Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.03.2004, Az.: 9 K 365/01

Möglichkeit des Widerrufs einer Klagerücknahme; Wirksamwerden einer Rücknahmeerklärung bei vorherigem oder gleichzeitigem Zugang eines Widerrufs; Befugnis eines Prozessbevollmächtigten zur Klagerücknahme; Rechtsnatur einer Klagerücknahme; Entsprechende Anwendung der Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) über Rechtsgeschäfte auf Prozesshandlungen; Geltung des Grundsatzes der Unwiderruflichkeit einer Prozesshandlung in Fällen einer erforderlichen Einwilligung des Finanzamts zur Klagerücknahme

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
03.03.2004
Aktenzeichen
9 K 365/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 18057
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2004:0303.9K365.01.0A

Fundstelle

  • EFG 2004, 1239-1241

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Der Widerruf einer Klagerücknahme ist grds. nicht möglich. Dies dient dem Interesse einer eindeutigen und klaren prozessrechtlichen Lage.

  2. 2.

    Die Rücknahmeerklärung wird nur dann nicht wirksam, wenn dem zuständigen Gericht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht.

  3. 3.

    Diese Grundsätze gelten auch, wenn die Einwilligung des Finanzamts zur Klagerücknahme erforderlich ist.

Tatbestand

1

Die Kläger begehren für die Streitjahre 1992 bis 1999 die Berücksichtigung der von ihnen in den entsprechenden Steuererklärungen geltend gemachten Vorkosten nach § 10 e Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG).

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Nachdem das Gericht den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung für die Streitjahre (AktZ. 9 V 134/02) mit Beschluss vom 26. November 2002 zurückgewiesen hatte, erklärten die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 15. September 2003 die Klagerücknahme. Der damalige Berichterstatter stellte daraufhin das Verfahren mit Beschluss vom 17. September 2003 nach Maßgabe des § 72 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ein.

3

Als der Kläger persönlich mit Schriftsatz vom 30. September 2003 vortrug, die Klagrücknahme sei ohne sein Einverständnis erfolgt; er bitte um Prüfung, wie diese Rücknahme "rückgängig gemacht" werden könne, erfolgte eine nochmalige Durchsicht der Gerichtsakte. Sie ergab, dass sowohl der Prozessbevollmächtigte (Schriftsatz vom 10. September 2001) als auch der Beklagte (Finanzamt - FA -) (Schriftsatz vom 22. Januar 2002) auf mündliche Verhandlung verzichtet hatten. Eine Einwilligung des FA zur Klagerücknahme lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Der Senatsvorsitzende hob daraufhin in Vertretung des Berichterstatters mit Beschluss vom 6. Oktober 2003 den ursprünglichen Beschluss vom 17. September 2003 - die Einstellung des Verfahrens - auf, da die Rücknahme bislang mangels Einverständnisses des FA noch nicht wirksam geworden war.

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Mit Schriftsatz vom 16. Januar 2004 teilte das FA mit, dass es seine Einwilligung zur Rücknahme der Klage erteile.

5

Die Kläger fragten anschließend an, wann mit den geänderten Bescheiden durch das FA zu rechnen sei. Erst dann sähen sie das Verfahren als erledigt an.

6

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

die Einkommensteuer 1992 bis 1999 unter Änderung der Einspruchsentscheidung, Aufhebung der Änderungsbescheide 1992 bis 1998 undÄnderung des Bescheids 1999

  • für 1992 auf 17.674,00 DM,
  • für 1993 auf 21.792,00 DM,
  • für 1994 auf 20.278,00 DM,
  • für 1995 auf 22.272,00 DM,
  • für 1996 auf 18.772,00 DM,
  • für 1997 auf 19.936,00 DM,
  • für 1998 auf 18.868,00 DM und
  • für 1999 auf 18.858,00 DM herabzusetzen.

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Das FA beantragt (sinngemäß),

festzustellen, dass die Klage zurückgenommen ist.

8

Durch seine Einwilligung zur Klagerücknahme sei die Klage als erledigt anzusehen.

9

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO).

Gründe

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Die Klage ist wirksam zurückgenommen.

11

Die Voraussetzungen einer Klagerücknahme nach § 72 Abs. 1 FGO liegen inzwischen vor. Die Kläger haben die Klagerücknahme erklärt und das FA hat dieser Rücknahme zugestimmt.

12

Die Kläger haben durch ihren Prozessbevollmächtigten die Rücknahme der Klage wirksam erklärt. Alle Prozesshandlungen des Bevollmächtigten wirken unmittelbar für und gegen die Beteiligten,§ 155 FGO in Verbindung mit § 85 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO).

13

Als Prozessbevollmächtigter der Kläger war er auch zur Klagerücknahme befugt. Bevollmächtigte, die mit der Prozessführung beauftragt sind, dürfen grundsätzlich auch eine Klage zurücknehmen. Etwas anderes gilt nur, wenn die Kläger die Vollmacht von vornherein, und zwar auch dem Gericht erkennbar, insoweit eingeschränkt haben, beziehungsweise vor der Rücknahmeerklärung die Vollmacht insoweit widerrufen haben. (Vgl. Brandis in Tipke/Kruse FGO § 72 Rz. 5 m.w.Nw.) Eine solche Beschränkung der Vollmacht war für das Gericht nicht erkennbar. Die Prozessvollmacht lag dem Gericht zwar nicht vor, es konnte indes aufgrund des Auftretens des Prozessbevollmächtigten von dessen umfassender Prozessvollmacht ausgehen.

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Die einmal erklärte Klagerücknahme ist für die Kläger bindend, sie konnte von dem Kläger nicht wirksam widerrufen werden.

15

Das Schreiben des Klägers, in dem er dem Gericht mitteilt, dass sein Steuerberater die Klage ohne sein Einverständnis zurückgenommen habe und er das Gericht um Prüfung bittet, wie diese Rücknahme "rückgängig gemacht" werden könne, ist als Widerruf der ursprünglichen Erklärung der Klagerücknahme zu sehen. Dieser Widerruf ist beim zuständigen Gericht eingegangen, nachdem die Rücknahmeerklärung bereits dem Gericht vorlag und bevor das Finanzamt der Klagerücknahme zugestimmt hatte.

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Dieser Widerruf bleibt ohne Wirkung, da er nicht mehr zulässig war.

17

Die Rücknahme der Klage ist eine Prozesshandlung durch Willenserklärung. Der Kläger bringt zum Ausdruck, seinen Anspruch - das Klagebegehren (§ 65 Abs. 1 FGO) - in dem anhängigen Verfahren nicht mehr zu verfolgen. Die Klagerücknahme ist der Widerruf des Rechtsschutzbegehrens und beseitigt dessen Rechtshängigkeit rückwirkend. Sie greift gestaltend in ein bestehendes Prozessrechtsverhältnis ein. (Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler FGO § 72 Rz. 13). Ihr Widerruf ist grundsätzlich nicht möglich. Dies dient dem Interesse einer eindeutigen und klaren prozessrechtlichen Lage (Brandis in Tipke/Kruse FGO § 72 Rz. 18).

18

Prozesshandlungen sind keine Rechtsgeschäfte. (Vgl. hierzu Palandt Bürgerliches Gesetzbuch - BGB - Überbl. vor § 104 Rz. 37). Ihre Voraussetzungen und Wirkungen regelt dass Prozessrecht (Thomas-Putzo ZPO Einl. III, von Groll in Gräber FGO vor § 33 Rz. 14). Sofern das Prozessrecht keine eigenen Regelungen trifft, sind die Vorschriften des BGB entsprechend anwendbar. Dies gilt z.B. für die Auslegung der Prozesshandlungen; hier ist § 133 BGB entsprechend anwendbar (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. Oktober 1988 III B 184/86 BStBl II 1989, 107). Auch der Rechtsgedanke des§ 140 BGB ist anwendbar (Beschluss des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 25. November 1986 VI ZB 12/86 NJW 1987, 1204). Für den Widerruf von Prozesshandlungen gilt grundsätzlich § 130 Abs. 1 S. 2 BGB entsprechend (Zöller ZPO vor§ 128 Rz. 18).

19

Entsprechend der Regelung in § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB wird die Prozesserklärung nicht wirksam, wenn dem zuständigen Gericht vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Ein Widerruf nach Zugang der Prozesserklärung bei dem zuständigen Gericht ist ohne Bedeutung, die einmal abgegebene Erklärung bleibt wirksam. Insbesondere ist auch ein Widerruf in den Fällen des § 72 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht bis zur Einwilligung des FA noch möglich (Urteil des BFH vom 3. August 1978 VI R 73/78 BStBl II 1978, 649, Koch in Gräber FGO § 72 Rz 19, von Wedel in Schwarz FGO § 72 Rz. 17, Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - § 92 Rz. 11, Thomas-Putzo ZPO § 269 Rz. 8; a.A. Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern - FG Meck-Vorp. - Urteil vom 30. Mai 1997 1 K 46/96 EFG 1997, 1031; Brandis in Tipke/Kruse FGO§ 72 Rz. 18, Albert in Haarmann/Schmieczek Rechtsstreit in Steuer und Abgabenangelegenheiten (Stand 2001) Tz. 200).

20

Der Grundsatz der Unwiderruflichkeit einer Prozesserklärung gilt auch in den Fällen des § 72 Abs. 1 Satz 2 FGO, in denen die Einwilligung des FA zur Klagerücknahme erforderlich ist. Dies sind die Fälle, in denen die Klagerücknahme nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung, bei Verzicht auf die mündliche Verhandlung und nach Ergehen eines Gerichtsbescheids erklärt wird. In allen drei Fällen handelt es sich um Verfahren, in denen die mündliche Verhandlung abgeschlossen ist oder als abgeschlossen gilt (Schwarz FGO § 72 Rz. 19). Die erforderliche Einwilligung dient ausschließlich dem Interesse des FA an einer gerichtlichen Entscheidung bei einem bereits weit fortgeschrittenen Prozessstadium (Schwarz FGO § 72 Rz. 22). Sie dient dem Schutz des Beklagten und nicht dem Schutz des Klägers. Die Rechte des Klägers sind daher unabhängig davon, ob eine Einwilligung des Beklagten erforderlich ist oder nicht, die gleichen.

21

Würde man den Widerruf in diesen Fällen ausnahmsweise zulassen, so wäre die Bindungswirkung der Rücknahmeerklärung in vielen Fällen vom Zufall abhängig, ob sie nun vor oder nach Erlass eines Gerichtsbescheides, beziehungsweise ob sie bei Verzicht oder ohne Verzicht auf die mündliche Verhandlung erklärt würde. Es gibt keinen Grund, warum die Rücknahmeerklärung des Klägers in diesen Fällen unterschiedliche Bindungswirkung haben sollte. Wenn der Kläger die Klagerücknahme erklärt, ist er in jedem Fall nach den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen daran gebunden.

22

Der Verweis auf die BFH-Rechtsprechung zum Widerruf einer Erledigungserklärung, z.B. Urteil des BFH vom 9. März 1972 IV R 170/71, BStBl II 1972, 466, wie es insbesondere das FG Meck-Vorp. in seinem oben genannten Urteil macht, ist nicht zutreffend, da die Erledigungserklärung nicht mit der Erklärung der Klagerücknahme zu vergleichen ist. Die Klagerücknahme ähnelt zwar der Erledigungserklärung, sie ist ihr aber nicht gleich. Klagerücknahme und auch Erledigungserklärung sind Prozesshandlungen. Prozesshandlungen der Parteien werden grundsätzlich in Erwirkungs- und Bewirkungshandlungen eingeteilt. Erklären Beteiligte übereinstimmend für erledigt, stellt die Erklärung eine konstitutive Bewirkungshandlung dar, die Rechtshängigkeit ist unmittelbar mit Eingang der zweiten Erledigungserklärung bei Gericht beendet. Gibt nur einer der Beteiligten eine Erledigungserklärung ab, ist sie Erwirkungshandlung, die darauf abzielt, dass das Gericht eine bestimmte Entscheidung trifft (Schwarz in Hübschmann/Hepp/Spitaler FGO § 138 Rz. 19).

23

Geht der Kläger von einem Sachantrag zur Erledigungserklärung über, so ist darin eine Änderung des Klageantrags nach § 264 Nr. 2 und 3 ZPO,§ 155 FGO zu sehen. Da die Änderung des Klageantrags jederzeit unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, § 67 Abs. 1 FGO, ist auch die einseitig abgegebene Erledigungserklärung, ein Klageänderungsantrag, erneut änderbar, also auch widerrufbar. Der Kläger hat bis zum Eingang der Erledigungserklärung des FA die Möglichkeit, seinen Antrag erneut zuändern, also auch eine Erledigungserklärung zu widerrufen (vgl. Ruban in Gräber FGO § 138 Rz.16). Hier gibt es im Prozessrecht eigene Regelungen, ein Rückgriff auf das Zivilrecht ist nicht erforderlich.

24

Anders ist es bei einer Klagerücknahmeerklärung. Sie ist eine reine Bewirkungshandlung. Sofern die erforderliche Einwilligung des FA erteilt wird, entfällt die Rechtshängigkeit rückwirkend. Wird die Einwilligung durch den FA nicht erteilt, bleibt die Erklärung ohne Wirkung.

25

Nach Auffassung des FG Meck.-Vorp. soll dem nicht entgegenstehen, dass ein Widerruf einer Bewirkungshandlung grundsätzlich nicht möglich sei. Es komme auf die tatsächliche Bewirkung an, erst durch die Einwilligung des FA sei die Prozesshandlung bewirkt. Bis zur Bewirkung sei ein Widerruf möglich. Das Finanzgericht verkennt, dass die Rücknahmeerklärung bereits mit Zugang bei Gericht ihre Wirkung entfaltet, in diesem Augenblick hat der Kläger den weiteren Prozessverlauf aus der Hand gegeben. Er hat alles aus seiner Sicht erforderliche getan. Dem Kläger erwachsen auch dann keine Nachteile, wenn die Einwilligung des FA unterbleibt. In diesen Fällen hat die Rücknahmeerklärung, anders als die einseitige Erledigungserklärung, keine weitergehende Wirkung.

26

Im Januar 2004 hat das FA sein Einverständnis zur Klagerücknahme gegeben. Dieses war gemäß § 72 Abs. 1 Satz 2 FGO erforderlich, da zuvor beide Seiten auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatten. Damit ist die Rücknahmeerklärung des Prozessbevollmächtigten vom 15. September 2003 wirksam geworden, die Rechtshängigkeit der Klage ist entfallen. Eine Sachentscheidung durfte der Senat nicht mehr treffen.

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Die Kostenentscheidung ergeht nach § 135 Abs. 1 FGO.