizeigebühren.

2

Die am C. 1975 geborene Klägerin hielt sich im Rahmen des damaligen Castor-Transportes am 26. März 2001 in einem Waldgebiet von D. auf. Um 14.45 Uhr wurde sie in Gewahrsam genommen. In dem diesbezüglich erstellten Sammelbericht ist ausgeführt, dass Personen sich im Waldgebiet von D. aufgehalten hätten und nach Aussage von Zivilbeamten des Bundesgrenzschutzes an einer Gleisblockade beteiligt hätten. Hierbei seien die Gleise mit Baumstämmen blockiert und die Schottersteine entfernt worden. Die Klägerin wurde zur Gefangenensammelstelle E. verbracht.

3

Am 27. März 2001 beantragte die Polizei bei dem Amtsgericht Dannenberg telefonisch die Ingewahrsamnahme der Klägerin bis zum 28. März 2001, 24.00 Uhr, bzw. zur Ankunft des Castors im Zwischenlager. In der "Gefahrenprognose für in Gewahrsam genommene Personen aus dem Bereich zwischen F. und G., LK Lüneburg vom 26.03.2001" der Beklagten vom selben Tage wurde dargelegt, dass sich gegen 11.30 Uhr ca. 150 teilweise vermummte Personen im Bereich des Camps F. befunden und sich zu einem Aufzug mit Marschstrecke in Richtung Bahnhof G. formiert hätten. Dieser unangemeldete Aufzug habe ca. 200 Meter davor gestoppt werden können. Durch den Hundertschaftsführer vor Ort sei der Aufzug aufgelöst worden. Den Teilnehmern sei Gelegenheit gegeben worden, die Örtlichkeit zu verlassen. Die Personen, die nicht der Aufforderung hätten Folge leisten wollen, seien in Gewahrsam genommen und der GeSa E. zugeführt worden. Nach vorliegenden Erkenntnissen bestehe weiterhin die Gefahr, dass die Personen nach einer Entlassung aus dem Gewahrsam erneut versuchen würden, Störaktionen an den Gleisen vorzunehmen, um das vorgegebene Ziel der Verhinderung des Castortransportes zu erreichen. Aus diesem Grund werde beantragt, die Personen bis zur Einfahrt des Castortransportes in das Zwischenlager in Gewahrsam zu belassen, höchstens jedoch bis zum Ablauf des 4. Tages.

4

Die Klägerin wurde zur Ingewahrsamnahme im Verfahren 12 XIV 14/01 L des Amtsgerichtes Dannenberg am 27. März 2001 angehört und erklärte, sie sei im Wald gewesen, als sie festgenommen worden sei. Das sei weit von den Gleisen entfernt gewesen. Man könne von dort die Gleise nicht sehen. Sie sei nicht auf den Gleisen gewesen und habe diese auch nicht mit Baumstämmen blockiert. Sie habe auch keine Schottersteine entfernt.

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Mit Beschluss vom 27. März 2001 hob das Amtsgericht Dannenberg die Anordnung der Ingewahrsamnahme der Polizeibehörde vom 26. März 2001 auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen, unter denen gem. § 19 NGefAG die Ingewahrsamnahme der Klägerin zulässig sei, seien nach dem, insbesondere aufgrund richterlicher Anhörung und zusätzlicher Ermittlungen, festgestellten Sachverhalt nicht gegeben. Nach allem sei die sofortige Freilassung der Klägerin anzuordnen.

6

Am 10. Mai 2001 beantragte die Klägerin bei dem Amtsgericht Dannenberg, der Polizeibehörde die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da von Anfang an die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme nicht vorgelegen hätten. Mit Beschluss vom 8. Juli 2002 hat das Amtsgericht Dannenberg den Antrag, der Polizeibehörde die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, zurückgewiesen mit der Begründung, die Kosten seien einem Beteiligten nur aufzuerlegen, wenn grobes Verschulden vorliege. Grobes Verschulden stelle die Außerachtlassung der nach Lage der Dinge gebotenen Sorgfalt in erheblichem Umfang dar. Ein derartiges Verschulden der Polizei sei nicht zu erkennen. Der Verdacht der Polizei, dass die Klägerin sich an einer Gleisblockade beteiligt habe, habe bestanden und sei erst in der richterlichen Anhörung der Klägerin ausgeräumt worden.

7

Nach vorheriger Anhörung wurde mit Heranziehungsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 2002 gegenüber der Klägerin für die Unterbringung in Polizeigewahrsam 19,43 EUR und für die Beförderung mit Polizeifahrzeug 35,79 EUR (insgesamt also 55,22 EUR) festgesetzt, weil sie am 26. März 2001 gegen 15.00 Uhr mit einem Dienst-Kfz der Polizei nach E. verbracht und dort dem Polizeigewahrsam zugeführt worden sei. Den dagegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. März 2002 zurück.

8

Am 11. April 2002 hat die Klägerin Klage erhoben.

9

Die Klägerin trägt vor: Der Beklagten stünden die geltend gemachten Gebühren nicht zu, da die dem Heranziehungsbescheid zugrunde liegende Ingewahrsamnahme nicht rechtmäßig gewesen sei. Beobachtungen der Beamten hätten sich auf andere Personen bezogen haben müssen als sie selbst. Die Festnahme sei auch außerhalb desjenigen Bereichs erfolgt, der durch eine Allgemeinverfügung zum Zwecke von etwaigen Demonstrationen nicht habe betreten werden sollen. Sie habe sich über 22 Stunden in Gewahrsam der Polizei befunden. Erst am 27. März 2001 habe die Polizei per Telefax das Amtsgericht Dannenberg von der Ingewahrsamnahme unterrichtet. Die Polizei sei jedoch verpflichtet gewesen, das Gericht unverzüglich zu benachrichtigen und nicht erst am darauf folgenden Tag. Unabhängig davon, ob überhaupt eine Ingewahrsamnahme rechtmäßig gewesen sei, sei sie dadurch unrechtmäßig geworden, dass das Gericht erst am folgenden Tag über die Freiheitsbeschränkung habe entscheiden können. Aus der Entscheidung des Amtsgerichts Dannenberg sei zudem zu entnehmen, dass die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme von Anfang an nicht gegeben gewesen seien. Soweit das Amtsgericht in seiner Entscheidung über die Kosten von einem bestehenden Verdacht ausgegangen sei, der wiederum die Ingewahrsamnahme rechtfertigt habe, so sei die vom Amtsgericht Dannenberg getroffene Entscheidung nicht nachvollziehbar. Das Verwaltungsgericht sei nach ihrer Auffassung an die Feststellungen gebunden, die das Amtsgericht am 27. März getroffen habe.

10

Die Klägerin beantragt,

den Heranziehungsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2002 aufzuheben.

11

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung und trägt ergänzend vor: Von Bedeutung sei, dass das Amtsgericht in der Begründung der Entscheidung über die Kosten darauf verweise, dass der Verdacht der Polizei, der zu der Ingewahrsamnahme der Klägerin geführt habe, bestanden habe und erst in der richterlichen Anhörung ausgeräumt worden sei. Auch das Amtsgericht gehe daher von einer Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme aus.

13

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze, die Verwaltungsvorgänge und die Gerichtsakte des Verfahrens 12 XIV 14/01 L des Amtsgerichts Dannenberg verwiesen.

Entscheidungsgründe

14

Die Klage ist zulässig und begründet.

15

Der Heranziehungsbescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

16

1. Rechtsgrundlage für die Heranziehung der Klägerin ist § 1 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a NVwKostG. Danach werden für Amtshandlungen in Angelegenheiten der Landesverwaltung - und damit auch für Amtshandlungen der Polizei Gebühren und Auslagen erhoben, wenn die Beteiligten zu der Amtshandlung Anlass gegeben haben. Die einzelnen Amtshandlungen sind in Gebührenordnungen bestimmt (§ 3 a. a. O.), nämlich in der Allgemeinen Gebührenordnung - AllGO -.

17

Nach Ziffer 67.1 der AllGO (die in der Gesetzessammlung "März" zu Unrecht als "gestrichen" bezeichnet wird) wird eine Gebühr in Höhe von 38,-- DM erhoben für die "Unterbringung im Polizeigewahrsam je angefangener Tag (24 Stunden)";

18

nach Ziffer 67.2 werden 70,-- DM Gebühr erhoben für die "Beförderung von in Gewahrsam genommenen oder hilflosen Personen mit Polizeifahrzeugen".

19

Aufgrund dieser Rechtsvorschriften ist die Summe von insgesamt 108,-- DM (55,22 EUR) richtig errechnet worden. Der Heranziehungsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides leidet auch im Übrigen nicht an formellen Mängeln.

20

2. Die Heranziehung der Klägerin zu den Gebühren für die polizeilichen Maßnahmen ist jedoch materiell rechtswidrig.

21

Stehen ein Kostenbescheid und die zugrunde liegenden Polizeimaßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer zunächst grundrechtlich geschützten und dann aufgelösten Versammlung, ist der Kostenbescheid nur rechtmäßig, wenn die Polizeimaßnahmen nicht gegen Art. 8 GG verstoßen. Nach Art. 8 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

22

Die Ziffern der Allgemeinen Gebührenordnung, auf die sich der Kostenbescheid stützt, lassen allerdings offen, ob der bloße Umstand des Transportes und des Gewahrsams für den Kostenanspruch ausreichend sind oder ob die Maßnahmen auch grundrechtskonform sein müssen. Der Frage kommt gerade dann besondere Bedeutung zu, wenn die Polizeimaßnahmen - wie hier Ingewahrsamnahme und Transport - anlässlich einer Versammlung durchgeführt worden sind und der Kostenschuldner geltend macht, die Polizeimaßnahmen hätten in sein Grundrecht der Versammlungsfreiheit eingegriffen und Art. 8 GG missachtet.

23

Die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG besitzt, ähnlich wie die Meinungsfreiheit, für die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen und für die demokratische Ordnung grundlegende Bedeutung. Verbot und Auflösung einer Versammlung stellen die intensivsten Eingriffe in das Grundrecht dar. Sie sind daher an strenge Voraussetzungen gebunden und dürfen nur ausgesprochen werden, wenn dies zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist und wenn eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung abgewendet werden muss. Gleiches gilt für Beschränkungen einer Versammlung, etwa den Erlass von Auflagen. Eine Versammlung, die sich im Rahmen des Art. 8 GG hält, ist "polizeifest".

24

Wird eine Versammlung nicht ordnungsgemäß aufgelöst oder beschränkt, und wird ein friedlicher Versammlungsteilnehmer, der den verfassungsrechtlichen Rahmen des Art. 8 GG nicht überschreitet, in Polizeigewahrsam genommen und mit dem Polizeifahrzeug vom Versammlungsort wegtransportiert, wäre dies grundrechtswidrig. Im Hinblick auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG und dem Grundrechtsschutz, der vollziehende Gewalt und Rechtsprechung verpflichtet (Art. 1 Abs. 2 GG), wäre es nicht hinnehmbar, einen Bürger mit Kosten für eine Polizeimaßnahme zu belegen, die in elementare Entfaltungsrechte des Individuums grundrechtswidrig eingreift. Die Polizeimaßnahmen dürfen deshalb, wenn sie kostenmäßige Folgen haben sollen, nicht gegen Art. 8 GG verstoßen. Ingewahrsamnahme und Transport als kostenbegründende Amtshandlungen müssen grundrechtskonform sein. Grundrechtswidrige Ingewahrsamnahme und Transport können Kostenansprüche nicht begründen. Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit kann nur Rechnung getragen werden, wenn die Kostenerhebung nach den genannten Ziffern der Allgemeinen Gebührenordnung auf Polizeihandlungen, die im Zuge von Versammlungen durchgeführt werden, beschränkt wird auf solche, die nicht gegen Art. 8 GG verstoßen. Damit stehen Grundrechtsschutz, Polizeimaßnahmen und Kostenbescheid in einem engen inneren unmittelbaren Zusammenhang, einem "Stufenverhältnis", bei dem ein Grundrechtsverstoß auf der vorhergehenden Stufe zur Rechtswidrigkeit der folgenden Stufen führt.

25

Die Vereinbarkeit der Polizeihandlungen mit Art. 8 GG zu überprüfen, obliegt zunächst der Polizeibehörde, und zwar bezogen auf den Zeitpunkt bei Erlass des Kostenbescheides.

26

Entscheidend für Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Polizeimaßnahme sind allgemein die Erkenntnisse, die die Polizei im Zeitpunkt des Einschreitens hatte (damalige Sicht, nicht heutige Sicht). Dies ist darin begründet, dass der Polizei oft ein schnelles Handeln in unübersichtlicher oder spannungsreicher Situation abverlangt wird, bei der eine umfassende Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Einschreitens nicht immer möglich ist.

27

Diese Grundsätze werden im Falle des Erlasses eines Kostenbescheides aufgrund von Polizeimaßnahmen anlässlich einer Versammlung nicht aufgehoben. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass im Zeitpunkt der Fertigung des Bescheides sowohl die Notwendigkeit umgehenden Einschreitens als auch die Unaufklärbarkeit rechtlicher und tatsächlicher Umstände entfallen sind. Eine Prüfungspflicht der Kostenbehörde folgt schon aus § 11 Kostengesetz. Danach sind Kosten, die dadurch entstanden sind, dass die Behörde die Sache unrichtig behandelt hat, zu erlassen. Dies verdeutlicht, dass "eine richtige Sachbehandlung" Voraussetzung für den Erlass des Kostenbescheides ist, und der Behörde insoweit eine eigene Prüfungskompetenz zukommt. Insbesondere ist die Vereinbarkeit der Polizeimaßnahme mit Art. 8 GG zu prüfen, weil dies Voraussetzung für den Erlass eines rechtmäßigen Kostenbescheides ist (s.o.). Die Prüfung ist nicht um ihrer selbst Willen vorzunehmen oder als Kontrolle des Einsatzbeamten, sondern allein im Interesse des Kostenbescheides. Wenn sich eine Polizeimaßnahme im Zeitpunkt des Erlasses des Kostenbescheides als grundrechtswidrig darstellt - etwa wenn die Grundrechtswidrigkeit der Polizeimaßnahme inzwischen gerichtlich festgestellt worden ist -, darf die Behörde den Bescheid nicht mehr erlassen. Der Erlass eines Kostenbescheides, obwohl gerichtlich festgestellt worden ist, dass die zugrunde liegende Polizeimaßnahme gegen das Grundrecht aus Art. 8 GG verstoßen hat, wäre mit dem Grundsatz rechtmäßigen Verhaltens der Behörde und ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar.

28

So liegt der Fall jedoch hier. Das Amtsgericht Dannenberg hat mit Beschluss vom 27. März 2001 die Anordnung der Ingewahrsamnahme der Polizeibehörde vom 26. März 2001 aufgehoben und angeordnet, die Klägerin unverzüglich aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen.

29

Diese Entscheidung des Amtsgerichtes beruht auf § 19 NGefAG, der in der aktuellen Fassung ausschnittsweise lautet:

30

1) Kommt es aufgrund einer Maßnahme nach § 13 Abs. 2 Satz 2, § 16 Abs. 3 oder § 18 zu einer Freiheitsentziehung, so haben die Verwaltungsbehörden oder die Polizei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung zu beantragen. Der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung bedarf es nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung erst nach Wegfall des Grundes der Maßnahme ergehen wird.

31

2) Die festgehaltene Person, bei deren Minderjährigkeit auch ihre gesetzliche Vertreterin oder ihr gesetzlicher Vertreter, kann auch nach Beendigung der Freiheitsentziehung innerhalb eines Monats die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung beantragen. Der Antrag kann bei dem nach Absatz 3 Satz 2 zuständigen Amtsgericht schriftlich oder durch Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle dieses Gerichts gestellt werden. .....

32

(3) Für die Entscheidung nach Absatz 1 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person festgehalten wird. Für die Entscheidung nach Absatz 2 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person in Gewahrsam genommen wurde. ...........

33

(4) Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des Niedersächsischen Gesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit. ...........

34

Die Gesetzesnorm lehnt sich an Art. 104 Abs. 2 GG an, der folgenden Wortlaut hat:

35

Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden. Bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen. Die Polizei darf aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten. Das Nähere ist gesetzlich zu regeln.

36

Im Rahmen des Art. 104 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG - für den Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 NGefAG gilt nichts anderes - ist davon auszugehen, dass die Entscheidung des Richters über Zulässigkeit und Dauer der Freiheitsentziehung eine "ex-nunc-Wirkung" hat, d.h. erst mit dem Ausspruch der Entscheidung Wirkungen entfaltet, nicht aber auch für die vorhergehende vergangene Zeit Geltung beansprucht. Die richterliche Entscheidung wirkt konstitutiv. Der Richter hat über die Freiheitsentziehung selbst und ursprünglich zu entscheiden. Der Richter prüft im Rahmen des § 19 Abs. 1 NGefAG nicht die Rechtmäßigkeit eines Hoheitsaktes, für den ein anderer - die Polizeibehörde - die Verantwortung trägt, sondern der Richter trägt selbst die Verantwortung für die Freiheitsentziehung, weil nur ihm die Kompetenz für diese Entscheidung übertragen worden ist. Beantragt die Polizeibehörde nach § 19 Abs. 1 NGefAG die Entscheidung über die Zulässigkeit der Freiheitsentziehung, ist Gegenstand der richterlichen Entscheidung nicht die Frage, ob die zeitlich vorangegangene Gewahrsamname durch die Polizei gerechtfertigt war, sondern ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entscheidung des Richters gegeben sind. Deshalb auch muss der Richter selbst die Tatsachen feststellen, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen, und er kann bei seiner Entscheidung nicht nur die polizeilichen Angaben ungeprüft übernehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.10.1990 - 2 BvR 562/88 -, BVerfGE 83 Seite 24, 33 f; Dürig in Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Februar 2003, Art. 104 Rdnr. 35; Kunig in von Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 5. Aufl. 2003, Art. 104 Rdnr. 22 und 18).

37

Auch wenn die richterliche Überprüfung einer Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG und § 19 Abs. 1 NGefAG keine Rückwirkung hat, führt das für den von einer Freiheitsentziehung betroffenen Bürger nicht zu einer Rechtsschutzlücke.

38

Denn die der richterlichen Entscheidung vorangegangene Ingewahrsamnahme ist ebenfalls rechtlich und richterlich überprüfbar. Artikel 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Das Recht auf Freiheit einer Person hat unter den grundrechtlich verbürgten Rechten einen besonders hohen Rang. Jede polizeiliche Gewahrsamnahme greift in schwerwiegender Weise in dieses Recht ein, auch wenn dieser vorläufige polizeiliche Akt mit der richterlichen Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung auf jeden Fall hinfällig wird und sich erledigt (Dürig, a. a. O., Rdnr. 37). Der Eingriff in die körperliche Bewegungsfreiheit, mit dem der Staat auf ein bestehendes, vermutetes oder besorgtes rechtswidriges Verhalten des Einzelnen reagiert, berührt den davon Betroffenen im Kern seiner Persönlichkeit. Dies indiziert ein Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen und ein Rechtsschutzbedürfnis für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme auch dann, wenn sich die Maßnahme durch Zeitablauf schon erledigt hat. Dem Betroffenen ist damit auch ein Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle eröffnet (BVerfG, Beschl. v. 5.12.2001 - 2 BvR 527/99 u. a. -, NJW 2002 Seite 2456; Beschl. v. 3.2.1999 - 2 BvR 804/97 -, NJW 1999 Seite 3773; Beschl. v. 10.5.1998 - 2 BvR 978/97 -, NJW 1998 Seite 2432; Beschl. v. 30.4.1997 - 2 BvR 817/90 u. a. -, NJW 1997 Seite 2163).

39

Der grundsätzlichen Überprüfbarkeit einer polizeilichen Gewahrsamnahme nach ihrer Erledigung trägt § 19 Abs. 2 NGefAG Rechnung. Danach kann die festgehaltene Person auch nach Beendigung der Freiheitsentziehung innerhalb eines Monats die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung beantragen. Durch die Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes zum 1. Januar 2004 wurden die früher normierten weiteren Voraussetzungen fallen gelassen, wonach es erforderlich war, dass die Freiheitsbeschränkung länger als acht Stunden angedauert hat oder für die Feststellung ein sonstiges berechtigtes Interesse besteht. Für eine Entscheidung nach § 19 Abs. 2 NGefAG ist nicht erforderlich, dass die Freiheitsbeschränkung bereits vor Erlass der gerichtlichen Entscheidung beendet worden ist, vielmehr ist in jeder Lage des Verfahrens die Möglichkeit der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Ingewahrsamnahme gegeben, so dass die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme vom Amtsrichter gem. § 19 Abs. 2 NGefAG auch dann festgestellt werden kann, wenn die Ingewahrsame noch andauert (so ausdrücklich OLG Celle, Beschl. v. 13.1.2003 - 17 W 40/02 - unter Bezug auf BVerfG, Beschl. v. 5.12.2001, a. a. O.). Dem trägt die jetzt seit 2004 geltende Fassung des Nieders. Gefahrenabwehrgesetzes Rechnung. Aus der Formulierung in § 19 Abs. 2, wonach "auch" nach Beendigung der Freiheitsentziehung ein Antrag möglich ist, ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass schon vor Beendigung der Freiheitsentziehung eine Rechtmäßigkeitsprüfung durch das Amtsgericht erfolgen kann.

40

Für diese nachträgliche Überprüfung, ob die polizeiliche Gewahrsamnahme rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen ist, ist das Amtsgericht zuständig. Diese Frage ist für Niedersachsen durch § 19 Abs. 3 NGefAG eindeutig geklärt. Danach ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person in Gewahrsam genommen wurde. Die Zuweisung der nachträglichen Prüfung einer Gewahrsamnahme auf ihre Rechtmäßigkeit an die Amtsgerichte und nicht an die Verwaltungsgerichte lässt sich nicht beanstanden (vgl. Urt. der Kammer v. 23.1.2004 - 3 A 120/02 -; Nds. OVG, Beschl. v. 21.11.2003 - 11 PA 345/03 -).

41

Zwar geht § 19 Abs. 2 NGefAG davon aus, dass die festgehaltene Person die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung beantragen kann. Dies schließt es jedoch nicht denkgesetzlich notwendig aus, dass das Amtsgericht auch ohne entsprechenden Antrag die Gewahrsamnahme durch die Polizei von Anfang an auf ihre Rechtmäßigkeit prüft, etwa wenn aufgrund des Antrages der Polizei ohnehin eine Entscheidung nach § 19 Abs. 1 NGefAG zu ergehen hat. Abgesehen davon hat die Klägerin bei ihrer Anhörung die Feststellung der "Rechtswidrigkeit und die Dauer der Ingewahrsamnahme" beantragt. Eine richterliche Entscheidung nach § 19 Abs. 2 NGefAG ohne entsprechenden Antrag des Betroffenen ist nicht etwa nichtig. Sie mag fehlerhaft sein, ist jedoch, wenn sie rechtskräftig wird, zu beachten. Deshalb ist der konkrete amtsrichterliche Beschluss stets daraufhin zu untersuchen, ob er eine Entscheidung zu § 19 Abs. 1 oder auch zu Abs. 2 NGefAG trifft.

42

Hieraus folgt für den vorliegenden Fall:

43

Die Auslegung des Beschlusses vom 27. März 2001 ergibt, dass der Richter am Amtsgericht seiner Entscheidung "ex tunc"- Wirkung beigemessen, die Ingewahrsamnahme als von Anfang an rechtswidrig angesehen hat und dies in dem Beschluss auch zum Ausdruck bringen wollte. Er hat auch eine Entscheidung nach § 19 Abs. 2 NGefAG getroffen. Für diese Auslegung spricht zunächst, dass der Richter die Anordnung der Ingewahrsamnahme der Polizeibehörde "vom 26. März 2001" aufgehoben hat. Da die Entscheidung des Richters über Zulässigkeit und Dauer der Freiheitsentziehung konstitutiven Charakter hat und mit Erlass der Entscheidung des Richters der vorangegangene Verwaltungsakt unwirksam wird (vgl. Kunig a.a.O., § 104 Rn 22; Dürig a.a.O., § 104 Anm. 35.), wäre die Aufhebung der Anordnung der Ingewahrsamnahme "vom 26. März 2001" nicht erforderlich gewesen, wenn der Richter nur für die Zukunft (für die Zeit ab 27. März 2001) hätte entscheiden wollen. Die Aufhebung des in der Vergangenheit liegenden Verwaltungsaktes kann daher nur so verstanden werden, dass der Richter die Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme als von Anfang an nicht erfüllt angesehen hat.

44

Bestätigt wird diese Auslegung dadurch, dass der Richter im Rahmen der Begründung des Beschlusses diejenige Alternative angekreuzt hat, wonach nach dem, insbesondere aufgrund richterlicher Anhörung und zusätzlicher Ermittlungen, festgestellten Sachverhalt die Voraussetzungen, unter denen gemäß § 19 NGefAG die Ingewahrsamnahme der Klägerin zulässig ist, "nicht gegeben" sind. Angesichts dessen, dass als weitere Ankreuzalternative auch "inzwischen weggefallen" zur Verfügung stand, kann das Setzen des Kreuzes bei der ersten Alternative nur bedeuten, dass der Richter aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts die Voraussetzungen der Ingewahrsamtnahme schon von Anfang an als nicht gegeben angesehen hat.

45

Eine andere Auslegung des Beschlusses ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Richters am Amtsgericht im Kostenbeschluss vom 8. Juli 2002. Zwar hat der Richter in den Gründen des Beschlusses dort ausgeführt: "... Der oben geschilderte Verdacht der Polizei bestand und wurde erst in der richterlichen Anhörung der Betroffenen ausgeräumt...."; daraus kann jedoch nicht hinreichend deutlich entnommen werden, dass der Richter die polizeiliche Ingewahrsamnahme als zulässig erachtet hat bzw. dass er über die Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme von Anfang an im Beschluss vom 27. März 2001 nicht hat entscheiden wollen. Der Richter hatte in dem Kostenbeschluss lediglich über die Frage zu entscheiden, ob der Polizei in Hinblick auf die Ingewahrsamnahme grobes Verschulden vorzuwerfen war. Es waren somit ganz andere Erwägungen anzustellen als bei der Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Ingewahrsamnahme selbst. Im Übrigen wird in den Gründen des Kostenbeschlusses ausgeführt: "...Sie wurde nach § 18 NGefAG in polizeilichen Gewahrsam genommen und, als der Verdacht sich nicht bestätigte, gem. § 19 NGefAG durch hiesigen Beschluss vom 27. März 2001 aus diesem entlassen...". Die Formulierung " und als der Verdacht sich nicht bestätigte" deutet vielmehr darauf hin, dass der Richter davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen der Ingewahrsamnahme von Anfang an nicht vorlagen.

46

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Beschluss

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 55,22 EUR festgesetzt.