Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 22.11.2017, Az.: 6 B 128/17
Abschiebungshaft; Ausreisepflicht; Italien; Überstellung; Verhältnismäßigkeit; Vorbereitung der Abschiebung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.11.2017
- Aktenzeichen
- 6 B 128/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 53658
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 46 Abs 1 AufenthG
- § 59 Abs 1 S 8 AufenthG
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen eine Ordnungsverfügung des Antragsgegners.
Der am B. geborene Antragsteller ist liberianischer Staatsangehöriger. Er ist vollziehbar ausreisepflichtig. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2017 als unzulässig abgelehnt. Zugleich wurde seine Abschiebung nach Italien angeordnet. Einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der dagegen gerichteten Klage des Antragstellers (Az.: 8 A 289/17) lehnte die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Lüneburg durch Beschluss vom 19. Juli 2017 (Az.: 8 B 150/17) ab.
Ein Überstellungsversuch am Montag, den 23. Oktober 2017, um 3.30 Uhr scheiterte, weil der Antragsteller nicht in seiner Wohnung angetroffen wurde.
Mit Bescheid vom 1. November 2017 verpflichtete der Antragsgegner den Antragsteller, sich an allen Wochentagen (Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag) im Zeitraum von 0:00 Uhr bis 07:00 Uhr in seiner Unterkunft C. aufzuhalten. Sofern er beabsichtige, sich zu den oben genannten Zeiten nicht in der Unterkunft aufzuhalten, habe er dies unter Angabe des beabsichtigten Aufenthaltsortes spätestens am vorherigen Tag bei der Ausländerbehörde des Landkreises Celle anzuzeigen. Dies könne montags bis freitags während der allgemeinen Dienstzeit durch persönliche Vorsprache in der Ausländerbehörde oder telefonisch unter der oben genannten Telefonnummer, Fax an D. oder per E-Mail an E. erfolgen. Bei kurzfristiger (spontaner) Abwesenheit habe er eine schriftliche Nachricht, ebenfalls unter Angabe des Aufenthaltsortes, im Eingangsbereich seiner Wohnung (z. B. an der Eingangstür) zu hinterlassen. Die sofortige Vollziehung der Verfügung wurde angeordnet.
Am 7. November 2017 hat der Antragsteller Klage erhoben (Az.: 6 A 651/17) und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt.
Er trägt vor, es sei fraglich, ob er überhaupt noch nach Italien überstellt werden könne. Der im Bescheid des Antragsgegners genannte Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 20. März 2017 sei nicht bekannt. Es fehle ferner an einer Rechtsgrundlage für die getroffene Anordnung, die einen schweren Eingriff in Freiheitsrechte darstelle. Eine über die Wohnsitzanordnung hinausgehende weitere Freiheitsbeschränkung erlaube § 46 Aufenthaltsgesetz nicht. Zudem erlege der Bescheid ihm unzumutbare und teils unmögliche Pflichten auf. Im Falle einer spontanen Planänderung sei es ihm nicht möglich, zu seiner Wohnung zurückzukehren und einen Zettel zu hinterlegen. Außerdem sei der Bescheid unverhältnismäßig, da der Antragsgegner ihm den Überstellungstermin nicht mitgeteilt habe.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 7. November 2017 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er führt aus, zur Sicherstellung der notwendigen Abschiebung sei zwischen den möglichen zu ergreifenden Maßnahmen (Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam) eine Abwägungsentscheidung zu treffen gewesen. Sie ermögliche dem Antragsteller die Teilnahme am normalen täglichen Leben außerhalb der Wohnung bei bestehender Möglichkeit, abweichende Aufenthaltsorte mitzuteilen. Die Aufenthaltsbeendigung solle so sichergestellt werden. Die Anordnung des Sofortvollzuges sei erfolgt, um die Aufenthaltsbeendigung auch im Fall eines länger währenden Klageverfahrens gegen die getroffene Anordnung tatsächlich umsetzen zu können. Aktuell gegen eine Abschiebung sprechende Gründe würden bei der Festsetzung des Abschiebungstermins berücksichtigt, könnten aber nichts an der bestehenden Ausreisepflicht und den erforderlichen Vorbereitungen einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung ändern.
II.
Der nach § 80 Abs. 5 S. 1, Hs. 2 VwGO statthafte Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 1. November 2017 wiederherzustellen, hat keinen Erfolg.
In formeller Hinsicht ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner hat insbesondere den formellen Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO hinreichend Rechnung getragen. Nach dieser Vorschrift ist im Falle des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO, in dem die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im Interesse eines Beteiligten von der Behörde angeordnet wird, das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dieses Begründungserfordernis hat u. a. den Zweck, der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung bewusst zu machen und sie zu veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein vorrangiges öffentliches Interesse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert.
Der Antragsgegner hat die Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung in seinem Bescheid auf Seite 3 ausführlich dargelegt und das besondere Interesse an einem sofortigen Vollzug seiner Verfügung hinreichend erläutert. Er hat nachvollziehbar ausgeführt, dass sich das öffentliche Interesse an dem Sofortvollzug aus dem drohenden Ablauf der Überstellungsfrist ergebe und das Abwarten des Eintritts der Bestandskraft dem Zweck der Maßnahme zuwiderlaufen würde.
Die nach § 28 Abs. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG erforderliche Anhörung wurde zwar nicht durchgeführt, aber die Voraussetzungen für ein ausnahmsweises Absehen von der Anhörung des Antragstellers nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 NVwVfG sind hier gegeben. Danach kann von einer Anhörung insbesondere abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Gefahr im Verzug im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn durch eine vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät käme, um ihren Zweck zu erreichen, was in jedem Einzelfall „ex ante“ zu beurteilen ist (BVerwG, Urt. v. 15.12.1983 - 3 C 27.82 -, juris, zu der gleichlautenden bayerischen Vorschrift; VG Oldenburg, Urt. v. 22.05.2012 - 7 A 3069/12 -, juris,). Eine solche Eilbedürftigkeit ist vorliegend ersichtlich, da bereits ein Überstellungsversuch im Oktober 2017 scheiterte und ein Ablauf der Überstellungsfrist droht.
Rechtsgrundlage für die getroffene Anordnung ist § 46 Abs. 1 AufenthG. Danach kann die Ausländerbehörde gegenüber einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer Maßnahmen zur Förderung der Ausreise treffen, insbesondere kann sie den Ausländer verpflichten, den Wohnsitz an einem von ihr bestimmten Ort zu nehmen.
Zutreffend ist der Antragsgegner in der Ordnungsverfügung davon ausgegangen, dass der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtig ist. Eine Maßnahme nach § 46 Abs. 1 AufenthG darf nur dann angeordnet werden, wenn sie dem Zweck der Ausreiseförderung in verhältnismäßiger Weise dient (Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: Mai 2017, § 46 Rn. 5). Das ist bei der Ordnungsverfügung vom 1. November 2017 der Fall.
Die getroffenen Anordnungen sind geeignet und nach den Ausführungen des Antragsgegners in der Verfügung dazu bestimmt, die Ausreise der Antragsteller zu fördern. Die Maßnahmen im Sinne des § 46 Abs. 1 AufenthG beziehen sich sowohl auf die freiwillige Ausreise eines Ausländers als auch auf die zwangsweise Rückführung, sofern dieser seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen sollte (Hailbronner, a.a.O., § 46 Rn. 1), daher können insbesondere Maßnahmen ergriffen werden, um - wie hier - den Ausländer im Falle einer Abschiebung besser erreichen zu können (vgl. Grünewald in: GK- AufenthG, Kommentar, Stand Juli 2016, § 46 Rn. 1). Ob die getroffenen Maßnahmen im Einzelfall tatsächlich geeignet sind, die Ausreise zu bewirken, ist dabei unerheblich, sie darf aber anderen aufenthaltsrechtlich irrelevanten Zwecken nicht dienen (Grünewald, a.a.O., § 46 Rn. 9), insbesondere nicht der Bestrafung, Schikane oder etwa zur Vermeidung der Obdachlosigkeit (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 11.03.2013 - 2 M 168/12 -, juris; Huber, AufenthG, Kommentar, 2. Aufl., 2016, § 46 Rn. 1 m.w.N.). Dass die Anordnungen andere Zwecke verfolgen, ist nicht erkennbar.
Auch die Erforderlichkeit der Anordnung liegt vor.
Der vollziehbar ausreisepflichtige Antragsteller wurde bei einem Abschiebungsversuch am 23. Oktober 2017 nicht in seiner Unterkunft angetroffen. Eine Ankündigung der Abschiebung darf nach § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht erfolgen; im Falle der Abschiebungsanordnung bedarf es keiner Frist zur freiwilligen Ausreise.
Die Anordnung ist auch zumutbar; die Verpflichtung, sich werktags zwischen 00.00 Uhr und 07.00 Uhr in seiner Unterkunft aufzuhalten, trifft den Antragsteller nicht unverhältnismäßig, zumal seine Überstellung nach Italien unmittelbar bevorsteht. Es ist ihm zuzumuten, spontane Übernachtungen bei Bekannten nur an Wochenenden durchzuführen. Würde er einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wäre er ohnehin zur Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit gehalten, im fraglichen Zeitraum zu Hause zu schlafen. Für den Fall der plötzlichen Erkrankung sollte es ihm möglich sein, die Ausländerbehörde telefonisch zu verständigen oder eine Nachricht in seiner Wohnung zu hinterlassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nach §§ 166 VwGO, 114 ZPO abzulehnen, da die mit dem Antrag beabsichtigte Rechtsverfolgung nach obigen Ausführungen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Im Übrigen hat der Antragsteller bislang auch keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt.