Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.04.2002, Az.: 11 ME 122/02

Abschiebung; Aufenthalt; Ausländer; Ausweisung; Betretenserlaubnis; Betretensrecht; Freiheitsstrafe; mündliche Verhandlung; Verwaltungsgericht

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.04.2002
Aktenzeichen
11 ME 122/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 43822
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 06.03.2002 - AZ: 11 B 889/02

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Betretenserlaubnis (§ 9 Abs. 3 AuslG) zur Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts (hier Klageverfahren gegen die auf § 47 Abs. 1 AuslG gestützte Ausweisungsverfügung) kann einem Ausländer grundsätzlich nicht mit der Begründung verweigert werden, die Staatsanwaltschaft wolle einer erneuten Abschiebung unter Verzicht auf Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht zustimmen.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat ihn rechtsfehlerfrei im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller, einem türkischen Staatsangehörigen, der 1996 wegen gemeinschaftlichen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt, deswegen von der Stadt W. mit Bescheid vom 18. Juni 1999 ausgewiesen und, nachdem die Staatsanwaltschaft gemäß § 456 a StPO von einer Vollstreckung der Freiheitsstrafe abgesehen hatte, im September 2000 in die Türkei abgeschoben worden ist, eine Betretenserlaubnis nach § 9 Abs. 3 AuslG für die Zeit vom 27. bis 31. Mai 2002 zum Zwecke der Teilnahme an der vom Verwaltungsgericht auf den 29. Mai 2002 anberaumten mündlichen Verhandlung über seine Anfechtungsklage (VG O. - 11 A 4355/99 -) gegen die genannte Ausweisungsverfügung zu erteilen, wenn zuvor der Antragsteller eine Kaution in Höhe von 2.450,00 EURO hinterlegt. Die hiergegen vom Antragsgegner vorgebrachten Einwände greifen nicht durch.

2

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das vom Antragsteller begehrte Betretensrecht zum Zwecke der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung am 29. Mai 2002 im Sinne des § 9 Abs. 3 AuslG nur "kurzfristig" ist und deshalb Gegenstand einer Betretenserlaubnis sein kann. Dem steht entgegen der Ansicht des Antragsgegners nicht entgegen, dass die Staatsanwaltschaft M. dem Verwaltungsgericht und ihm auf schriftliche und fernmündliche Anfragen mehrfach mitgeteilt hat, bei einer Wiedereinreise des Antragstellers in das Bundesgebiet werde dieser, da sein persönliches Erscheinen vom Verwaltungsgericht gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht angeordnet und ihm auch nicht sicheres Geleit analog § 295 StPO zugesichert worden sei, wegen Verstoßes gegen die Entscheidung zum Absehen von einer Strafvollstreckung sofort inhaftiert und müsse dann die volle Restfreiheitsstrafe verbüßen; eine Zustimmung zu einer erneuten Abschiebung unter Verzicht auf eine Strafverbüßung werde nicht erteilt (vgl. dazu das Schreiben der Staatsanwaltschaft vom 29. Oktober 2001 an das Verwaltungsgericht, Bl. 47 f. Beiakte A, das weitere Schreiben an den Antragsgegner vom 9. Januar 2002, Bl. 58 f. Beiakte A sowie den Vermerk über ein Ferngespräch am 4. Februar 2002, Bl. 67 Beiakte A). Dieser vorläufigen Entscheidungsbildung der Staatsanwaltschaft liegt offenbar zugrunde, dass ihre Entscheidung zu einem Absehen von der Strafvollstreckung mit Auflagen nach § 456 a Abs. 2 Satz 3 StPO versehen war (Nachholung der Vollstreckung für den Fall der Wiedereinreise, Haftbefehl und Anordnung etwa erforderlicher Fahndungsmaßnahmen). Dem Antragsgegner ist allerdings einzuräumen, dass bei einer Nachholung der Strafvollstreckung von einem nur "kurzfristigen" Betreten des Bundesgebiets durch den Antragsteller nicht die Rede sein kann. Auf der anderen Seite übersieht er aber, dass der zu beurteilende Aufenthaltszweck durch den Antrag des Antragstellers bestimmt wird (der hinsichtlich der Kurzzeitigkeit des begehrten Aufenthalts durch die beiläufige Bemerkung im Schriftsatz vom 12. Februar 2002, Bl. 69 f. Beiakte A, lieber in Deutschland als in der Türkei gefährdet zu leben, für sich allein nicht in Frage gestellt wird), und die Entscheidung der Ausländerbehörde nach § 9 Abs. 3 AuslG in Fällen der vorliegenden Art nicht an eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft gebunden ist. Der Antragsgegner hat daher seine Entscheidung allein an den Entscheidungskriterien des § 9 Abs. 3 AuslG auszurichten. Das gilt um so mehr, als die Staatsanwaltschaft ihr angekündigtes Vorgehen bisher erkennbar allein an strafprozessualen Vorgaben (Frage der Zusicherung sicheren Geleits) ausgerichtet und hierbei das Recht des Antragstellers auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG trotz Nichtanordnung des persönlichen Erscheinens - wie nachfolgend dargelegt - bisher nicht hinreichend berücksichtigt hat.

3

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht weiterhin ausgeführt, dass wegen des Nichtanordnens des persönlichen Erscheinens des Antragstellers zum Verhandlungstermin nicht festgestellt werden kann, dass zwingende Gründe im Sinne des § 9 Abs. 3 AuslG seine Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern würden. Es hat zugleich aber im Anschluss an den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Januar 2000 - 10 CE 99.3428 - (InfAuslR 2000, 191 [OVG Bremen 28.01.2000 - 1 B 406/99]) im Fall "M." zutreffend hervorgehoben, dass die Versagung einer Betretenserlaubnis für den Antragsteller im Sinne des § 9 Abs. 3 AuslG eine unbillige Härte bedeuten würde. Zwar ist der Antragsteller im Anfechtungsprozess anwaltlich vertreten und hat das Verwaltungsgericht von einer Anordnung gemäß § 95 Abs. 1 VwGO abgesehen. Der Rechtsstreit über die Ausweisungsverfügung ist jedoch für den Antragsteller und seine weiterhin im Bundesgebiet lebende Familie für deren zukünftige Lebensplanung offensichtlich von existentieller Bedeutung. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall grundlegend von dem Sachverhalt, in dem das Oberverwaltungsgericht B. mit Beschluss vom 9. Januar 2001 - OVG S N 234.00 - (InfAuslR 2001, 169) die Voraussetzungen für eine Betretenserlaubnis verneint hat. Im Hinblick auf die zu befürchtende dauerhafte Trennung von Ehefrau und Kindern bei Bestätigung der Ausweisungsverfügung muss dem Antragsteller grundsätzlich mit Blick auf seinen Anspruch auf rechtliches Gehör die Möglichkeit eingeräumt werden, seine persönliche Sicht der Dinge in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts zur Geltung zu bringen. Unter Ermessensgesichtspunkten wäre der Antragsgegner bei solcher Sachlage zu einer Ablehnung der Betretenserlaubnis allenfalls befugt, wenn bei einer Einreise des Antragstellers Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu besorgen wären. Dafür ist hier aber nichts vorgetragen worden und auch sonst nichts ersichtlich. Denn wegen des von der Staatsanwaltschaft M. erlassenen Vollstreckungshaftbefehls ist bei realistischer Betrachtungsweise damit zu rechnen, dass der Antragsteller unmittelbar nach seiner Einreise in das Bundesgebiet in Haft genommen wird. Durch entsprechendes Ersuchen an die zuständige Haftanstalt kann das Verwaltungsgericht ferner dafür Sorge tragen, dass der Antragsteller aus der Haft heraus zum Verhandlungstermin vorgeführt wird. Unter diesen Umständen bestehen keine ernstlichen Anhaltspunkte dafür, dass ein "Untertauchen" des Antragstellers im Bundesgebiet zu besorgen ist.

4

Dass die öffentliche Hand nicht mit zusätzlichen Kosten bei einer erneuten Abschiebung des Antragstellers in die Türkei belastet wird, hat das Verwaltungsgericht ferner dadurch sichergestellt, dass es die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erteilung einer Betretenserlaubnis von der vorherigen Leistung einer ausreichenden Sicherheitsleistung abhängig gemacht hat.