Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 03.02.2004, Az.: 2 B 35/04
Abschiebung; Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; allgemeine Gefahr; Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Hindernis; Irak; konkrete Gefahr; Kurde; politische Verfolgung; Sicherheitslage; staatliche Macht; staatliche Verfolgung; Staatsgewalt; Staatsmacht; Vorverfolgung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 03.02.2004
- Aktenzeichen
- 2 B 35/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 51041
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs 6 AuslG 1990
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Gegenstandswert beträgt 1.500,00 Euro.
Gründe
Der gemäß §§ 75, 34, 36 Abs. 3 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (2 A 36/04) gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2004 verfügten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ist nicht begründet.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Abwägungsentscheidung zwischen dem öffentlichen Interesse am Vollzug des angefochtenen Bescheides und dem privaten Interesse der Antragstellerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen verschont zu werden, geht zu Lasten des Antragstellers aus. An der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen keine ernstlichen Zweifel i.S.v. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG.
Nach § 36 Abs. 4 AsylVfG ist bei einer Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 AsylVfG und dem daraufhin erfolgten Erlass aufenthaltsbeendender Maßnahmen die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage nur anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder die Verfügung des Bundesamtes für sich genommen, d.h. unbeschadet der Beurteilung des Asylgesuchs als offensichtlich unbegründet, unter Rechtsfehlern leidet. Hierbei bleiben nach § 36 Abs. 4 AsylVfG Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben wurden, unberücksichtigt, soweit sie nicht gerichtsbekannt oder offenkundig sind. Darüber hinaus kann das Gericht Tatsachen und Beweismittel unberücksichtigt lassen, wenn sie bei der Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag unberücksichtigt bleiben durften und andernfalls die gerichtliche Entscheidung verzögert werden würde. In diesem Rahmen muss die Richtigkeit des "Offensichtlichkeitsurteils" erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren geklärt werden. Insofern hat die gerichtliche Prüfung über die sonst im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO übliche summarische Prüfung hinauszugehen (BVerfG, Beschluss vom 10.01.1990 - 2 BvR 1434/89 - InfAuslR 1990, Seite 202, 204; Beschluss vom 13.10.1993 - 2 BvR 888/93 - AuAS 1993, Seite 271, 273;
Nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung darf die Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet nur erfolgen, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich die Ablehnung des Antrages geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschluss vom 19.06.1990 - 2 BvR 369/90 -, InfAuslR 1991, Seite 81 f., 84; Beschluss vom 07.11.1996 -2 BvR 1318/95-, AuAS 1997, 55; Beschluss vom 21.07.2000 -2 BvR 1429/98-, NVwZ-Beilage I 12/2000, S. 145).).
In Anwendung dieser Grundsätze liegt für das Gericht auf der Hand, dass der Antragsteller keinen Anspruch darauf hat, von der Antragsgegnerin das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 AuslG festgestellt zu bekommen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird das Verpflichtungsbegehren im Hauptsacheverfahren keinerlei Aussicht auf Erfolg haben. Zu Recht hat die Antragsgegnerin festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Dies ergibt sich aus den Gründen im Bescheid der Antragsgegnerin, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).
Ergänzend führt die Kammer aus, dass es derzeit im Irak an einer staatlichen Macht fehlt, von der Gefährdungen der durch § 51 Abs. 1 AuslG geschützten Rechtsgüter ausgehen könnten (in diesem Sinne auch die einhellige aktuelle Rechtsprechung, vgl. VGH Kassel, Beschluss vom 28.07.2003 -10 ZU 3381/02.A-; OVG Münster, Urteil vom 14.08.2003 -20 A 430/02.A; VGH München, Beschluss vom 13.10.2003 -15 B 02.31727-; OVG Schleswig, Beschluss vom 30.10.2003 -1 LB 39/03-;VG Stade, Urteil vom 22.09.2003 -6 A 1963/02-). Das diktatorische Regime Saddam Husseins hat seine politische und militärische Herrschaft über den Irak infolge der am 20. März 2003 begonnenen Militäraktion der USA, Großbritanniens und anderer Staaten endgültig verloren. Der Irak steht unter Besatzungsrecht und wird derzeit von einer "Zivilverwaltung" der Koalition ("Coalition Provisional Authority" -CPA-) regiert. Bis auf weiteres wird der Neuaufbau der Verwaltungsstrukturen im Irak trotz der Einsetzung eines provisorischen Regierungsrates ("Governing Council") und eines Interims-Kabinetts maßgeblich vom Leiter der CPA bestimmt, der seinerseits vom US-Präsidenten ernannt wird (vgl. Ad-hoc Bericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2003 Stand: Oktober 2003; Deutsches Orientinstitut -DOI-, Stellungnahme vom 1. Oktober 2003 an das OVG Schleswig).
Selbst wenn man vor diesem Hintergrund der CPA eine staatsähnliche Gewalt zuerkennen wollte, ergäbe sich daraus -unabhängig von der Frage ob sie vorverfolgt ausgereist ist- nichts zugunsten der Antragstellerpartei. Denn selbst wenn man dies annehmen wollte, ist der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Frage, ob im Falle einer Rückkehr in die Heimat politische Verfolgung droht, nur dann anzuwenden, wenn bei einer am Gedanken der Zumutbarkeit der Rückkehr ausgerichteten wertenden Betrachtung ein innerer Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt besteht, dass bei Rückkehr des Asylsuchenden mit einem Wiederaufleben der bereits einmal erlittenen Verfolgung zu rechnen ist oder nach den gesamten Umständen das Risiko der Wiederholung einer gleichartigen Verfolgung besteht. Ist die erlittene Vorverfolgung beendet gewesen und haben sich die politischen Verhältnisse im Heimatstaat zwischenzeitlich grundlegend geändert, so ist dies ein gewichtiger Anhaltspunkt dafür, dass ein Wiederaufleben der bereits einmal geschehenen Verfolgung künftig nicht mehr zu besorgen ist. Lässt die Änderung der politischen Verhältnisse allein noch keinen eindeutigen Rückschluss auf die Verminderung des Risikos einer Verfolgungswiederholung zu, kommt es vor allem darauf an, ob die feststellbaren objektiven Verfolgungsgründe eine die Nachweiserleichterung rechtfertigende Verknüpfung aufweisen oder nicht. Das ist regelmäßig dann nicht der Fall, wenn unterschiedliche Verfolgungsmerkmale betroffen sind, während ein erhöhtes Verfolgungsrisiko typischerweise nahe liegt, wenn dasselbe Ausgrenzungsmerkmal in Rede steht (BVerwG, Urteil vom 18.02.1997 -9 C 9.96-, BVerwGE 104, 97, 100f.).
Von einer Verfolgung aus Gründen der Art, die den Anlass für die behauptete Vorverfolgung gegeben haben sollen, ist die Antragstellerpartei auch bei Wiedererstehen einer irakischen Staatsgewalt hinreichend sicher. Der Antragsteller behauptet, von den früheren irakischen Sicherheitskräften drei Monate inhaftiert worden zu sein. Dies habe im Zusammenhang mit der Verhaftung und Tötung seines Vaters gestanden, der ... im Range eines Oberst ... unterrichtet habe. Die Kammer kann offen lassen, ob dieses Vorbringen zutrifft, woran Zweifel bestehen, weil der Vater des Antragstellers wie dieser jezidischer Kurde war. Den Vortrag als wahr unterstellt, ist der Antragsteller wegen einer Gegnerschaft gegen das Regime des Saddam Hussein verfolgt worden. Dies wird mit Sicherheit künftig in einem wie auch immer gestalteten Irak kein Anknüpfungspunkt für eine politische Verfolgung im Heimatland des Antragstellers mehr sein.
Die Abschiebungsandrohung begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Abschiebungshindernisse im Sinne von §§ 53, 54 AuslG sind nicht gegeben.
Die Anwendung des § 53 Abs. 1 - 4 AuslG scheidet aus, da sie eine staatliche Verfolgung voraussetzt (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. nur Urteil vom 15.4.1997-9 C 38.96-, InfAuslR 1997, 447), die hier nach dem Gesagten nicht vorliegt und antragstellerseits auch nicht geltend gemacht wird.
Auch hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG liegen nicht vor. Diese Vorschrift setzt im Einzelfall eine erhebliche, individuell konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraus. Es muss mithin eine schwere existenzielle Bedrohung konkret zu befürchten sein, die sich nicht schon aus der allgemeinen Lage im Irak herleiten ließe. Allgemeine Gefahren, die nicht nur dem betreffenden Ausländer, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, begründen auch dann nicht Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, wenn sie den Ausländer konkret und individualisierbar betreffen; sie sind einer politischen Leitentscheidung im Sinne des § 54 AuslG vorbehalten (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 -9 C 9.95-, BVerwGE 99, 324; Urteil vom 12.07.2001 -1 C 5.01- DVBl 2001, 1772). Lediglich wenn einem Ausländer im Zielstaat im Ausnahmefall mit hoher Wahrscheinlichkeit so erhebliche konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit unmittelbar drohen, dass unmittelbar aus dem Grundgesetz die Gewährung von Abschiebungsschutz geboten ist (Art. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 GG), sind allgemeine Gefahren durch eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 12.07.2001, a.a.O.). Dies ist dann der Fall, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von ihrer Ermessensermächtigung in § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht haben, einen generellen Abschiebestopp zu verfügen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 17.10.1995, a.a.O.).
Eine solche Gefahr besteht nicht wegen der Tätigkeit des Vaters des Antragstellers. Denn wie sich aus dem antragstellerischen Vorbringen ergibt, ist die Familie selbst Opfer des irakischen Regimes geworden, muss daher auch nicht befürchten, wegen einer Tätigkeit für dieses Regime im Falle der Rückkehr in den Irak von privaten Dritten belangt zu werden. Abgesehen davon ist der Vater des Antragstellers nicht operativ für das Regime tätig gewesen, sondern lediglich in -nicht öffentlichkeitswirksamer- Funktion . Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass weitere Familienangehörige des Antragstellers (zwei Schwestern) noch im Irak leben, ohne dass der Antragsteller behauptet, geschweige denn glaubhaft gemacht hätte, dass diese dort behelligt würden.
Einer extremen und konkreten Gefährdung wird der Antragsteller für den Fall seiner Rückkehr in den Irak ferner nicht wegen der anhaltenden gewalttätigen Übergriffe und auch nicht wegen der schwierigen Existenzbedingungen ausgesetzt (vgl. ebenso: OVG Schleswig, a.a.O.; VGH München, Beschluss vom 04.11.2003 -13a ZB 03.31110; Beschluss vom 13.11.2003 15 B 02.31751-. VG Stade, a.a.O.; VG Ansbach, Beschluss vom 16.12.2003 AN 3 S 03.31946-).
Das Gericht verkennt nicht, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor angespannt ist und die nahezu täglich stattfindenden bewaffneten Angriffe, dort wo sie stattfinden, zu einer erheblichen Gefährdung der Zivilbevölkerung führen (vgl. UNHCR, Stellungnahme zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender vom November 2003, Asylmagazin 12/2003, 16; DOI, a.a.O.; Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O). Derartige Gewalt- und/oder Terroraktionen sind -soweit sie überhaupt "politisch" einzuordnen sind- lokal oder tribal begrenzt. Der kurdische Norden und der schiitische Süden des Landes gelten als weitgehend sicheres Gebiet. Insgesamt ist trotz anhaltender Gewalttaten eine Verbesserung der Sicherheitssituation auch in der Hauptstadt Bagdad zu beobachten (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 8. Januar 2004, Verbesserung des Alltagslebens in Bagdad). Unabhängig davon träfen derartige Gewalthandlungen den Antragsteller nicht konkret und mit hoher Wahrscheinlichkeit, sondern gleichsam "blind", was ein aus den Grundrechten abgeleitetes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG nicht zu begründen vermag. Dies gilt gleichsam für Yeziden.
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak nicht von einer (extremen) existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser sowie die medizinische Grundversorgung sind nach Wiederaufnahme des "Oil für Food"-Programms aufgrund der UN-Sicherheitsratsresolution Nr. 1483 deutlich besser geworden. Hinzu kommen das World-Food-Programm der UN und ähnliche Programme von nichtstaatlichen Hilfsorganisationen, der relativ freie Warenverkehr von und nach dem Irak sowie die Erträge der irakischen Landwirtschaft, die im Jahr 2003 nach drei Jahren der Dürre eine zufriedenstellende Ernte hatte. Die Versorgung mit Trinkwasser kann örtlich problematisch sein, ohne dass es aber zu existenziellen Gefährdungen käme (vgl. DOI, a.a.O.; Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O.; UNHCR, Stellungnahme vom 29.07.2003 an das OVG Schleswig; Neue Züricher Zeitung , a.a.O.; Die Welt vom 12.12.2003, Der Wiederaufbau im Irak kommt voran).
Die Rückkehr in den Irak ist nach den vorliegenden Erkenntnisquellen auch tatsächlich möglich. Im Irak geborene Personen, wie der Antragsteller, dürfen lt. CPA Order Nr. 16 dorthin zurückkehren und können dies über die Türkei, Jordanien oder Syrien (vgl. Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O.).
Die Ausreisefrist entspricht der gesetzlichen Bestimmung des § 36 Abs. 1 AsylVfG. Letztlich ist für das Gericht nicht erkennbar, dass die Verfügung der Antragsgegnerin für sich genommen, d. h. unbeschadet der Beurteilung des Asylantrages als "offensichtlich unbegründet", an Rechtsfehlern leidet.