Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.04.2002, Az.: 1 KN 2792/01
Baugenehmigungsverfahren; Bauleitplanung; bauliche Nutzung; Bebauungsplan; Durchführungsvertrag; geschlossene Bauweise; Konfliktbewältigung; Nachbarschutz; offene Bauweise; vorhabenbezogener Bebauungsplan
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.04.2002
- Aktenzeichen
- 1 KN 2792/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43983
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 1 BauGB
- § 12 Abs 1 S 1 BauGB
- § 214 BauGB
- § 22 BauNVO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Der Durchführungsvertrag muss nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BauGB vor dem Beschluss über den vorhabenbezogenen Bebauungsplan abgeschlossen werden.
2. Setzt der Bebauungsplan für ein Grundstück geschlossene Bauweise fest, obgleich ein anderer Bebauungsplan für das Nachbargrundstück von einer bestimmten Tiefe an offene Bauweise festsetzt, müssen die Belange des Nachbarn in den Blick genommen werden.
3. Bestimmt der vorhabenbezogene Bebauungsplan das zulässige Vorhaben präzise durch Bauvorlagen des Vorhabens und gibt damit nicht nur einen Rahmen vor, müssen etwaige Konflikte in aller Regel auf der Ebene der Bauleitplanung geregelt werden und können nicht auf die Ebene des Baugenehmigungsverfahrens verschoben werden.
Tatbestand:
I.
Die Antragstellerin, die Eigentümerin des Grundstücks A. straße 13 in B. ist, wendet sich gegen den vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 954 und dessen 1. Änderung.
Das Grundstück der Antragstellerin liegt auf der Nordwestseite der A. straße, einer Fußgängerzone, in dem von der C.-Straße im Westen, der D. straße im Norden und der A. straße im Südosten gebildeten Dreieck. Es ist mit einem dreigeschossigen Wohn- und Geschäftshaus in geschlossener Bauweise bebaut. Das dreigeschossige Gebäude ist ca. 14 m tief, im Erdgeschoss reicht die Bebauung bis in eine Tiefe von 19 m. Das Erdgeschoss wird als Einzelhandelsgeschäft, das erste Obergeschoss als Rechtsanwaltspraxis und das 2. Obergeschoss als Wohnung genutzt. Die rückwärtige Freifläche, auf der vier Stellplätze genehmigt sind, hat in etwa die Form eines Dreiecks, dessen Spitze nach Norden weist.
Für das von der D. straße, der A. straße und der E. Straße gebildete Dreieck hat die Antragsgegnerin 1973 den Bebauungsplan 113 erlassen, der es als Kerngebiet mit einer straßenseitigen Bebauung mit zwingend drei Geschossen festsetzt. Für das Grundstück der Antragstellerin und die unmittelbaren Nachbargrundstücke an der A. straße ist bis in eine Tiefe von 15 m geschlossene Bauweise festgesetzt, für den rückwärtigen Bereich ist eingeschossig offene Bauweise festgesetzt. Hinter dem Haus der Antragstellerin ist in einer Entfernung von ca. 13 m - 20 m an der E. Straße (Nr. 10) eine bebaubare Fläche zwingend drei- oder viergeschossig festgesetzt.
Am 24. Juni 1999 beschloss der Verwaltungsausschuss der Antragsgegnerin die Aufstellung des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes 954 "Kino A. straße" für die Grundstücke A. straße 9 und 11 sowie für das Grundstück C. -Straße 10. Diese Grundstücke bilden eine zusammenhängende ca. 1435 m² große Fläche, die mit einer Frontlänge von 25 m an die A. straße grenzt und bis zur C. -Straße und der D. straße durchläuft. Das Grundstück der Antragstellerin grenzt im Nordosten bzw. Osten an diese Fläche an. Die Antragsgegnerin legte den vorhabenbezogenen Bebauungsplan, der die Errichtung eines Kinos nach den beigefügten Plänen des Architekten F. zulässt, nach vorheriger Bekanntmachung am 8. Januar 2000 vom 18. Januar bis 18. Februar 2000 aus. Am 13. April 2000 beschloss der Rat der Antragsgegnerin über die Anregungen und den vorhabenbezogenen Bebauungsplan als Satzung. Der Durchführungsvertrag der Antragsgegnerin mit dem Beigeladenen als Vorhabenträger ist auf den 12. April 2000 datiert. Allerdings ist dieses Datum über ein mit Deckweiß gelöschtes Datum gestempelt, das 27.7.2000 heißen könnte, aber nicht genau erkennbar ist. Der Satzungsbeschluss ist am 15. August 2000 im Amtsblatt des Landkreises G. bekannt gemacht worden.
Der vorhabenbezogene Bebauungsplan nimmt zur Bestimmung der Zulässigkeit des Vorhabens des Beigeladenen auf Grundrisse des Erdgeschosses und des 2. Obergeschosses im Maßstab 1:200 sowie auf Ansichten des Gebäudes von den umgebenden Straßen Bezug. In der Begründung werden die möglichen Standortalternativen für ein modernes Großkino mit einer maximalen Besucherzahl von 1.150 Besuchern diskutiert. Die Antragsgegnerin hat sich in der Abwägung für den Standort A. straße/C. -Straße entschieden, weil das Großkino zu einer Belebung des Quartiers führe, das zum Sanierungsgebiet Innenstadt B. gehöre und sich in Richtung Freizeitnutzung entwickelt habe. Die im Bereich des Kinos vorgesehenen Arkaden verbesserten die Verkehrsverhältnisse im Bereich der Kreuzung E. Straße/D. straße. Das leerstehende Baudenkmal E. Straße 10 könne mangels öffentlicher Mittel nicht in das Kinoprojekt einbezogen werden.
Im Durchführungsvertrag hat sich der Beigeladene als Vorhabenträger verpflichtet, die notwendigen Bauanträge innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes zu stellen, innerhalb von drei Monaten "nach Rechtskraft der Baugenehmigung" mit der Realisierung zu beginnen und die Bebauung innerhalb von 18 Monaten "nach Rechtskraft der Baugenehmigung" abzuschließen. Der Bauantrag einschließlich der Bauzeichnungen ist Bestandteil des Durchführungsvertrages.
Am 15. März 2001 beschloss der Verwaltungsausschuss die Aufstellung der 1. Änderung des Bebauungsplanes 954, um im Kontext mit der Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 für die Nachbargrundstücke die maximal zulässige Gebäudehöhe festzusetzen. Die Antragsgegnerin legte die 1. Änderung des Bebauungsplanes nach vorheriger Bekanntmachung vom 26. März bis 26. April 2001 aus. Die Antragstellerin wandte sich gegen die Änderung, weil die Grenzbebauung ihrem Grundstück Licht- und Lagequalität nehme. Die Ladenmieterin klage über Umsatzrückgang, die Wohnung sei kaum noch vermietbar. Der Rat der Antragsgegnerin beschloss am 3. Mai 2001 über die Anregungen der Antragstellerin und die 1. Änderung des Bebauungsplanes als Satzung, nachdem die Antragsgegnerin am 2. Mai 2001 mit dem Beigeladenen als Vorhabenträger einen Durchführungsvertrag geschlossen hatte. Die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 954 ist am 15. Mai 2001 im Amtsblatt des Landkreises G. bekanntgemacht worden. Mit der 1. Änderung des Bebauungsplanes 954 wird die maximal zulässige Gebäudehöhe des Kinos an der A. straße auf 11,50 m, an der E. Straße auf 13,25 m bezogen auf die A. straße festgesetzt. Vorgestellte Wandscheiben dürfen die maximale Höhe zur E. Straße um bis zu 0,75 m überschreiten. Die Anregungen der Antragstellerin hat die Antragsgegnerin zurückgewiesen, weil der Lichteinfallswinkel an der ungünstigsten Stelle des 1. Obergeschosses mit 43° zur Waagerechten noch ausreichend sei. Für die Wohnung im 2. Obergeschoss ergebe sich ein Lichteinfallswinkel von 30 °. Die Inbetriebnahme des Kinos werde die Lagequalität des Grundstücks der Antragstellerin erhöhen, so dass Umsatzrückgänge wohl auf andere Faktoren zurückgingen.
Nach verschiedenen Teilbaugenehmigungen ist am 16. Mai 2001 die abschließende Baugenehmigung erteilt worden. Die Antragstellerin hat gegen die Baugenehmigung Widerspruch eingelegt, der am 7. März 2002 von der Bezirksregierung zurückgewiesen worden ist. Die Antragstellerin hat innerhalb der Klagefrist Klage erhoben. Das Kino ist inzwischen eröffnet worden.
Am 18. Oktober 2001 hat der Rat der Antragsgegnerin die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 beschlossen, die am 15. November 2001 im Amtsblatt für den Landkreis G. bekannt gemacht worden ist. Der Bebauungsplan erfasst das Straßendreieck D. straße, A. straße und C. -Straße mit Ausnahme des Geltungsbereichs des angefochtenen Bebauungsplanes 954 und setzt die Grundstücke in voller Tiefe in geschlossener Bauweise mit unterschiedlichen Geschosszahlen fest. Nur an der D. straße verbleibt auf dem Grundstück der Antragstellerin und den beiden östlich benachbarten Grundstücken eine kleine unbebaubare Fläche.
Die Antragstellerin hat am 15. August 2001 das Normenkontrollverfahren eingeleitet und vorgetragen, mit der Verwirklichung des Bebauungsplanes werde ihrem Grundstück Licht genommen, weil das Gebäude an der Grenze errichtet worden sei, die schräg zur Rückfront ihres Hauses verlaufe. Durch den Zu- und Abgangsverkehr zum Kino werde ihr Grundstück mit Emissionen belastet. Die Stadt habe nicht für ausreichenden Parkraum gesorgt.
Die Antragstellerin beantragt,
den am 13. April 2000 vom Rat der Antragsgegnerin beschlossenen vorhabenbezogenen Bebauungsplan 954 in der Fassung der am 3. Mai 2001 beschlossenen 1. Änderung des Bebauungsplanes für nicht wirksam zu erklären.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Normenkontrollantrag zurückzuweisen.
Sie erwidert, die Datierung des Durchführungsvertrages lasse sich nicht mehr genau rekonstruieren. Jedenfalls sei dem Beigeladenen am 13. April 2000 vor der Ratssitzung der Durchführungsvertrag gefaxt worden und die letzte Seite mit der Unterschrift des Beigeladenen auch der Antragsgegnerin zurückgefaxt worden. Dem Rat sei der Inhalt des Durchführungsvertrages jedenfalls bekannt gewesen. Der Bebauungsplan 954 setze ebenso wie die am 15. November 2001 in Kraft getretene 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 für den Bereich zwischen A. straße/D. straße und C. -Straße geschlossene Bauweise fest. Die Räume in den Obergeschossen erhielten ausreichend Licht, weil ein Lichteinfall von 45 ° zur Senkrechten in Anlehnung an § 12 Abs. 5 Satz 2 und 3 NBauO 1973 als ausreichend angesehen werde. Eine Immissionsbelastung durch Zu- und Abgangsverkehr sei nicht zu befürchten, weil sich in der unmittelbaren Nachbarschaft keine Stellplätze oder Kurzparkmöglichkeiten befänden. Für Kinobesucher stünden an der H. straße und am Bahnhof ausreichend Stellplätze zur Verfügung.
Der Beigeladene weist darauf hin, dass sein Exemplar des Durchführungsvertrages ebenfalls auf den 12. April 2000 datiert sei, aber dieses Datum über ein mit Deckweiß gelöschtes Datum gestempelt sei. Im Übrigen schließt sich der Beigeladene dem Vorbringen der Antragsgegnerin an, ohne einen eigenen Antrag zu stellen.
Wegen des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im Einzelnen wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen. Der Senat hat das Grundstück der Antragstellerin und seine nähere Umgebung im Rahmen der mündlichen Verhandlung besichtigt. Auf das Protokoll über die Ortsbesichtigung wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Die Antragstellerin macht geltend, dass die Zulassung einer 11,5 m bis 14 m hohen Bebauung an ihrer Grundstücksgrenze ihrem Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Belange in der Abwägung nicht ausreichend Rechnung trage (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1998 - 4 CN 2.98 -, DVBl 1999, 100). Da die Antragstellerin die Baugenehmigung angefochtenen hat, ist das Rechtsschutzbedürfnis auch nach Errichtung des Kinos nicht verloren gegangen.
Der angefochtene vorhabenbezogene Bebauungsplan 954 leidet an einem formellen Mangel. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 BauGB kann die Gemeinde durch einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan die Zulässigkeit von Vorhaben bestimmen, wenn der Vorhabenträger auf der Grundlage eines mit der Gemeinde abgestimmten Plans zur Durchführung der Vorhaben und der Erschließungsmaßnahmen bereit und in der Lage ist und sich zur Durchführung innerhalb einer bestimmten Frist verpflichtet. Der Durchführungsvertrag ist zwischen dem Vorhabenträger und der Gemeinde vor dem Satzungsbeschluss zu schließen (vgl. Krautzberger in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Stand: September 2001, § 12 Rdnr. 98; Neuhausen in: Kohlhammer, Kommentar, BauGB, Stand: September 2001, § 12 Rdnr. 48; Quaas in: Schrödter, BauGB, 6. Aufl. 1998, § 12 Rdnr. 24). Die unter der Geltung des BauGB-Maßnahmengesetzes vertretene Ansicht, dass es ausreiche, dass der Durchführungsvertrag vor Inkrafttreten der Satzung abgeschlossen sein müsse, ist durch die Einfügung der Worte "vor dem Beschluss nach § 10 Abs. 1" in § 12 Abs. 1 Satz 1 BauGB überholt (allgemeine Meinung).
Die Datierung des Durchführungsvertrages auf den 12. April 2000 entspricht nicht den Tatsachen. Die ursprüngliche Datierung ist durch Deckweiß gelöscht und nicht mehr sicher festzustellen. Die Datierung auf den 12. April 2000 ist nach dem eigenen Vortrag der Antragsgegnerin unzutreffend, weil die Antragsgegnerin eine Ausfertigung des Durchführungsvertrages erst am 13. April 2000 um 12.42 Uhr an den Beigeladenen mit der Bitte um Unterschrift und Rückgabe bis 16.00 Uhr am gleichen Tage gefaxt hat. Der Beigeladene hat dann um 13.01 Uhr die letzte Seite unterschrieben zurückgefaxt. Ob der Stadtdirektor den Durchführungsvertrag vor dem Beschluss über den vorhabenbezogenen Bebauungsplan unterschrieben hat, lässt der Vortrag der Antragsgegnerin offen. Jedenfalls aber ist der Durchführungsvertrag nach dem eigenen Vortrag der Antragsgegnerin nicht am 12. April 2000, dem im Vertrag angegebenen Datum, abgeschlossen worden, so dass auch nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass der Durchführungsvertrag vor dem Beschluss über den vorhabenbezogenen Bebauungsplan geschlossen worden ist.
Dieser Fehler ist auch durch die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 954 nicht behoben worden, denn der Beschluss über die 1. Änderung des Bebauungsplanes beschränkt sich ebenso wie der Durchführungsvertrag zur 1. Änderung allein auf die Änderung und hat nicht das Vorhaben des Beigeladenen insgesamt in der Fassung der 1. Änderung zum Gegenstand.
Einer abschließenden Prüfung, wann der Durchführungsvertrag tatsächlich abgeschlossen worden ist, bedarf es nicht, weil der Bebauungsplan den Anforderungen des Abwägungsgebotes nicht genügt, die das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 12.12.1969 - 4 C 105.66 -, BVerwGE 34, 301/309) wie folgt umschrieben hat:
Eine sachgerechte Abwägung muss überhaupt stattfinden. In diese muss eingestellt werden, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss. Dabei darf die Bedeutung der betroffenen privaten Belange nicht verkannt und muss der Ausgleich zwischen den von der Planung betroffenen öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen werden, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange in Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet.
Die Abwägung der Antragsgegnerin hat sich bei dem vorhabenbezogenen Bebauungsplan 954 entsprechend den eingegangenen Anregungen auf andere Dinge konzentriert als auf die Auswirkungen des Gebäudes auf die unmittelbaren Nachbargrundstücke. Wie die Begründung verdeutlicht, standen die Standortalternativen für das Kino und die Frage der Erhaltung des Baudenkmals auf dem Grundstück E. Straße 10 im Vordergrund. Daneben hat die Antragsgegnerin die Notwendigkeit des Kinos für das kulturelle Angebot der Stadt betont und die Auswirkungen des Kinoneubaus auf die Verkehrsverhältnisse an der Kreuzung E. Straße/D. straße und auf das Quartier diskutiert. Die Auswirkungen des ca. 1100 m² großen und 12 m bis 14 m hohen Gebäudes auf die Nachbargrundstücke sind dabei nicht in den Blick geraten. Das ist um so bemerkenswerter, als die zwischen dem Grundstück der Antragstellerin und dem Kinogrundstück verlaufende Grenze 20 m von der A. straße entfernt um etwa 45 ° abknickt und damit die rückwärtige Grundstücksgrenze der Antragstellerin bildet. Das Grundstück der Antragstellerin wird daher an zwei Grenzen durch ein 11,5 m bis 14 m hohes Gebäude "eingemauert". Das ist im Bereich des dreigeschossigen Wohn- und Geschäftshauses unproblematisch, wie die Ansicht von der A. straße zeigt. Die Bebauung auf der "abknickenden" hinteren Grenze schränkt dagegen die Belichtung des Wohn- und Geschäftshauses deutlich ein, weil die Grenzbebauung nur in geringem Abstand von der Rückseite des Wohn- und Geschäftshauses der Antragstellerin steht.
Die Belange der Antragstellerin, von einer hohen Grenzbebauung verschont zu werden, sind - wie die Grenzabstandsvorschriften der NBauO belegen - schutzwürdig und nicht so geringwertig, dass sie nur auf entsprechende Anregung der Betroffenen zu berücksichtigen wären. Ihr konkretes Gewicht wird durch die Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 113 in der seinerzeit gültigen Urfassung für das Grundstück der Antragstellerin mitbestimmt. Soweit die Festsetzung der geschlossenen Bauweise auf dem Grundstück der Antragstellerin reicht, wird die entsprechende Festsetzung des Bebauungsplanes Nr. 954 kompensiert. Problematisch aber ist der Bereich, in dem der Bebauungsplan 954 geschlossene Bauweise festsetzt, und in dem für das Grundstück der Antragstellerin offene Bauweise festgesetzt wird, denn in diesem Bereich korrespondieren die Festsetzungen für die benachbarten Grundstücke nicht. Soweit der Bebauungsplan Nr. 113 in der alten Fassung offene Bauweise festsetzt, also von einer Tiefe von 15 m (von der A. straße gerechnet) an, führt die Festsetzung der Grenzbebauung im angefochtenen Bebauungsplan 954 dazu, dass eine - nach dem Bebauungsplan Nr. 113 a.F. zulässige - Bebauung auf dem rückwärtigen Teil des Grundstücks der Antragstellerin selbst den nach Landesrecht erforderlichen Grenzabstand einhalten muss, aber eine deutliche Einbuße an Belichtung und Belüftung hinnehmen müsste, weil auf dem Nachbargrundstück an die Grenze gebaut werden darf. In der offenen Bauweise ergibt sich nach §§ 7 ff NBauO der für die Belichtung und Beleuchtung maßgebende Abstand der Gebäude aus der Höhe der Gebäude H 1 + H 2, mindestens aber 6 m. Mit der Festsetzung der geschossenen Bauweise auf dem Nachbargrundstück reduziert sich der Abstand für ein Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin auf 1 H, mindestens 3 m. Mit einer solchen Konstellation wird die Schicksalsgemeinschaft der Nachbarn, die insbesondere für die Bauweise gilt, aufgebrochen und das Austauschverhältnis der Nachbarn gestört, bei dem jeder der Nachbarn Beschränkungen der Bebaubarkeit hinnimmt, weil er auch von den Beschränkungen profitiert, die den jeweiligen Nachbarn treffen (vgl. BVerwG, Urt. vom 16.9.1993 - 4 C 28.91 - BRS 55, Nr. 110). Der Bebauungsplan 954 gewährt dem Beigeladenen mit einer 11,5 m bis 14 m hohen Bebauung in geschlossener Bauweise in der ganzen Tiefe des Grundstücks ein Maximum an Bebauungsmöglichkeiten, während die Antragstellerin mit der Festsetzung von eingeschossiger Bebauung in offener Bauweise im rückwärtigen Bereich deutlichen Beschränkungen unterworfen ist.
Diese Belange sind bei der Abwägung über den Bebauungsplan 954 überhaupt nicht in den Blick gekommen. Nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB sind Mängel im Abwägungsvorgang nur erheblich, wenn sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. Offensichtlich kann ein Abwägungsmangel auch sein, wenn die Aufstellungsvorgänge Lücken enthalten und die Festsetzung des Bebauungsplanes in Anbetracht der tatsächlichen Verhältnisse oder der Festsetzungen für benachbarte Grundstücke eine abwägende Begründung erfordert (vgl. auch Urt. des Senats vom 29.8.1996 - 1 K 3875/95 - BRS 58 Nr. 18). Davon ist hier auszugehen, weil der Bebauungsplan 954 abweichend von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 113 a.F. die geschlossene Bauweise weiter in die Tiefe der Grundstücke an der Bahnhofstraße ausdehnt.
Auf das Abwägungsergebnis von Einfluss ist ein Mangel im Abwägungsvorgang dann, wenn nach den Umständen des konkreten Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Mangel das Ergebnis anders ausgefallen wäre (vgl. BVerwG, Urt. vom 21.8.1981 - 4 C 57.80 -, DVBl 1982, 354). Das ist hier der Fall, weil die Festsetzungen des Bebauungsplanes 954 und des Bebauungsplanes Nr. 113 a.F. für die Grundstücke des Beigeladenen und der Antragstellerin in der beschriebenen Weise auseinanderklaffen. Soweit die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 die geschlossene Bauweise auf dem Grundstück der Antragstellerin in der Tiefe ausgedehnt hat, spricht gerade diese planerische Reaktion auf den Neubau des Kinos dafür, dass die Antragsgegnerin zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn sie das Problem bereits bei dem Beschluss über den Bebauungsplan 954 als Satzung erkannt hätte.
Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin werden die Festsetzungen des Bebauungsplanes 954 auch nicht durch die Festsetzungen der 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 ausgeglichen. Diese 1. Änderung setzt das Grundstück der Antragstellerin auch im hinteren Bereich als Kerngebiet, zwei- bis dreigeschossig, geschlossene Bauweise, GRZ 1,0, GFZ 3,0 fest und kompensiert damit die bisherige Benachteiligung der Antragstellerin im Verhältnis zum Beigeladenen und den Festsetzungen des Bebauungsplanes 954 für sein Grundstück. Allerdings können für die Abwägung über den Bebauungsplan 954 die Festsetzungen der 1. Änderung des Bebauungsplanes 113 nicht berücksichtigt werden. Nach § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB ist für die Abwägung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan maßgebend. Der vorhabenbezogene Bebauungsplan 954 ist am 13. April 2000 als Satzung beschlossen worden. Die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 113 ist erst eineinhalb Jahre später am 18. Oktober 2001 beschlossen worden.
Die Antragsgegnerin kann sich für die Festsetzung der geschlossenen Bauweise für das Grundstück des Beigeladenen - im Verhältnis zu der Festsetzung der offenen Bauweise im rückwärtigen Bereich des Grundstücks der Antragstellerin - auch nicht auf den Grundsatz der planerischen Zurückhaltung berufen. Dieser Grundsatz erlaubt es der Gemeinde, die Regelung von Konflikten von der Ebene der Bauleitplanung auf die Ebene des Baugenehmigungsverfahrens zu verschieben, wenn sie auf dieser Ebene zuverlässig "abgearbeitet" werden können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 6.3.1989 - 4 NB 8/89 -, ZfBR 1989, 129). Eine Regelung, die einen Ausgleich im Baugenehmigungsverfahren erlaubt, stellt § 22 Abs. 3 BauNVO dar. Nach dieser Vorschrift werden die Gebäude in der geschlossenen Bauweise ohne seitlichen Grenzabstand errichtet, es sei denn, dass die vorhandene Bebauung eine Abweichung erfordert.
Ein solcher Konflikttransfer von der Ebene der Bauleitplanung auf die Ebene der Zulassung eines Einzelvorhabens ist insbesondere dann sachgerecht, wenn die Bauleitplanung - wie im Normalfall und im Unterschied zur Planfeststellung - nur einen Rahmen vorgibt, der im Baugenehmigungsverfahren in unterschiedlicher Weise ausgefüllt werden kann. Wenn sich die Gemeinde im vorhabenbezogenen Bebauungsplan aber - wie die Antragsgegnerin mit dem Bebauungsplan Nr. 954 - die Planung des Investors zueigen macht und im Grunde genommen mit dem vorhabenbezogenen Bebauungsplan über die Zulässigkeit des Vorhabens entscheidet, ist für einen Konflikttransfer kein Raum. Anders als bei der normalen Bauleitplanung wird mit dem vorhabenbezogenen Bebauungsplan, der sich die Bauplanung des Investors zueigen macht, der Rahmen der Angebotsplanung verlassen und über die Zulässigkeit des Vorhabens ähnlich wie in einem Planfeststellungsbeschluss entschieden. Der Verpflichtung des Vorhabenträgers, das Vorhaben in bestimmter Zeit durchzuführen, korrespondiert die Pflicht der Gemeinde, die wesentlichen Konflikte auf der Planungsebene zu entscheiden. Alles andere würde die Durchführungspflicht zu sehr vom Ausgang des Baugenehmigungsverfahrens abhängig machen. Das alles gilt verstärkt, wenn der vorhabenbezogene Bebauungsplan den Abstraktionsgrad eines Bebauungsplanes nach der Baunutzungsverordnung völlig verlässt und das zulässige Vorhaben durch Grundrisse und Ansichten, die nach der Bauvorlagenverordnung im Baugenehmigungsverfahren vorzulegen sind, bestimmt.
Nach § 215 a Abs. 1 BauGB ist der Bebauungsplan nur für nicht wirksam zu erklären, weil die erörterten Mängel durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können.
Sonstiger Langtext
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15.338,-- ¤ (= 30.000,-- DM) festgesetzt.