Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 10.02.2004, Az.: 2 A 189/03
7,5/10-Gebühr; 8/10-Gebühr; Gebührensatz; Kompensationstheorie; Mittelgebühr; Sozialhilfestreitigkeit; Toleranzgrenze
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 10.02.2004
- Aktenzeichen
- 2 A 189/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 50490
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 12 Abs 1 BRAGebO
Gründe
Der gemäß § 128 Abs. 3 BRAGO statthafte Antrag, mit dem der Kläger die Festsetzung einer 8/10-Geschäftsgebühr nach §§ 11, 12, 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO begehrt, hat keinen Erfolg. Der Kläger hat lediglich Anspruch darauf, dass eine 7,5/10 Geschäftsgebühr festgesetzt wird, wie mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 15. Dezember 2003 geschehen.
Das Gericht geht zugunsten des Prozessbevollmächtigten des Klägers davon aus, dass dieser befugt ist, die der vormaligen Bevollmächtigten im Vorverfahren entstandenen Kosten geltend zu machen. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren hatte die Kammer mit Beschluss vom 5. August 2003 für notwendig erklärt.
Die Gebühr nach § 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO (Geschäftsgebühr) ist eine Rahmengebühr, da der Rechtsanwalt 5/10 bis 10/10 der vollen Gebühr erhält.
Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 BRAGO bestimmt der Rechtsanwalt bei Rahmengebühren die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von einem Dritten, wie hier von der Beklagten, zu ersetzen so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 BRAGO nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers für dessen vormalige Rechtsanwältin geltend gemachte Geschäftsgebühr beruht zwar auf einer von dieser auf Nachfrage des Gerichts eigenständig ausgeübten Ermessensentscheidung, ist jedoch unbillig, da eine höhere als die Mittelgebühr von 7,5/10 nicht begründet wird.
Nach der auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 8.5.1981 -6 C 153.80-, BVerwGE 62 196) zurückgehenden sog. Kompensationstheorie (vgl. Madert in: Gerold/Schmidt/v. Eicken/Madert, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 15. Aufl., § 12 Rdnr. 8) ist für die Ermittlung, welche Gebührenfestsetzung „billig“ im Sinne von § 12 Abs. 1 BRAGO ist, zur Erreichung einer einigermaßen gleichmäßigen praktischen Übung grundsätzlich vom Mittelwert der Rahmengebühr auszugehen (BVerwG, a.a.O., S. 200). Jedes einzelne der in § 12 Abs. 1 BRAGO genannten Bemessungskriterien vermag ein Abweichen von der Mittelgebühr, sei es nach oben oder nach unten, zu rechtfertigen. Insoweit ist im vorliegenden Verfahren, in dem es um die Kürzung der dem Kläger zustehenden Hilfe zum Lebensunterhalt ging, von einer grundrechtsrelevanten Rechtsbeeinträchtigung (Existenzminimum) und damit von einer überdurchschnittlich hohen, überdurchschnittlichen Bedeutung der Rechtssache für den betroffenen Kläger auszugehen. Eine derartige Grundrechtsrelevanz -sie ergab sich aus Art. 4 Abs. 3 GG- lag auch der zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde. Eine geringere Gebühr als die Mittelgebühr rechtfertigt sich aus dem Umstand, dass die Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Klägers als Sozialhilfeempfänger, gemessen am Durchschnitt der Bevölkerung unterdurchschnittlich sind (vgl. Madert, a.a.O. Rdnr. 14). Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sind in Anbetracht der Tatsache, dass die vormalige Rechtsanwältin des Klägers in dieser Sache nur das Widerspruchsschreiben vom 10. Januar 2003 gefertigt hat, das lediglich Sachvortrag, aber keine Rechtsausführungen enthalten hat, allenfalls von durchschnittlichem Gewicht. Unter Würdigung all dieser Umstände ist eine 7,5/10 Gebühr angemessen und billig.
Der Kläger wendet hiergegen zu Unrecht ein, die Festlegung einer 8/10 Gebühr überschreite nicht die von der Rechtsprechung angenommene “Toleranzgrenze“ von 20 vom Hundert, ab der eine vom Rechtsanwalt vorgenommene Gebührenbestimmung als unverbindlich, weil unbillig im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 BRAGO angesehen werde. Richtig an dieser Argumentation ist, dass es auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 8.5.1981, a.a.O, S. 201; Beschluss vom 16.8.1983 -6 B 22/83-, zitiert nach juris; Urteil vom 7.6.1985 -6 C 63/83-, JurBüro 1985, 1813; Beschluss vom 18.9.2001 -1 WB 28.01-, DÖV 2002, 83) diese Toleranzgrenze gibt und sie hier bei einer Abweichung von ca. 7 vom Hundert unterschritten ist. Dennoch verhilft diese Rechtsprechung dem klägerischen Begehren nicht zum Erfolg.
Denn nach der nahezu einhelligen Rechtsmeinung des Bundesverwaltungsgerichts und der Kommentarliteratur, die von der beschließenden Kammer geteilt wird, kommt diese Toleranzgrenze erst dann zum Tragen, wenn die Überschreitung der Mittelgebühr vom Rechtsanwalt unter Darlegung der besonderen Umstände des Einzelfalles nachvollziehbar unter Beachtung der in § 12 Abs. 1 BRAGO genannten Bemessungskriterien begründet wird (vgl. die zitierten Entscheidungen des BVerwG und Madert, a.a.O. Rdnr. 9 m.w.N. aus der zivilgerichtlichen Rspr.). Eine solchermaßen begründete Ermessensentscheidung haben weder der Prozessbevollmächtigte des Klägers noch seine vormalige Rechtsanwältin getroffen. Der insoweit einzig geltend gemachte Umstand der besonderen Bedeutung der Rechtssache für den Kläger als Auftraggeber ist bereits bei der Festlegung der Mittelgebühr von 7,5/10 berücksichtigt worden. Es ist auch für das Gericht nach Auswertung der Akten nicht ersichtlich, dass der vorliegende Fall nach Maßgabe eines der in § 12 Abs. 1 BRAGO genannten Kriterien über dem Durchschnitt der in der Kammer anhängigen sozialhilferechtlichen Streitigkeiten liegt.
Das Gericht verhehlt nicht, dass aus einer weiteren Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 1.9.1997 -6 B 43.97-, Buchholz 362 § 12 BRAGO Nr. 2) möglicherweise eine andere, der klägerischen nahekommende rechtliche Sicht ableitbar ist. Dieser, die Entscheidung nicht tragenden Meinung, die sich zudem nicht mit der eigenen abweichenden Rechtsmeinung des 6. Senats auseinandersetzt, folgt die Kammer nicht. Diese Ansicht, sollte sie vom Bundesverwaltungsgericht tatsächlich vertreten werden, setzt sich nicht hinreichend mit dem Normgefüge des § 12 Abs. 1 BRAGO auseinander. Die Billigkeit einer anwaltlichen Gebührenfestsetzung folgt stets aus der Würdigung der in der Vorschrift genannten Bemessungskriterien. Ihre vom Rechtsanwalt im Rahmen seiner Ermessensentscheidung vorzunehmende „Kompensation“ führt zu der angemessenen Gebühr. Es spricht viel dafür, dass Raum für eine weitergehende Toleranz gar nicht besteht. Zum einen deshalb, weil eine nicht begründete und nicht begründbare Erhöhung der Gebühr nicht billig im Rechtssinne ist, zum anderen deshalb, weil die Mittelgebühr dann ihre Bedeutung als Gebühr für durchschnittliche Streitverfahren verlieren würde. Dies widerspräche dem gesetzgeberischen Willen bei der Festlegung von Rahmengebühren. Jedenfalls müssten weitere, ein Übersteigen des Mittelwertes rechtfertigende Erwägungen überhaupt angestellt werden. Daran fehlt es hier, wie dargelegt.