Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 25.02.2004, Az.: 2 A 245/03
Eigenheimzulage; Einkommen; Einkommensgrenze; Tilgungsleistung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 25.02.2004
- Aktenzeichen
- 2 A 245/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50446
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 79 Abs 1 BSHG
- § 84 BSHG
- § 90 Abs 3 SGB 8
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Im Rahmen von § 84 BSHG sind Tilgungsleistungen in angemessener Höhe zu berücksichtigen, wenn eine kinderreiche Familie ein Familienheim erworben hat.
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 05.03.2003 und sein Widerspruchsbescheid vom 19.05.2003 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, den Klägern wirtschaftliche Jugendhilfe im Rahmen der Übernahme des Elternbeitrages für den Besuch ihres Sohnes O. B. im Kindergarten des P. e.V. einschließlich anteiligen Verpflegungsgeldes für den Zeitraum vom 1. August 2002 bis zum 31. Juli 2003 zu gewähren.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand:
Die Kläger begehren die Gewährung von wirtschaftlicher Jugendhilfe in Form der Übernahme des Elternbeitrages in einem Kindergarten. Ihr am Q. geborener Sohn O. besucht den Kindergarten R. straße in E., eine Einrichtung des Vereins P. e.V.. Dafür sind monatlich 92,00 Euro (bis 30.09.2002: 88,00 Euro) sowie 39,00 Euro Verpflegungsgeld zu entrichten. Die Kläger haben im Jahre 1998 in E. ein Eigenheim mit einer Wohnfläche von etwa 120 qm errichtet. Neben ihnen und O. wohnen dort die gemeinsamen Kinder S. (geboren am T.), U. (geboren am V.), W. (geboren am X.), Y. (geboren am Z.) und AA. (geboren am AB.). Das Eigenheim ist wie folgt mit Fremdkapital finanziert worden:
1. Darlehen der Sparkasse H. Kontonummer AC. (240.000,00 DM)
jährliche Zinsen: 7.290,71 Euro jährliche Tilgung: 1.360,35 Euro
2. Darlehen der Sparkasse H. Kontonummer AD. (60,000 DM)
jährliche Zinsen: 1.187,10 Euro jährliche Tilgung: 316,32 Euro
3. Darlehen des AE. (20.000,00 DM)
jährliche Zinsen: 0,00 Euro jährliche Tilgung: 204,52 Euro
4. Öffentliches Baudarlehen der AF. (140.000,00 DM)
jährliche Zinsen: 204,02 Euro jährliche Tilgung: 4.908,40 Euro
Summe: 9.282,33 Euro 6.833,59 Euro
Den Klägern wird vom Finanzamt H. eine jährliche Eigenheimzulage in Höhe von 12.500,00 DM (entspricht 6.391,15 Euro) gewährt, die jeweils zum 15.03. eines Jahres ausgezahlt wird. Mit der AF. ist vereinbart, dass der jährlich zu zahlende Betrag (in Höhe von insgesamt 5.112,42 Euro) jeweils am 31.03. eines Jahres fällig ist.
Nachdem der Beklagte den Klägern bis dato wirtschaftliche Jugendhilfe in Höhe der Übernahme der Elternbeiträge im Kindergarten gewährt hatte, lehnte er den am 08.08.2002 gestellten Wiederholungsantrag nach Anhörung der Kläger mit Bescheid vom 05.03.2003 mit folgender Begründung ab: Das monatliche Einkommen der Kläger (2.835,09 Euro) übersteige die maßgebliche Einkommensgrenze (2.569,06 Euro) um 266,03 Euro; bei der Bemessung der Einkommensgrenze werde die Eigenheimzulage bei den Unterkunftskosten abgezogen. Den dagegen am 01.04.2003 erhoben Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2003 als unbegründet zurück.
Die Kläger haben am 17.02.2003 Klage erhoben. Sie tragen vor: Die ihnen gewährte Eigenheimzulage dürfe nicht in voller Höhe als Einkommen behandelt werden, weil ein Anteil von 426,00 Euro monatlich als Tilgung an die AF. zu zahlen sei; insoweit sei die Eigenheimzulage kein bereites Mittel; wolle man dieses anders sehen, würde darin eine Benachteiligung kinderreicher Familien und damit ein Verstoß gegen Artikel 3 Grundgesetz liegen; auch aus § 77 BSHG folge, dass die Eigenheimzulage nicht angerechnet werden dürfe, denn sie diene der Wohnungsbauförderung.
Die Kläger beantragen,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 05.03.2003 und des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2003 zu verpflichten, den Klägern wirtschaftliche Jugendhilfe im Rahmen der Übernahme des Elternbeitrags für den Besuch ihres Sohnes O. B. im Kindergarten des P. e.V. einschließlich anteiligen Verpflegungsgeldes für den Zeitraum vom 1. August 2002 bis zum 31. Juli 2003 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, die Eigenheimzulage - die unmittelbar auf das Girokonto der Kläger überwiesen werde - sei bereites Mittel und als Einkommen anzurechnen, zumal § 77 BSHG insoweit nicht einschlägig sei; in früheren Zeiten sei die Eigenheimzulage fehlerhaft nicht angerechnet worden, daraus könnten die Kläger aber keine Rechte herleiten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.
Der Einzelrichter, auf den die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 26.08.2003 gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung übertragen hatte, hat am 07.01.2004 mündlich verhandelt, die Sache anschließend vertagt und sie mit Beschluss vom 13.02.2004 nach Anhörung der Beteiligten auf die Kammer zurückübertragen, da eine wesentliche Änderung der Prozesslage ergeben habe, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die die Kammer gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten ohne (weitere) mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet.
Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch im vollen Umfang zu.
Gemäß § 90 Abs. 3 SGB VIII soll der Teilnahmebeitrag, den Eltern an eine Kindertageseinrichtung (Kindergarten, Hort oder andere Einrichtung, in der sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztags aufhalten) zu entrichten haben, ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Gemäß § 90 Abs. 4 des Gesetzes gelten für die Feststellung der zumutbaren Belastungen die §§ 76 bis 79, 84 und 85 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - entsprechend, soweit nicht Landesrecht eine andere Regelung trifft (was in Niedersachsen nicht der Fall ist). Der Beklagte hat sich durch seine bisherige und nicht aufgegebene Verwaltungspraxis dahingehend gebunden, dass er regelmäßig den Teilnahmebeitrag übernimmt, soweit die Belastung den Eltern und dem Kind nicht zuzumuten ist. Hier wird lediglich über die Höhe der zumutbaren Belastung gestritten und damit über die Anwendung bzw. die Auslegung der oben erwähnten Vorschriften des BSHG.
Da wirtschaftliche Jugendhilfe einer Sozialhilfeleistung in besonderen Lebenslagen entspricht, ergibt sich die maßgebliche Einkommensgrenze aus § 79 BSHG (vgl. LPK zum SGB VIII, § 90 Rn. 38). Sie setzt sich zusammen aus einem Grundbetrag in Höhe von (im streitigen Zeitraum) 563,00 Euro, einem Familienzuschlag in Höhe des auf volle Euro aufgerundeten Betrages von 80 % des Regelsatzes eines Haushaltsvorstandes für den nicht getrennt lebenden Ehegatten und für jede Person, die vom Hilfesuchenden oder seinem nicht getrennt lebenden Ehegatten überwiegend unterhalten wird (das sind hier sieben mal 80 % von 293,00 Euro = 1.645,00 Euro), sowie den Kosten der Unterkunft, soweit die Aufwendungen hierfür den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang nicht übersteigen. Als Kosten der Unterkunft hat der Beklagte neben Abfallbeseitigungsgebühren, Wasser- und Kanalgebühren, Grundsteuer, Heizkosten und Aufwendungen für die Wohngebäudeversicherung die Zinsaufwendungen für die oben bezeichneten Baudarlehen berücksichtigt und diesen Betrag um die den Klägern gewährte Eigenheimzulage reduziert.
Die Klage hat nicht deshalb Erfolg, weil - wie die Kläger meinen - die Eigenheimzulage bei der Bemessung der Einkommensgrenze des § 79 Abs. 1 BSHG außer Betracht zu bleiben hat. Sie mindert zwar nicht - wie der Beklagte offenbar annimmt - die Kosten der Unterkunft im Sinne von § 79 Abs. 1 Nr. 2 BSHG, ist aber dem anrechenbaren Einkommen der Kläger in vollem Umfang zuzuschlagen. Sie wird nämlich nicht zu einem ausdrücklich genannten Zweck gewährt, sondern ohne jeden Verwendungsnachweis und unabhängig davon, ob bzw. in welchem Umfange sie tatsächlich zur Finanzierung eines Eigenheimes verwendet wird (bzw. wegen der Aufnahme eines Kredites verwendet werden soll). Es handelt sich bei ihr um eine kausal an den Erwerb bzw. die Fertigstellung eines im Sinne von § 2 EigenheimzulagenG begünstigten Objektes geknüpfte, an eine Einkommensgrenze gebundene generell - abstrakte Leistung, deren Verwendung im Belieben des Empfängers steht, nicht aber um eine Leistung, die final der Deckung eines bestimmten Bedarfs dient. Ihre ausdrückliche Erwähnung in § 194 Abs. 3 Nr. 4 SGB III im Rahmen der Gewährung von Arbeitslosenhilfe ist schließlich ein weiteres Indiz dafür, dass im Sozialhilferecht etwas anderes gelten soll (vgl. grundsätzlich BVerwG, Urteil vom 28.05.2003 - 5 C 41.02 -, NVwZ - RR 2004, Seite 112, mit dem das Urteil des OVG Lüneburg vom 14.08.2002 - 4 LB 128/02 - Nds. Rechtspflege 2003, Seite 154 in vollem Umfang bestätigt wird).
Die Klage hat auch nicht deshalb Erfolg, weil die allgemeine Einkommensgrenze des § 79 Abs. 1 BSHG vom Beklagten fehlerhaft berechnet worden wäre. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte bei den Kosten der Unterkunft nur die Zinsaufwendungen und nicht auch die Tilgungsraten berücksichtigt hat. Tilgungsbeträge gehören deswegen nicht zu den Kosten der Unterkunft, weil durch sie Einkommen des Hilfesuchenden in Vermögen überführt wird und ihre Berücksichtigung dem Schutz einer Umschichtung in der wirtschaftlichen Potenz des Hilfesuchenden gleichkäme (vgl. grundsätzlich dazu: BVerwG, Urteil vom 09.12.1970 - V C 73.70 -, BVerwGE 37, Seite 13). Der in der neueren Kommentarliteratur (vgl. etwa Conradis in LPK zum BSHG, 6. Auflage, § 79, RN 5) vertretenen gegenteiligen Auffassung folgt das Gericht nicht, zumal das Gesetz andere Wege aufzeigt, um im Einzelfall Tilgungsbeträge bei der Entscheidung über die Gewährung der Hilfeleistung ganz oder teilweise zugunsten des Hilfesuchenden zu berücksichtigen (so auch schon BVerwG, Urteil vom 09.12.1970, a.a.O.).
Hier ist § 84 Abs. 1 BSHG einschlägig (was der Beklagte allerdings nicht in Erwägung gezogen hat). Danach ist die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfang zuzumuten, soweit das zu berücksichtigende Einkommen die maßgebende Einkommensgrenze übersteigt; bei der Prüfung, welcher Umfang angemessen ist, ist vor allem die Art des Bedarfs, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen des Hilfesuchenden und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen. Besondere Belastungen im Sinne des Gesetzes können im Einzelfall Schuldverpflichtungen, erforderliche Aufwendungen im Zusammenhang mit Familienereignissen, bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung, für Unterhaltsleistungen, für die Beschaffung oder Erhaltung von Unterkunft (namentlich Tilgungsbeträge) und für sonstige gerechtfertigte Zwecke seien (vgl. Schellhorn, BSHG, 16. Auflage, § 84, RN 13 f sowie die Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (Stand: 2002), RN 100). Nach Berücksichtigung solcher besonderen Belastungen ist in individueller Beurteilung der Verhältnisse des Einzelfalles abzuwägen, welcher Eigenanteil aus dem über der Einkommensgrenze liegenden Einkommen als angemessen zugemutet werden kann; unter Berücksichtigung der Familienverhältnisse kann die Einkommensgrenze übersteigendes Einkommen bei Haushalten mit 7 und mehr Personen zu 20 - 70 % als Eigenanteil verlangt werden (vgl. RN 101 der soeben zitierten Empfehlungen des Deutschen Vereins). Die Begriffe „angemessener Umfang“ und „besondere Belastungen“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die den Trägern der Sozialhilfe (bzw. hier der Jugendhilfe) keinerlei Ermessen einräumen (Krahmer in LPK zum BSHG, a.a.O., § 84, RN 3 m.w.N.).
Das Gericht ist der Auffassung, dass Tilgungsbeträge (und andere Aufwendungen für die Beschaffung oder Erhaltung der Unterkunft, die nicht zu den Kosten der Unterkunft im Sinne von § 79 Abs. 1 Nr. 2 BSHG gehören) im Ergebnis wie jene nur in angemessener Höhe als besondere Belastungen in dem soeben bezeichneten Sinne berücksichtigt werden dürfen, um zu verhindern, dass unangemessene Aufwendungen für die Unterkunft (sprich: Luxusaufwendungen) auf diesem Weg auf die öffentliche Hand abgewälzt werden. Von Luxusaufwendungen in diesem Sinne kann hier jedoch keinesfalls - auch nicht anteilig - die Rede sein. Bei der Familie der Kläger handelt es sich um eine kinderreiche Familie, für die Mietwohnungen in angemessener Größe nicht oder jedenfalls nur unter größten Schwierigkeiten zu bekommen sind - was gerichtsbekannt ist -; die Wohnfläche des von den Klägern angeschafften Wohnhauses ist mit 120 m² ferner keinesfalls übertrieben groß, sondern bewegt sich an der unteren Grenze angemessenen Wohnraums für eine Familie mit 8 Familienmitgliedern; ferner haben die Kläger eine solide Finanzierung gewählt unter Ausschöpfung aller für sie günstigen Möglichkeiten. Schließlich ist zugunsten der Kläger zu berücksichtigen, dass die von der AF. zur Verfügung gestellten öffentlichen Mittel zinsfrei gewährt werden, dass stattdessen jedoch - solange die Eigenheimzulage gezahlt wird - extrem hohe Tilgungsleistungen (von 12 % jährlich) zu erbringen sind; es würde dem Zweck dieser Regelung (nämlich kinderreichen Familien mit geringem Einkommen die Schaffung von Wohneigentum zu ermöglichen) zuwider laufen, wenn man die Tilgungsleistungen hier - im Gegensatz zu vergleichsweise hohen Zinsen, die bei der Inanspruchnahme von Bankdarlehen zu entrichten wären - außer Betracht ließe.
Im Ergebnis sind somit die gesamten Tilgungsbeträge als besondere Belastungen der Kläger im Sinne von § 84 Abs. 1 S. 2 BSHG anzuerkennen, so dass der Einsatz ihres über der Einkommensgrenze des § 79 Abs. 1 BSHG liegenden Einkommens (in Höhe von monatlich 266,03 €) von ihnen nicht verlangt werden kann. Auf die weiter oben angeschnittene Frage, wie hoch ggf. der zumutbare prozentuale Eigenanteil ist, kommt es danach nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Kammer hat erwogen, in Anwendung von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung aus den gleichen Gründen, aus denen der Einzelrichter die Sache auf die Kammer zurückübertragen hat, zuzulassen. Sie nimmt jedoch davon Abstand, weil sie zum einen der gefestigten Rechtsprechung des BVerwG folgt und zum anderen der Klage nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern wegen der Besonderheiten des Einzelfalles zum Erfolg verhilft.