Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.08.2000, Az.: 8 K 804/99

Ansatz von Trinkgeldern als Arbeitsohn; Änderung wegen nachträglich bekannt gewordener Schätzungsgrundlagen; Vermutungen, Schätzungen und Verdachtsmomente als Tatsachen; Fehlen der Änderungsbefugnis des Finanzamts wegen Kenntnis von Tatsache

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
29.08.2000
Aktenzeichen
8 K 804/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 22784
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2000:0829.8K804.99.0A

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Vermutungen, Verdachtsmomente und Wahrscheinlichkeiten sind keine Tatsachen. Eine Tatsache besteht erst, wenn über einen Lebensvorgang Gewissheit herrscht. Auch die Schätzung ist keine Tatsache.

  2. 2.

    Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen nachträglich bekannt gewordener Schätzungsgrundlagen ist nur möglich, wenn die nachträglich entstandene Hilfstatsache einen sicheren Schluss auf die (innere) Haupttatsache ermöglicht. Die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO trägt das FA.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Finanzamt (FA) den Einkommensteuerbescheid gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) ändern durfte und in welcher Höhe ggf. Trinkgelder als Arbeitslohn anzusetzen sind.

2

Die Klägerin (Kl.) war im Streitjahr als Kellnerin in der von der Betriebsgesellschaft W GmbH (im Folgenden: W) geführten Autobahnraststätte G beschäftigt. In ihrer Einkommensteuererklärung machte die Kl. keine Angaben zu erhaltenen Trinkgeldern. Gegenüber ihrem Arbeitgeber hatte die Kl. monatlich die von ihr erhaltenen und aufgezeichneten Trinkgelder erklärt. Das erklärte Trinkgeld überstieg um 57,00 DM den Freibetrag von 2.400,00 DM. Diese 57,00 DM waren - ohne gesonderten Ausweis - in dem lohnversteuerten und auf der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohn der Kl. enthalten.

3

Das FA veranlagte die Kl. zunächst unter Ansatz des auf der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohnes mit dem Einkommensteuerbescheid vom 11. Juli 1996.

4

Im Rahmen einer 1999 bei der W durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung stellte der Prüfer fest, dass die Kl. im Streitjahr 365.760,20 DM Kellnerumsatz erzielt hatte und schätzte, dass sie 2,5 % des Umsatzes als Trinkgeld erhalten habe. Daher seien nach Abzug des Freibetrages und des bereits versteuerten Trinkgeldes weitere 6.687,01 DM als Einnahme zu erfassen.

5

Entsprechend der Prüfungsmitteilung des FA M für Körperschaften vom 16. Juli 1999 änderte das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid mit Bescheid vom 1. September 1999 gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

6

Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die Klage. Die Kl. macht geltend, sie habe keine höheren als die ihrem Arbeitgeber erklärten und bereits steuerlich berücksichtigten Trinkgelder erhalten. Eine neue Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO liege nicht vor, da schon bei Durchführung der Veranlagung der Kellnerumsatz der Kl. bekannt gewesen und im Rahmen der Lohnsteuer-Außenprüfung auch nicht angezweifelt worden sei, als auch die Trinkgelderklärungen der Kl., die zudem in den einzelnen Monaten über dem anteiligen monatlichen Freibetrag von 200,00 DM gelegen hätten, bei der Lohnversteuerung durch den Arbeitgeber berücksichtigt worden seien.

7

Der im Rahmen der Lohnsteuer-Außenprüfung geäußerte Verdacht bzw. die Vermutung, dass die vorliegenden Trinkgelderklärungen nahezu aller bei dem geprüften Unternehmen beschäftigten Kellner aufgrund der getroffenen Feststellungen und der allgemeinen Lebenserfahrung nicht zutreffend seien, stellten keine neuen Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO dar. Eine neue Tatsache sei erst dann gegeben, wenn über einen Lebensvorgang Gewissheit bestehe.

8

Selbst bei Annahme einer neuen Tatsache habe das FA nicht gem. § 162 Abs. 1 AO schätzen dürfen. Gem. § 162 Abs. 2 Satz 1 AO seien Besteuerungsgrundlagen insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermöge oder weitere Auskunft oder eine Versicherung an Eides statt verweigere oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletze. Die Kl. habe demgegenüber die von ihr vereinnahmten Trinkgelder nach bestem Wissen und Gewissen täglich aufgezeichnet und entsprechend ordnungsgemäß monatlich ihrem Arbeitgeber zur Lohnversteuerung erklärt.

9

Selbst unter der Annahme, dass eine neue Tatsache vorliege und eine Schätzung zulässig sei, sei die pauschale Schätzung in Höhe von 2,5 % des erzielten Kellnerumsatzes nicht sachgerecht. Die Kl. habe bezogen auf ihren Kellnerumsatz ein prozentuales Trinkgeld in Höhe von 0,65 % erklärt. Diese Trinkgeldhöhe könne bei ausreichender Würdigung der Gegebenheiten nicht angezweifelt werden. Die Gaststätte sei im Streitjahr eine imbissartig betriebene Autobahnraststätte mit nicht besonders angenehmen Räumlichkeiten gewesen. Bei den Gästen habe es sich um Durchreisende mit einem hohen Ausländer- insbesondere Skandinavier-Anteil gehandelt, welche stets davon ausgingen, dass ein evtl. Trinkgeld im Preis enthalten sei. Gerade bei den ausländischen Gästen sei der Anteil an unbarer Rechnungsbegleichung sehr hoch, da in der Regel keine DM aufgrund der Durchreise durch die Bundesrepublik Deutschland mitgeführt würden. Bei Zahlung mit Kreditkarte werde pfenniggenau abgerechnet, ohne Trinkgeld zu gewähren. Die Speisen und Getränke seien überwiegend, wie bei Raststätten üblich, überteuert angeboten worden. Die Verweildauer der Gäste sei regelmäßig sehr kurz gewesen. Ferner seien sog. Mankogelder vom jeweiligen Kellner zu tragen.

10

Die Gesamtwürdigung dieser für die Autobahnraststätte G charakteristischen Merkmale müsse zu dem Ergebnis führen, dass das von der Kl. tatsächlich in 1995 erhaltene und auch erklärte Trinkgeld den Gesamtgegebenheiten ihres Arbeitsplatzes entspreche.

11

Die Kl. beantragt,

den Änderungsbescheid aufzuheben.

12

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

13

Er macht geltend, er habe den Einkommensteuerbescheid wegen der ihm nachträglich bekannt gewordenen Hilfstatsache des Kellnerumsatzes ändern dürfen. Nach dem Urteil des BFH vom 24. Oktober 1985 (IV R 75/84, BStBl II 1986 S. 233 ff.) seien neue Tatsachen i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auch neue Schätzungsgrundlagen, die erst durch eine Außenprüfung nachträglich bekannt würden. Die Höhe des von der Kl. erzielten Kellnerumsatzes sei dem FA bei der Veranlagung nicht bekannt gewesen.

14

Es könne auch nicht eingewandt werden, das FA habe bei der Veranlagung Ermittlungen über die Höhe der lohnversteuerten Trinkgelder und/oder die Höhe der der Kl. zuzurechnenden Umsätze anstellen müssen. Das FA habe vielmehr davon ausgehen können, dass die der Kl. zugeflossenen Trinkgelder im bescheinigten Bruttoarbeitslohn enthalten gewesen seien.

15

Wenn die Kl. vortrage, dass die Trinkgelder aus verschiedenen Gründen nicht höher gewesen seien als die bereits versteuerten Beträge, so liege dem die berechtigte Absicht zugrunde, die Versteuerung so gering wie möglich zu halten. Dieser Argumentation könne das FA entgegenhalten, dass Restaurantbesucher im Urlaub im Allgemeinen großzügiger seien als gewöhnlich, so dass durch den Anteil der Urlaubsreisenden ein eher höheres Trinkgeld zu erwarten sei; die Trinkgeldschätzung sei demzufolge eher im oberen Bereich anzusiedeln.

16

Wegen des weiteren Vorbringens und Sachverhalts wird auf die Steuerakte und die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Gründe

17

Die Klage ist begründet.

18

Gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

19

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Das FA hat nicht dargelegt und nachgewiesen, dass die Kl. im Streitjahr tatsächlich höhere als die zuvor ihrem Arbeitgeber erklärten und nach Abzug des Freibetrages gem. § 3 Nr. 51 EStG im Arbeitslohn enthaltenen und versteuerten Trinkgelder erhalten hat. Vielmehr vermutet es, dass die Erklärungen der Kl. unrichtig waren und hat die Höhe der Trinkgelder geschätzt.

20

Vermutungen, Verdachtsmomente und Wahrscheinlichkeiten sind keine Tatsachen. Eine Tatsache besteht erst, wenn über einen Lebensvorgang Gewissheit herrscht (vgl. BFH, Urteil vom 17. Januar 1964 III 416/60 U, BStBl III 1964, 145). Auch die Schätzung ist keine Tatsache. Sie ist lediglich eine Schlussfolgerung aus Tatsachen, den Schätzungsgrundlagen (vgl. Tipke/Kruse, Kommentar zur AO, Rdz. 10 zu § 173 AO und die dort angeführte Rechtsprechung des BFH). Es liegt deshalb keine neue Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO vor, so dass das FA den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid nicht gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern durfte.

21

Soweit sich das FA darauf beruft, die Höhe des Kellnerumsatzes als Schätzungsgrundlage sei ihm erst nachträglich bekannt geworden, rechtfertigt dies keine Änderung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Voraussetzung einer Änderung wegen nachträglich bekannt gewordener Schätzungsgrundlagen ist nach der Rechtsprechung des BFH, "dass die nachträglich entstandene Hilfstatsache einen s i c h e r e n Schluss auf die (innere) Haupttatsache ermöglicht; Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten reichen dafür nicht aus . Die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die tatsächlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 trägt das FA" (BFH, Urteil vom 6. Dezember 1994 IV R 11/91, BStBl II 1995, 192 ff. [BFH 06.12.1994 - IX R 11/91]). Das FA vermutet insoweit lediglich aufgrund der Höhe des von der Kl. erzielten Kellnerumsatzes, dass sie höhere als die bereits erklärten und versteuerten Trinkgelder erhalten habe. Letzteres kann das Gericht angesichts der besonderen Umstände der Autobahnraststätte nicht feststellen. Die Höhe des Kellnerumsatzes der Kl. lässt nicht den sicheren Schluss zu, dass sie höhere als die erklärten Trinkgelder erhalten hat. Vielmehr haben die Zeugenvernehmung in dem gleichgelagerten Verfahren zum Aktenzeichen 8 K 101/00 des Niedersächsischen Finanzgerichts und die Vernehmung der Klägerin jenes Verfahrens ergeben, dass in der Autobahnraststätte G im Streitjahr nur sehr geringe Trinkgelder gezahlt wurden.

22

Unabhängig davon hat das FA insoweit seine Ermittlungspflichten verletzt. Die Finanzbehörde verstößt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH gegen Treu und Glauben, wenn sie den Steuerbescheid ändert, weil ihr nachträglich Tatsachen bekannt geworden sind, die sie bei gehöriger Erfüllung der ihr nach § 88 AO obliegenden Ermittlungspflicht schon vor der Steuerfestsetzung hätte feststellen können, sofern die Steuerpflichtigen ihrer Mitwirkungspflicht voll genügt haben (vgl. Tipke/Kruse, Rdz. 62 zu § 173 AO und die dort zitierte Rechtsprechung des BFH). Da es in das Ermessen der Finanzbehörde gestellt ist, die materielle Bestandskraft einer Steuerfestsetzung dadurch offen zu halten, dass sie die Festsetzung der Steuer "solange der Steuerfall nicht abschließend geprüft ist" unter den Vorbehalt der Nachprüfung stellt (§ 164 Abs. 1 AO), gebietet § 88 AO für den Fall, dass die Finanzbehörde von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, dass sie allen offenkundigen Zweifelsfragen, also Zweifeln, die sich ohne weiteres aufdrängen, nachgeht. Die Steuerpflichtigen, die ihrer Mitwirkungspflicht voll genügt haben, können sich bei einer Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung darauf verlassen, dass eine abschließende Prüfung durch die Finanzbehörde erfolgt ist (vgl. BFH, Urteil vom 13. November 1985 II R 208/82, BStBl II 1986, 241 ff.).

23

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann sich das FA nicht darauf berufen, die Höhe des Kellnerumsatzes der Kl. sei ihm erst nachträglich bekannt geworden. Die Kl. genügte ihrer Mitwirkungspflicht, indem sie die Höhe des von ihr nach ihren Aufzeichnungen erhaltenen Trinkgeldes monatlich bescheinigte und indem sie den von dem Arbeitgeber auf der Lohnsteuerkarte ausgewiesenen Bruttoarbeitslohn in ihrer Einkommensteuererklärung angab. Dem FA war bei Durchführung der Veranlagung bekannt, dass die Kl. als Kellnerin beschäftigt war. Da Kellnerinnen üblicherweise Trinkgeld erhalten und die Höhe des im Bruttoarbeitslohn enthaltenen Trinkgeldes aus der Lohnsteuerkarte nicht ersichtlich war, hätte das FA ohne großen Aufwand - ebenso wie dies etwa bei Erklärungen zum prozentualen Umfang der privaten Nutzung von Pkw und Telefon üblich ist - bereits bei Durchführung der Veranlagung bei der Kl. nachfragen können, wie hoch der Kellnerumsatz der Kl. und das von ihr erhaltene Trinkgeld waren und inwieweit der Bruttoarbeitslohn das Trinkgeld enthielt. Da sich das FA nicht auf das nachträgliche Bekanntwerden der Höhe des Kellnerumsatzes und des versteuerten Trinkgeldes berufen kann, durfte es auch deshalb den Bescheid nicht gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern.

24

Unabhängig von der fehlenden Änderungsbefugnis gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist das Gericht davon überzeugt, dass die Kl. im Streitjahr keine höheren als die seinem Arbeitgeber erklärte und nach Abzug des Freibetrages bereits versteuerten Trinkgelder erhalten hat. Die Vernehmungen in dem Verfahren zum Aktenzeichen 8 K 101/00 des Niedersächsischen Finanzgerichts haben ergeben, dass die Trinkgelder in der Autobahnraststätte G nach der Übernahme durch die Firma W zurückgegangen sind und die durchreisenden Gäste im Streitjahr nur in sehr geringem Umfang Trinkgeld gegeben haben. Skandinavische Gäste haben nach Aussage des Kl. grundsätzlich kein Trinkgeld gegeben, da sie davon ausgingen, dies sei im Preis enthalten. Die durchreisenden Gäste haben nach der glaubhaften Darlegung der Klägerin in dem Verfahren 8 K 101/00 und der Aussage des Zeugen im Wesentlichen Getränke und kleinere Gerichte verzehrt und dabei nur wenig Trinkgeld gezahlt. Auch haben beide glaubhaft und durch den - für alle Kellner insoweit gleichlautenden - Formular-Arbeitsvertrag belegt dargelegt, dass sie es vorzogen, bei der - an einer Autobahnraststätte angesichts der Möglichkeit des schnelleren Verschwindens häufiger als in sonstigen Restaurants vorkommenden - Zechprellerei von Getränken und kleineren Gerichten diese Beträge selbst auszugleichen, statt sie zeitaufwendig in ihrer Freizeit bei der Polizei anzuzeigen.

25

Das FA durfte daher auch deshalb keine höheren als die bereits versteuerten Trinkgelder ansetzen, weil die Kl. diese zur Überzeugung des Gerichts nicht erhalten hat.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf den §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

27

Das Gericht lässt die Revision nicht gem. § 155 Abs. 2 FGO zu, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und das Urteil nicht von der Entscheidung des BFH oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht.