Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 29.08.2000, Az.: 8 K 729/99

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
29.08.2000
Aktenzeichen
8 K 729/99
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 35739
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2000:0829.8K729.99.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
FG Niedersachsen - 29.08.2000 - AZ: 8 K 730/99
BFH - 16.09.2004 - AZ: IV R 62/02

Fundstelle

  • DStRE 2003, 884-885

Tatbestand

1

Trotz Aufforderung durch das Finanzamt (FA) hatte der Kläger (Kl.), der von Beruf Steuerberater ist, die Einkommen- und die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr nicht abgegeben. Das FA schätzte daher die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Einkommensteuer auf ... DM und die Umsatzsteuer auf ... DM fest. Mit Bescheid vom ... setzte das FA einen Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer in Höhe von ... DM fest.

2

Mit auf den ... datiertem Schreiben, das ausweislich des Eingangsstempels am ... bei dem FA einging, legte der Kl. Einspruch gegen den Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer ein. Zugleich fügte er die Einkommen- und die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr und eine Kopie eines Einspruchsschreibens vom .... gegen den Einkommen- und den Umsatzsteuerbescheid vom ... bei. Aus der vorgelegten Einkommensteuererklärung ergab sich gegenüber den geschätzten Besteuerungsgrundlagen neben anderen Steuerminderungen u.a. ein um ca. .... DM niedrigerer Gewinn des Kl. aus seiner selbständigen Arbeit, aus der vorgelegten Umsatzsteuererklärung eine um ca. .... DM geringere Zahllast.

3

Nachdem der Kl. vom FA darauf hingewiesen worden war, dass ein Original des Einspruchsschreibens nicht vorliege, legte der Kl. im Einzelnen dar, dass er am ... Einspruch eingelegt und diesen Einspruch zusammen mit Unterlagen seiner Mandanten ... und dem FA übersandt habe. Weiterhin fügte er eine Ablichtung einer Seite des Postausgangsbuchs bei, auf der vermerkt war:

4

" Est ... Einspr. selbst ."

5

Mit Schriftsatz vom ... beantragte der Kl. vorsorglich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Mit Einspruchsbescheiden vom ... verwarf das FA die Einsprüche als unzulässig. Die dagegen gerichteten Klagen hat der Senat mit rechtskräftigen Urteilen ... als unbegründet abgewiesen. Der Senat ist bei seinen Entscheidungen davon ausgegangen, dass der Kl. nicht nachgewiesen habe, dass sich das Einspruchsschreiben in dem Briefumschlag befunden habe, in dem die Unterlagen der Mandanten ... und ... dem FA übersandt worden sind. Der rechtzeitige Eingang des Einspruchs beim FA sei daher nicht feststellbar. Eine Wiedereinsetzung scheide aus, weil der Wiedereinsetzungsantrag nicht innerhalb der Monatsfrist des § 110 Abs. 2 Satz 1 AO gestellt worden sei und den Kl. überdies ein Verschulden daran treffe, dass der Postausgang in seinem Büro nicht ordnungsgemäß kontrolliert worden sei.

6

Mit Schriftsatz vom ... beantragte der Kl., den Einkommen- und den Umsatzsteuerbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, da ihn an dem nachträglichen Bekanntwerden der sich aus den vorgelegten Steuererklärungen nebst Gewinnermittlungen ergebenden neuen Tatsachen und Beweismittel kein grobes Verschulden treffe. Mit Bescheid vom ... wies das FA den Änderungsantrag zurück. Das FA wies darauf hin, dass den Kl. schon deshalb ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen treffe, weil er trotz mehrmaliger Aufforderung durch das FA die Steuererklärungen nicht fristgerecht eingereicht habe. Den Einspruch wies das FA mit Einspruchsbescheid vom ... als unbegründet zurück.

7

Hiergegen richten sich die vorliegenden Klagen. Der Kl. trägt vor, dass er rechtzeitig vor Ablauf der Einspruchsfrist das Einspruchsschreiben gefertigt und an das FA übersandt habe. Er habe daher davon ausgehen können, dass der Einkommen- und der Umsatzsteuerbescheid unter Berücksichtigung der erstellten Steuererklärungen geändert werden würde. Die Steuererklärungen habe er nicht früher vorlegen können, weil seine EDV-Anlage vollständig ausgefallen sei und Daten der Mandanten dabei verloren gegangen seien. Es hätten daher zunächst die Steuererklärungen der Mandanten vordringlich bearbeitet werden müssen. Danach treffe ihn aber kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der sich aus den Steuererklärungen ergebenden neuen Tatsachen.

8

Der Kl. beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom ... und den Einspruchsbescheid vom .... aufzuheben und das Finanzamt zu verpflichten, ihn unter Berücksichtigung der eingereichten Einkommen- und Umsatzsteuererklärung neu zu bescheiden.

9

Das FA beantragt,

die Klagen abzuweisen.

10

Das FA hält daran fest, dass den Kl. ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der sich aus den Steuererklärungen ergebenden neuen Tatsachen treffe, weil er trotz mehrfacher Aufforderungen die Steuererklärungen nicht fristgerecht vorgelegt habe.

11

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten ... und die Steuerakten (Steuernummer: ...).

Entscheidungsgründe

12

Die Klagen sind begründet.

13

Das FA ist verpflichtet, den Einkommen- und den Umsatzsteuerbescheid unter Berücksichtigung der vom Kl. eingereichten Einkommen- und Umsatzsteuererklärung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, denn den Kläger trifft an dem nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen kein grobes Verschulden.

14

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, denn dem FA ist erst durch die vorgelegte Einkommen- und die Umsatzsteuererklärung nachträglich bekannt geworden, dass u.a. der Gewinn des Kl. aus seiner selbständigen Tätigkeit und die Umsätze deutlich geringer waren, als das FA bei der Schätzung angenommen hatte.

15

Zutreffend geht daher auch das FA von neuen Tatsachen aus, die nachträglich bekannt geworden sind. An diesem nachträglichen Bekanntwerden trifft den Kl. kein grobes Verschulden.

16

Grobes Verschulden im Sinne von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO umfasst nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grob fahrlässig handelt ein Steuerpflichtiger, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteil des BFH vom 4 Februar 1998 XI R 47/97, BFH/NV 1998, 682 m.w.N.). Ggf. ist es Sache des FA, im Einzelnen nachzuweisen, dass den Steuerpflichtigen an dem nachträglichen Bekanntwerden der neuen Tatsachen ein grobes Verschulden trifft (Urteil des BFH vom 22. Mai 1992 VI R 17/91, BStBl 1993, 80). Einen solchen Nachweis hat das FA nicht erbracht.

17

Die Frage, aus welchen Gründen der Kl. trotz mehrfacher Aufforderungen durch das FA die Einkommen- und Umsatzsteuererklärung nicht innerhalb der vom FA gesetzten Fristen vorgelegt hat, kann dahinstehen, denn allein die Versäumung dieser Fristen kann nicht als grob schuldhaft angesehen werden. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist nämlich für die Frage, ob den Steuerpflichtigen ein grobes Verschulden daran trifft, dass dem FA neue Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erst nachträglich bekanntgeworden sind, auch der Zeitraum mit einzubeziehen, in dem nach Durchführung der Veranlagung die Bescheide noch anfechtbar, die Bestandskraft bzw. die Rechtskraft der Bescheide also noch nicht eingetreten ist (Urteil des BFH vom 25. November 1983 VI R 8/82, BStBl II 1984, 256). Bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung muss das FA im Einspruchsverfahren den Sachverhalt nach § 367 Abs. 2 AO unabhängig davon umfassend prüfen, ob die nachträglich vorgebrachten Tatsachen verschuldet verspätet geltend gemacht werden. Erst nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung kommt es für eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO auf grobes Verschulden des Steuerpflichtigen an (Urteil des BFH XI R 47/97, a.a.O.). Danach kann der Senat aber ein grobes Verschulden des Kl. an dem nachträglichen Bekanntwerden der neuen Tatsachen nicht feststellen.

18

Der Kläger hat von Anfang an - bestätigt durch die eidesstattliche Versicherung vom .... - vorgetragen, dass er am ..., also elf Tage vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist, Einspruch gegen den Einkommen- und den Umsatzsteuerbescheid eingelegt habe. Dies hat er zwar in den Verfahren 8 K 114/99 und 8 K 115/99 nicht nachweisen können, da das Einspruchsschreiben nicht zu den Akten gelangt ist und nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Kl. sein Einspruchsschreiben versehentlich in einen Briefumschlag gesteckt hat, der nicht für das beklagte FA bestimmt war. Allein der Umstand, dass der Kl. den Eingang des Einspruchs nicht nachweisen konnte und ihm auch wegen der unzureichenden Büroorganisation keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren war, rechtfertigt es aber noch nicht, grobes Verschulden anzunehmen, denn Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung einer gesetzlichen Frist scheidet nicht nur bei grobem Verschulden, sondern bereits dann aus, wenn den Steuerpflichtigen überhaupt ein Verschulden, z.B. leichte Fahrlässigkeit trifft. Entscheidend ist im vorliegenden Fall vielmehr, ob den Kl. ein grobes Verschulden daran trifft, dass Einkommen- und Umsatzsteuerbescheid bestandskräftig geworden sind. Diese Frage verneint der Senat.

19

Im Hinblick darauf, dass das FA im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ggf. ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen nachzuweisen hat, wäre es Sache des Finanzamts gewesen, die Darstellung des Klägers über die Einspruchseinlegung zu widerlegen. Dies hat das FA nicht einmal ansatzweise versucht. Nach Auffassung des Senats kann dem Kl. nicht widerlegt werden, dass er das Einspruchsschreiben gefertigt und versehentlich in einen Briefumschlag gesteckt hat, der nicht für das beklagte FA bestimmt war. Subjektiv ist der Kl. davon ausgegangen, dass er elf Tage vor Ablauf der Einspruchsfrist alles veranlasst hatte, um eine Änderung des Einkommen- und des Umsatzsteuerbescheides zu erreichen. Die Tatsache, dass er den Postausgang nicht in der erforderlichen Weise kontrolliert hat, war fahrlässig und damit schuldhaft im Sinne von § 110 Abs. 1 AO. Diese Pflichtverletzung ist aber nicht so schwerwiegend, dass sie als so ungewöhnliche, nicht entschuldbare Verletzung der ihm zumutbaren Sorgfalt angesehen werden könnte, die eine Änderung der Steuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ausschließt.

20

Danach war der Klage stattzugeben und das Finanzamt zu verpflichten, dem Kl. unter Berücksichtigung der vorgelegten Steuererklärungen einen neuen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheid zu erteilen und damit die materiell zutreffenden Steuern gegen den Kl. festzusetzen.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 1, 155 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.