Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 06.09.2023, Az.: 10 A 5471/21
längerfristige Observation; Observation; Zur Rechtmäßigkeit einer längerfristigen Observation einer Kletteraktivistin
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 06.09.2023
- Aktenzeichen
- 10 A 5471/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 37270
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2023:0906.10A5471.21.00
Rechtsgrundlagen
- BpolG § 28
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Mangels Richtervorbehalts ist § 28 Abs. 2 BPolG verfassungswidrig.
- 2.
Eine hinreichende Gefahr für Leib und Leben einer Person ist nicht notwenigerweise beim Klettern an Bahnanlagen zu bejahen. Vielmehr kommt es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an.
- 3.
Eine offene Observation ist als milderes Mittel einer verdeckten Observation vorzuziehen. Aktionen der Betroffenen können auch auf diese Weise effektiv verhindert werden.
Urteil
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 10. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 6. September 2023 durch die Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts Reccius, den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Lodzig, die Richterin am Verwaltungsgericht Gogolin sowie die ehrenamtliche Richterin Voigt und den ehrenamtlichen Richter Fahlbusch für Recht erkannt:
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin ursprünglich auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Observation beantragt hat.
Es wird festgestellt, dass die Anordnung der längerfristigen Observation der Klägerin vom 22. Oktober 2020 rechtswidrig war.
Die Klägerin trägt ein Drittel, die Beklagte zwei Drittel der Kosten des Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die Anordnung einer zweiwöchigen Observation ihrer Person durch die Beklagte rechtswidrig war.
Die Klägerin ist Umweltaktivistin und seit vielen Jahren in der Umweltbewegung aktiv. Sie ist u.a. Mitglied von "E.", einer deutschen Umwelt- und Naturschutzorganisation. In diesem Rahmen hat sie an einer Vielzahl von politischen Protesten teilgenommen. Sie erlangte dabei besondere öffentliche Bekanntheit durch ihre Kletter- und Abseilaktionen, die sie auch im Bereich der Bahnanlagen des Bundes durchführte. Sie tritt öffentlich unter dem Beinamen "Das F." auf. Sie hat im Klettern eine Grundkonditionierung und ist in der Lage, professionell zu klettern. Neben der Durchführung eigener Protestaktionen ist die Klägerin auch journalistisch tätig und berichtet über die Protestaktionen anderer Personen. Zudem vermittelt sie ihr Wissen über das Protestklettern in Form von Vorträgen, Kursen und Beiträgen in den sozialen Medien und stellt hierzu Videobeiträge und schriftliche Erläuterungen bereit. Die Klägerin ist an einer chronischen Autoimmunerkrankung (Rheumatoide Arthritis) erkrankt und sitzt im Rollstuhl. Sie ist schwerbehindert.
Im Zeitraum zwischen dem 26. Oktober und dem 6. November 2020 sollte ein CASTOR-Transport aus dem britischen Sellafield über Nordenham, Bremen, C-Stadt, Göttingen und Fulda nach Biblis stattfinden.
Die Klägerin veröffentlichte auf ihrer Webseite folgenden Eintrag hierzu G. H. fr),} zuletzt abgerufen am 6.09.2023):
"Transportgenehmigung erteilt - Hinweise auf Termin!
25. September 2020 - Quelle
Der ursprünglich im Frühjahr geplante und wegen der Corona-Krise verschobene Castortransport ins Zwischenlager Biblis soll bis Ende des Jahres erfolgen. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung hat am Freitag, 25.09., die entsprechend geänderte Transportgenehmigung erteilt.
Aus zuverlässigen Quellen haben wir als Bündnis CASTOR-stoppen erfahren, dass der Transport mit den 6 hochradioaktiven CASTOREN aus Sellafield im neuen Zeitfenster vom 26. Oktober bis spätestens 6. November geplant ist. Ein weiterer Hinweis auf den Transporttermin: In der Wesermarsch wurde für den Zeitraum 30.10.2020 bis 05.11.2020 eine Flugbeschränkung von der Deutschen Flugsicherung bekanntgegeben. Der Transport erfolgt von Sellafield per Schiff bis zum Hafen Nordenham und weiter per Bahn zum Zwischenlager Biblis.
Informiert euch, es werden bald konkrete Infos zu den geplanten Protesten folgen!"
Unter dem 22. Oktober 2020 ordnete der Behördenleiter der Beklagten die planmäßig angelegte Beobachtung (längerfristige Observation) der Klägerin, die durchgehend länger als vierundzwanzig Stunden dauern und an mehr als zwei Tagen stattfinden soll, unter Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen für den Zeitraum von zwei Wochen an. Die Anordnung wurde befristet bis zum Ende des Nukleartransportes, längstens jedoch bis zum 5. November 2020. Als Anlass wurde der für die 45. Kalenderwoche des Jahres 2020 geplante bahnseitige Vollzug eines Nuklear- und Rückführungstransports vom britischen Sellafield über das niedersächsische Nordenham in das hessische Biblis (NUK 20) genannt. Zur Begründung gab die Beklagte an, dass im Zusammenhang mit vergangenen Protesten die Klägerin mit Kletter- und Abseilaktionen im Bahnbereich aufgetreten sei und hierdurch Gefahren und Störungen im bahnpolizeilichen Zuständigkeitsbereich der Bundespolizei erzeugt habe. Die bei ihr zusammengetragenen Tatsachen begründeten die hme, dass die Klägerin anlässlich des in Rede stehenden Nukleartransportes eine oder mehrere Blockadeaktionen mittels Beklettern von Bahnanlagen des Bundes vorbereiten oder durchführen wolle, um den Transport zu hemmen bzw. zu verzögern. Die Klägerin sei seit vielen Jahren in Protestszenen aktiv und gelte als "Berufsaktivistin". Sie sei Mitglied der Umweltorganisation "E." und mindestens seit 2007 in Form von Kletter- und Abseilaktionen, auch im Bereich der Bahnanlagen des Bundes, in Erscheinung getreten. Sie wohne in einem Wohnprojekt namens "I." und gelte als mittellos. Ihre Aktionsfelder und Protestthemen seien "Luftakrobatik gegen Atomtransporte", Baumbesetzungen, Feldaktionen gegen Gentechnik, Antimilitarismus, Konsumkritik und Antirepression. Trotz ihrer körperlichen Einschränkungen klettere sie. Dies habe sie jüngst unter Beweis gestellt, als sie sich am Vormittag des 5. Oktober 2020 von einer Autobahnbrücke der BAB1 bei Münster (NRW), zusammen mit einer weiteren Aktivistin, bis kurz vor den sog. Regellichtraum einer darunter führenden Bahntrasse abgeseilt und somit mehrere Stunden lang einen bahnseitigen Transport von Nuklearmaterial aus einer Wiederaufbereitungsanlage aus Gronau (NRW) verzögert habe.
Anlässlich von Kletteraktionen im Bahnbereich sei nach dem Hinzutreten der Polizei festgestellt worden, dass die Klägerin mit anderen Aktivisten arbeitsteilig vorgehe. So seien sog. Vorwarnposten gegenüber dem Bahnverkehr eingesetzt worden, um auf die Protestaktion aufmerksam zu machen und herannahende Züge zu warnen. Weitere Personen seien zum Absichern des Kletterns zum Einsatz gekommen oder für anonyme telefonische Warnungen vor Personen im Gleis. Zudem sei die Klägerin journalistisch tätig und vermittle ihr Wissen in Form von Vorträgen, Kursen und Beiträgen. Auf ihrer Internetpräsenz würden ihre Blockadeaktionen durch das Klettern dargestellt. Hier habe die Klägerin auch auf den geplanten Nukleartransport nach Biblis hingewiesen und Widerstand angekündigt.
In der Einsatzanordnung verwies die Beklagte auf die folgenden Kletter- oder Blockadeaktionen der Klägerin:
- "Die Klägerin verschaffte sich am 14.02.2018 mit vier anderen Personen Zutritt zu einem Privatgrundstück in der Nähe der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Unter Zuhilfenahme einer Kletterausrüstung, zog sie sich mit einer anderen Aktivistin, jede für sich, an einem Baum hoch und entfalteten Transparente u.a. mit der Aufschrift "Gegen staatliche Repression und Polizeigewalt". Hintergrund war die Solidarisierungsbekundung gegenüber einer Inhaftierten.
- Frau A. wurde im Zusammenhang mit einer Kletter- und Abseilaktion am 01.09.2018 um 05.05 Uhr an der Bahnstrecke Koblenz - Perl festgestellt. Hier befanden sich sieben Personen im Gleisbereich, die Transparente gegen Atomtransporte und mit Bezug zum "Hambacher Forst" mitführten. Zwei weitere Personen warnten den herannahenden Güterzug GZ 48718 - beladen mit Erzkonzentrat - vor den genannten Personen im Gleis. Zwei weitere Aktivisten seilten sich von der über der Bahnstrecke befindlichen Autobahnbrücke (sog. Moseltalbrücke) bis kurz über die Oberleitung ab und führten ebenfalls ein Plakat, mit der Aufschrift "Urantransporte stoppen", mit. Hintergrund war offenkundig der Protest gegen einen NuklearVStransport von Hamburg nach Apach (Frankreich), der damals in diesem Zeitraum dort durchgeführt werden sollte. Durch den Einsatz der Höhenrettung der Feuerwehr wurden die abgeseilten Personen aus dem Gefahrenbereich verbracht.
- Am 21.09.2019 blockierten Aktivisten sitzend auf metallenen Konstruktionen (drei Metallstangen von je sechs Meter Länge als sog. "Tripod" angeordnet) in fünf Meter Höhe die Zufahrt einer Brennelementefabrik (ANF) in Lingen (Ems). Insgesamt waren 16 Aktivisten an der Aktion beteiligt.
- Am 18.11.2019 wurde seitens der DB AG gemeldet, dass ein Uranhexafluoridtransport der Firma Urenco (Gronau in Westfalen) gegen 11.33 Uhr auf der Bahnstrecke Gronau - Münster bei Bahnkilometer 36,225 durch eine Blockadeaktion gestoppt wurde, an der Frau A. beteiligt war. Hier wurden Seile über die Gleise gespannt, an denen sich Personen befestigten, u.a. Frau A.. Die Aktion stieß auf Medieninteresse und führte insgesamt zu einer siebenstündigen Verspätung des bahnseitigen Transportes.
- Eine am 21.11.2019 durchgeführte Abseilaktion in einem Terminal im Flughafen Hamburg wurde ebenfalls mit der Beteiligung von Frau A. durchgeführt. Dieser Protest richtete sich gegen den Ausbau des Flughafens. Die Zuständigkeit der Landespolizei Hamburg war zwar berührt. Das Ereignis hatte aber aufgrund der Örtlichkeit auch eine Relevanz für die Bundespolizei.
- Weiterhin begleitete Frau A. dokumentarisch eine Abseilaktion an der Stadtbrücke in Wolfsburg über den Mittellandkanal am 02.06.2020.
- Am 16.07.2020 wurde sie zudem mit zwei weiteren Kletteraktivisten an der Brennelementefabrik Framatome in Lingen angetroffen. Hier führte Frau A. nach Gefährderansprachen der Polizei keine Aktion durch.
- Die letzte bekannte Aktion fand am 5. Oktober 2020 statt. Frau A. seilte sich gegen 11.55 Uhr mit einer anderen Aktivistin zusammen von einer Autobahnbrücke der BAB1 bis kurz vor den Regellichtraum der Bahntrasse bei Münster-Häger ab (BKM 8,5), um einen Nukleartransport von angereichertem Uranhexafluorid der Firma UNRENCO von Gronau (NRW) nach Amsterdam (NL) zu verhindern. Der Zug wurde gestoppt. Die Landespolizei Nordrhein-Westfalen stufte die Situation als Versammlung ein. Frau A. zeigte sich unkooperativ, verließ nach Aufforderung nicht den Gefahrenbereich und musste durch Kräfte der Bundesbereitschaftspolizei aus Ihrer Seilkonstruktion gelöst werden. Der Vorfall wurde medienbekannt. Ein strafrechtliches Verhalten hierzu ist noch in Prüfung. Durch ihr Verhalten hat Frau A. sich selbst gefährdet und umfangreiche Maßnahmen durch Spezialkräfte der Bundespolizei erforderlich gemacht."
Aus diesen Tatsachen könne abgeleitet werden, dass die Klägerin eine Protestaktion in Bezug auf den schienengebundenen Nukleartransport plane und durchführen werde. Hierfür spräche der Protestaufruf auf ihrer Internetseite, in der sogar eine zutreffende zeitliche Eingrenzung des Transportzeitraumes aufgeführt sei. Sie sei angesichts der jüngsten Kletteraktion am 5. Oktober 2020 trotz ihrer körperlichen Einschränkung weiterhin gewillt und in der Lage zu klettern. Für die Prognose spreche zudem, dass gerade dieser aktuelle Nukleartransport protesttauglich und somit für die Klägerin interessant sei, da er der einzige dieser Größenordnung im Jahr 2020 bzw. der letzte seit 2011 sei. Eine solche Kletteraktion an Bahnanlagen oder mindestens im Bereich dieser Anlagen, um den Nukleartransport zu blockieren bzw. zu verhindern, sei per se lebensgefährlich. Eine Bahnanlage sei nicht zum Klettern bestimmt. Elektrifizierte Oberleitungen, u.a. auch beim aktuellen Transport vorhanden, führten eine elektrische Spannung von 15.000 Volt. Die Klägerin habe zwar in der Vergangenheit darauf geachtet, nicht in den sog. Regellichtraum, den sicherheitsrelevanten Kernbereich des Bahnbetriebes, durch ihre Aktionen einzudringen. Dennoch sei bereits der Aufenthalt in dessen Nähe gefährlich. Stromüberschläge von Oberleitungen seien stets möglich. Zudem setze sich die Klägerin der Gefahr aus, in den Regellichtraum hineinzustürzen. Die Klägerin gehe planvoll und erfolgsorientiert vor. Die Transportstrecke könne nicht lückenlos überwacht werden. Daher könne nicht darauf vertraut werden, dass ihre Aktion rechtzeitig vor dem Schadenseintritt erkannt werde. Zudem seien auch Einsatzkräfte gefährdet, wenn sie die Klägerin aus ihrer Aktionsvorrichtung lösen. Das Risiko eines Absturzes bestehe auch dann. Außerdem würden notwendige Abstände aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie unterschritten. Trotz eines Hygienekonzeptes erhöhe sich das Risiko einer Ansteckung mit zunehmender Nähe. Zudem sei die Observation zur Verhütung von Straftaten notwendig.
Die Klägerin wurde sodann durch Einsatzkräfte der Bundespolizei im Zeitraum vom 27. Oktober 2020 um 13:20 Uhr bis zum 4. November 2020 um 8:30 Uhr nahezu durchgehend observiert.
Der Transport fand vom 3. auf den 4. November 2020 statt (BPOLD-KO: Bundespolizei zieht positive Bilanz Rückführungstransport sicher in Biblis eingetroffen - Hygienekonzept hat sich bewährt (presseportal.de)).
Mit Schreiben vom 16. November 2021 wurde die Klägerin über die Observation förmlich nach § 28 Abs. 5 BPolG unterrichtet.
Am 22. September 2021 hat die Klägerin Klage gegen ihre Observation erhoben. Zur Begründung trägt sie vor: Sowohl die Anordnung als auch die Durchführung der längerfristigen Observation durch die Beklagte seien rechtswidrig gewesen. Es hätten keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Gefahr bzw. für das Vorliegen von Straftaten von erheblicher Bedeutung vorgelegen. Zudem hätten der Beklagten keine Tatsachen in Bezug auf irgendwelche konkretisierte Planungen von Aktionen vorgelegen. Den einzigen Bezug, den die Beklagte zwischen ihrer Person und dem CASTOR-Transport habe herstellen können, sei der auf ihrer Website veröffentliche Text gewesen. Auch aus diesem habe sich aber überhaupt kein Hinweis auf irgendeine Aktion gegeben. Die Prognoseentscheidung der Beklagten stütze sich lediglich darauf, dass sie bereits früher an Blockadeaktionen teilgenommen habe. Sie habe aber weder bei jedem CASTOR-Transport solche Aktionen durchgeführt noch habe sie bei jeder der in der Einsatzanordnung genannten Aktion selbst eine Abseilaktion durchgeführt, sondern vielmehr diese zum Teil nur journalistisch und dokumentarisch begleitet. Reichten allein die in der Vergangenheit durchgeführten Kletteraktionen aus, könnte sie zukünftig in jedem Zeitraum observiert werden, in dem ein politischer Anlass für Protest in den Bereichen bestehe, in denen sie sich engagiere. Die Prognose der Beklagten sei daher bereits nicht durch hinreichende Tatsachen abgesichert. Selbst wenn sie eine konkrete Aktion geplant hätte, sei eine qualifizierte konkrete Gefahr - wie für die Observationsanordnung notwendig - nicht zu bejahen. Es könne nicht generell davon ausgegangen werden, dass ihre Kletteraktionen über oder in den Bahnbereich hinein als lebensgefährlich anzusehen seien. Vielmehr habe eine solche Gefahr in der Vergangenheit nicht bestanden.
Die Anordnung sei auch nicht zur Verhinderung einer Straftat notwendig gewesen. Eine solche habe die Beklagte bereits nicht konkret benennen können. Sie begehe jedenfalls nicht gewohnheitsmäßig Straftaten. Vielmehr habe die Beklagte selbst ausgeführt, dass ihre Aktionen nicht gegen Strafgesetze verstoßen. Zudem sei die Observation unverhältnismäßig gewesen. So hätte es zumindest mildere Mittel gegeben, u.a. die von der Beklagten aufgeführte Gefährderansprache oder eine offene Observation. Bereits in der Vergangenheit habe sie nach einer solche Ansprache von einer Aktion abgesehen. Zudem seien im Rahmen der Interessenabwägung ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ihre Meinungsäußerungsfreiheit und ihre Versammlungsfreiheit unzureichend berücksichtigt worden.
Nachdem die Klägerin ursprünglich auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Observation begehrt hat, beantragt sie nunmehr nur noch
festzustellen, dass die Anordnung der längerfristigen Observation ihrer Person durch die Beklagte vom 22. Oktober 2020 rechtswidrig war.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die Observationsanordnung. Ergänzend trägt sie vor: Die Observation sei zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib und Leben sowohl der Klägerin als auch der vor Ort eingesetzten Einsatzkräfte sowie zur Verhütung von Straftaten erforderlich gewesen. Anhand der dargestellten Tatsachen sei davon auszugehen gewesen, dass die Klägerin anlässlich des Nuklear- und Rückführungstransportes von Sellafield nach Biblis eine oder mehrere Blockadeaktionen mittels des Bekletterns von Bahnanlagen des Bundes habe vorbereiten und durchführen wollen, um den Transport zu hemmen und zu verzögern. Dass nicht alle aufgeführten Aktionen mit Kletteraktionen oder Blockadeaktionen verbunden gewesen seien, könne dahinstehen. Für die Gefahrenprognose könne nicht gefordert werden, dass alle Aktionen in der Vergangenheit Kletter- und Blockadeaktionen unter aktiver Beteiligung der Klägerin gewesen seien. Insbesondere die letzte Kletteraktion der Klägerin am 5. Oktober 2020 habe im engen zeitlichen Umfeld zur Observierung stattgefunden. Sie habe aufgrund ihrer zahlreichen Aktionen Kenntnisse zu Betriebsabläufen im Bahnbereich und bisher eine tragende Rolle bei vergleichbaren Protestaktionen eingenommen. Auf ihrer Internetseite habe die Klägerin ihre Kletteraktionen dargestellt. Auf dieser Seite habe sie auch auf den Nukleartransport nach Biblis hingewiesen und Widerstand angekündigt. Planung und Durchführung einer Kletteraktion durch die Klägerin hätten daher durchaus erwartet werden können. Dies führe zu den in der Anordnung aufgeführten Gefahren für die Klägerin und die Einsatzkräfte. Sicheres Wissen müsse sie von einer geplanten Aktion nicht haben. Darüber hinaus sei die längerfristige Observation aber auch notwendig zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung, vor allem der §§ 240, 315 Abs. 1 und 316b StGB gewesen. Auch wenn frühere Strafverfahren gegen die Klägerin eingestellt worden seien, negiere dies nicht den Anfangsverdacht einer Straftat und sage nichts über den Einzelfall aus. Die Observation sei auch verhältnismäßig gewesen. Mildere Mittel hätten nicht zur Verfügung gestanden. Die längerfristige Observation diene der verdeckten und somit erfolgversprechendsten Aufklärung. Durch sie hätten unentdeckt Informationen über das Verhalten und zu erwartende Vorbereitungshandlungen für Kletteraktionen der Klägerin erlangt werden können, die auf andere Weise nicht hätten erlangt werden können. Die auf dieser Informationsgewinnung basierenden Anschlussmaßnahmen, etwa Platzverweise oder Sicherstellungen von Kletterausrüstungen, seien für sich alleine nicht erfolgversprechend, da es der Klägerin gerade darauf ankomme, einen Erfolg bei ihrer Aktion zu erzielen und sie daher ihr Verhalten anpasse, um polizeilichen Maßnahmen, mit denen sie rechne, zu entgehen. Auch eine Gefährderansprache sei nicht erfolgversprechend gewesen, vor allem im Hinblick darauf, dass sich die Klägerin bei ihrer letzten nur kurz vor Anordnung der Maßnahme durchgeführten Aktion am 5. Oktober 2020 unkooperativ gezeigt habe und durch Einsatzkräfte der Bundesbereitschaftspolizei aus ihrer Seilkonstruktion habe gelöst werden müssen. Im Ergebnis seien daher auch im Rahmen der Angemessenheit die Rechtsgüter Leib und Leben der Klägerin sowie der Einsatzkräfte als schwerwiegender zu werten gewesen als das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Klägerin; dies vor allem deswegen, weil die Observation zeitlich auf das Ende des Transportes beschränkt und zu beenden gewesen wäre, sofern ihre Begründung entfallen wäre.
Weitere Observationsberichte seien gemäß § 28 Abs. 4 BPolG nach dem Einsatzende unverzüglich gelöscht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin ihr ursprüngliches Begehren auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Observation nicht mehr weiterverfolgt und damit ihre Klage insoweit konkludent zurückgenommen hat, § 92 Abs. 1 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Im Übrigen hat die Klage Erfolg. Sie ist zulässig (I) und begründet (II).
I. Die Klage ist zulässig. Statthaft ist vorliegend eine Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog. Diese entspricht dem gemäß § 88 VwGO maßgeblichen klägerischen Begehren. Bei der Observationsanordnung handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Dieser hat sich bereits i.S.d. § 43 Abs. 2 Var. 4 VwVfG durch Zeitablauf erledigt. Die Observationsanordnung war auf das Ende des Nukleartransportes, spätestens auf den 5. November 2020, befristet. Begehrt ein Adressat die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsaktes, ist die Fortsetzungsfeststellungsklage analog statthaft (BVerwG, Urteil vom 14.7.1999 - 6 C 7.98 -, NVwZ 2000, 63, 64).
Das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist zu bejahen. Ein derartiges berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Verwaltungsakts ist vorliegend bereits unter dem Gesichtspunkt eines Grundrechtseingriffs gegeben, bei dem sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Geschehensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann (BVerfG, Urteil vom 27.2.2007 - 1 BvR 538.06 -, BVerfGE 117, 244-272, juris Rn. 69; Nds. OVG, Urteil vom 6.10.2020 - 11 LC 149/16 -, juris Rn. 86). Teilweise wird insoweit das Vorliegen eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs verlangt (OVG Bremen, Urteil vom 8.1.2019 -1 LB 252/18 -, juris Rn 30; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 25.4.2001 - 2 W 29/01 -, juris Rn 16). Die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gebietet es jedoch, nicht nur für schwerwiegende Grundrechtseingriffe, sondern auch für einfachrechtliche Rechtsverletzungen, die von der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG abgesehen kein Grundrecht tangieren, und für weniger schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte und Grundfreiheiten einen effektiven Hauptsacherechtsbehelf zur Verfügung zu stellen (Nds. OVG, Beschluss vom 17.12.2018 - 11 LA 66/18 -, juris Rn. 8). Die Observationsanordnung greift sogar stark in die Rechte der Klägerin ein, u.a. in ihr Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, ggfs. auch in ihre Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG, und ihre Versammlungsfreiheit, Art. 8 Abs. 1 GG. Hiergegen konnte die Klägerin vor Eintritt der Erledigung keinen wirksamen Rechtsschutz erlangen.
Offenbleiben kann, ob darüber hinaus ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse auch wegen eines bestehenden Rehabilitationsinteresses der Klägerin und einer Wiederholungsgefahr gegeben ist.
Ein Widerspruchsverfahren war aufgrund der Erledigung der Observationsanordnung nicht mehr durchzuführen.
II. Die Klage ist zudem begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Observationsanordnung vom 22. Oktober 2020.
Die am 22. Oktober 2020 angeordnete planmäßige Observation der Klägerin für die Dauer von zwei Wochen unter Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen, befristet bis zum Ende des Nukleartransportes, spätestens bis zum 5. November 2020, war rechtswidrig und verletzte die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 i. V. m. Satz 1 VwGO analog).
Die Observation beruhte bereits auf einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage (1.). Zudem lagen die Voraussetzungen der Norm nicht vor (2.)
1. Als Rechtsgrundlage für die Anordnung einer längerfristigen Observation durch die Beklagte kommen § 28 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 lit. a Bundespolizeigesetz (BPolG) in Betracht.
Die Norm ist allerdings verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 20. April 2016 festgestellt, dass eine unabhängige Kontrolle in Form eines Richtervorbehaltes im Fall einer längerfristigen Observation verfassungsrechtlich unverzichtbar ist (BVerfG, Urteil vom 20.04.2016 - 1 BvR 966.09 -, BVerfGE 141, 220-378 (LT 1-3), Rn. 174; vgl. auch den Referentenentwurf des Bundesministeriums für Inneres und Heimat, Gesetzesentwurf zur Neustrukturierung des Bundespolizeigesetzes und Änderung anderer Gesetze, Bearbeitungsstand 10.05.2023, S. 114, ref-neustrukturierung-bundespolizeigesetz.pdf;jsessionid=F1928832887C7AE47F5AC978A35EE635.2_cid332 zuletzt abgerufen 6.9.2023). Einen solchen Vorbehalt kennt die Norm allerdings nicht.
Das Verfahren war trotzdem nicht auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen, da es aus den nachfolgend dargestellten Gründen auf die Gültigkeit des Gesetzes für die Entscheidung nicht ankommt, Art. 100 Abs. 1 GG. Vielmehr ist die angeordnete Observation bereits nicht mit der Rechtsgrundlage vereinbar. Es lagen weder die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 (hierzu unter a) noch des § 28 Abs. 1 Nr. 2 BPolG (hierzu unter b) vor.
a. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 BPolG kann die Bundespolizei unter Beachtung des § 70 Satz 2 personenbezogene Daten mit den besonderen Mitteln nach Absatz 2 erheben über (Nr. 1) die nach § 17 [...] Verantwortlichen [...] zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von erheblichem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist, und die Abwehr der Gefahr oder die Verhütung der Straftat auf andere Weise aussichtslos ist oder wesentlich erschwert würde. Die Erhebung kann auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.
Nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 BPolG ist ein solch besonderes Mittel der Datenerhebung u.a. die planmäßig angelegte Beobachtung einer Person, die durchgehend länger als vierundzwanzig Stunden dauern oder an mehr als zwei Tagen stattfinden soll (längerfristige Observation) und nach Nr. 2 lit a der Einsatz technischer Mittel in einer für den Betroffenen nicht erkennbaren Weise zur Anfertigung von Bildaufnahmen oder -aufzeichnungen.
Die Observationsanordnung war zwar formell (aa), allerdings nicht materiell (bb) rechtmäßig.
aa) Die Observationsanordnung ist formell rechtmäßig ergangen.
Nach § 28 Abs. 3 BPolG darf der Einsatz von besonderen Mitteln - u.a. auch einer sog. längerfristigen Observation - nach § 28 Abs. 2 BPolG, außer bei Gefahr im Verzug, nur durch den Leiter der in der Rechtsverordnung nach § 58 Abs. 1 bestimmten Bundespolizeibehörde oder seinen Vertreter angeordnet werden. Die Anordnung ist unter Angabe der maßgeblichen Gründe aktenkundig zu machen und auf höchstens einen Monat zu befristen. Die Verlängerung der Maßnahme bedarf einer neuen Anordnung.
Diese Voraussetzungen wurden vorliegend eingehalten. Die Observationsanordnung wurde vom zuständigen Behördenleiter verfügt; die maßgeblichen Gründe sind aktenkundig gemacht worden und die Anordnung wurde auf zwei Wochen beschränkt.
bb) Die Observationsanordnung ist jedoch materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nrn. 1 und 2 lit. a BPolG lagen nicht vor. Die Kammer hat bereits erhebliche Zweifel am Vorliegen einer konkreten Gefahr für Leib und Leben (hierzu unter (1)). Dies kann letztlich offenbleiben. Unterstellt, eine konkrete Gefahr für Leib und Leben hätte bestanden, wäre eine Observation zur Abwehr dieser Gefahr zwar erforderlich gewesen (hierzu unter (2)). Die hier angeordnete verdeckte Observation war aber nicht verhältnismäßig, eine offene Observation hätte ausgereicht (hierzu unter (3)).
(1). Es sind bereits ernsthafte Zweifel gegeben, ob eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person vorlag.
Der Gefahrenbegriff des § 28 Abs. 1 Nr. 1 BPolG entspricht dem des § 14 Abs. 1 Satz 1 BPolG und meint das Vorliegen einer konkreten Gefahr, d.h. eine im Einzelfall bestehende Gefahr (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 28, Rn. 13, 14; Martens in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Auflage, § 28, Rn. 13).
Es handelt sich um eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens nach allgemeiner Lebenserfahrung und einer verständigen Würdigung aller Umstände in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines Schadens am normalen Bestand der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erwarten lässt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26.06.1970 - IV C 99.67 -, juris; BVerwG, Urteil vom 26.02.1974 - I C 31.72 -, juris). Ein Schaden besteht bei jeder objektiven Minderung oder Verschlechterung des vorhandenen (normalen) Bestandes der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch äußere Einflüsse (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 14, Rn. 26).
Die Gefahrenlage hat sich konkretisiert, wenn der ungewöhnliche Zustand, der den Eintritt eines Schadens wahrscheinlich macht, nach Ort und Zeit bereits bestimmt oder zumindest hinreichend konkret bestimmbar ist (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 14, Rn. 42).
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist dabei anerkannt, dass hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts je nachdem, welches Schutzgut im Einzelnen bedroht wird, differenziert werden muss. Je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen, die an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts gestellt werden müssen (vgl. etwa BVerfG, Urteil vom 27.7.2005 - 1 BvR 668/04 -, juris; BVerwG, Urteil vom 26.6.1970 - IV C 99.67 -, juris; BVerwG, Urteil vom 26.2.1974 - I C 31.72 -, juris). Daraus ergibt sich, dass bei besonders hochwertigen Rechtsgütern ausnahmsweise auch schon die entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts die Anerkennung einer Gefahr auslösen kann. Nicht ausreichend sind hingegen reine Spekulationen oder allgemeine Vermutungen (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 14, Rn. 28).
Ob demnach die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts anzunehmen ist, bestimmt sich anhand der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Tatsachenfeststellungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.2.1974 - I C 31/72 -, juris; BVerwG, Urteil vom 1.7.1975 - I C 35.70 -, juris). Als Bewertungskriterien herangezogen werden können die allgemeine Lebens- und Berufserfahrung, bereits feststehende Fakten, wissenschaftliche Fakten und Erfahrungswissen (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 14, Rn. 28).
Anhand dieser Kriterien bestehen im vorliegenden Fall erhebliche Zweifel an der hme einer durch die Klägerin i. S. d. § 17 Abs. 1 BPolG verursachten konkreten Gefahrenlage.
Bei ihren Protestaktionen seilt sich die Klägerin regelmäßig nicht nur von Brücken und Gebäuden ab, sondern insbesondere auch über bzw. in die Bahnanlagen des Bundes hinein. Sie begibt sich dabei nicht in den sog. Regellichtraum, also gerade nicht in den gefährlichen Bereich der Bahnanlage, der für den reibungs- und gefahrenlosen Bahnbetrieb freigelassen werden muss. Die Klägerin hat in der Vergangenheit auch nicht im Bereich elektrifizierter Oberleitungen Kletteraktionen durchgeführt. Angesichts des CASTOR-Transportes über die Schiene nach Biblis war für die Gefahrenprognose daher die konkrete Ausgestaltung der vorangegangenen Kletteraktionen der Klägerin in den Blick zu nehmen.
Es bestehen erhebliche Zweifel, dass aufgrund der konkreten Umstände der Protestaktionen der Klägerin eine erhebliche, konkrete Gefährdung für das Leben bzw. den Leib der Klägerin als auch für die vor Ort eingesetzten Kräfte der Bundespolizei anzunehmen war.
Solche Kletteraktionen gefährden zwar die Durchführung der unter sehr hohen Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmenden Atomtransporte schon für sich genommen und den Bahnverkehr im Allgemeinen. Erforderlich ist vorliegend aber eine Gefahr für Leib oder Leben. Angesichts der konkreten Umstände der hier in Frage stehenden Kletteraktionen der Klägerin und der Kletterfertigkeiten der Klägerin sowie der zur Beendigung etwaiger Aktionen eingesetzter Sicherheitskräfte bestehen aber an einer Gefährdung von Leib und Leben der Klägerin selbst und eingesetzter Sicherheitskräfte erhebliche Zweifel. Es besteht vorliegend keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die von der Klägerin zu erwartenden Aktionen vorliegend lebensgefährlich sind bzw. zu erheblichen Verletzungen führen können.
Angesichts der auch seitens der Beklagten unbestrittenen Kletterfähigkeiten und der vorgenommenen Sicherheitsvorkehrungen wird die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Gefahr für Leib und Leben der Klägerin erheblich reduziert oder gar ausgeschlossen. So hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass sie weder an Bahnstrecken mit elektrischen Oberleitungen klettere noch riskiere, nicht rechtzeitig von herannahenden Zügen wahrgenommen zu werden. Zudem werden die Bahnanlagen im Fall von CASTOR-Transporten überwacht. Die Transporte rollen besonders langsam. Die Klägerin hat darüber hinaus nachvollziehbar geschildert, dass sie verschiedene Sicherheitsmaßnahmen ergreift, die Risiken nahezu ausschließen. Diesem Vorbringen ist die Beklagte nicht substantiiert entgegengetreten. Sie hat auf Nachfrage des Gerichts keine Vorfälle, seien es Todesfälle oder Verletzungen durch vergleichbare Kletteraktionen, benennen können. Zwar ist die Gefahr eines Sturzes der Klägerin nicht völlig ausgeschlossen, sie ist aber in jedem Fall nicht derart groß, wie von der Beklagten angenommen.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich die Klägerin durch ihre Aktionen vor allem selbst gefährdet.
Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist dann nicht anzunehmen, wenn es sich um einen Fall der freiwilligen, ausschließlichen Selbstgefährdung handelt, weil der Einzelne ein Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit auch ein Recht auf Selbstgefährdung hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.7.1997 - 8 S 2683-96 -, juris). Denn die Polizei hat die öffentliche Sicherheit und Ordnung nur soweit zu schützen, wie dies im öffentlichen Interesse geboten ist. Die Grenzen erlaubter Selbstgefährdung sind unabhängig von einem Verstoß gegen geltendes Recht dann erreicht, wenn dadurch zugleich Rechtsgüter dritter Personen gefährdet oder anderweitig Gefahren verursacht werden (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 14, Rn. 30).
Die darüber hinaus getroffene hme der Beklagten, dass durch die Aktionen der Klägerin Dritte gefährdet würden, begegnet erheblichen Zweifeln. Die Beklagte hat zwar vorgetragen, dass die Klägerin sich durch ihre Protestaktionen nicht nur selbst gefährde, sondern auch die vor Ort eingesetzten Kräfte der Bundespolizei. Es sei nicht auszuschließen, dass diese bei dem Versuch, die Klägerin aus dem Anlagenbereich zu verbringen, selbst abstürzten und sich verletzten. Bei diesen Kräften handelt es sich aber um besonders gut ausgebildete Kräfte der Polizei oder Feuerwehr, die über besondere Kletterfähigkeiten verfügen, hierfür ausgebildet sind und durch verschiedenste Sicherungsmaßnahmen geschützt sind. Auch diesem Einwand hatte die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nichts entgegenzusetzen.
Bei ihrer Prognoseentscheidung hatte die Beklagte daher zwar besonders wichtige Rechtsgüter zu schützen. Dies führt aber nicht dazu, dass keinerlei Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit für den Schadenseintritt zu stellen sind. Auch im Fall einer Gefahr für Leib und Leben ist eine auf Tatsachen gestützte hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zu fordern. Daran fehlt es. Die Beklagte hat keinerlei Tatsachen vorgetragen, die begründen könnten, dass ein Schaden für Leib und Leben der Klägerin oder der Einsatzkräfte der Beklagten im Fall einer klägerischen Kletteraktion hinreichend wahrscheinlich war.
(2) Unterstellt, eine Gefahr für Leib und Leben wäre trotz der aufgeführten erheblichen Zweifel zu bejahen, war die Abwehr dieser - hypothetischen - Gefahr i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 1 BPolG auf andere Weise aussichtlos bzw. wesentlich erschwert. Auf andere Weise aussichtslos ist die Gefahrenabwehr, wenn zur Erreichung des angestrebten Zwecks keine Alternative zum Einsatz besonderer Mittel der Datenerhebung besteht oder andere Maßnahmen ungeeignet sind.
Andere geeignete Maßnahmen als eine Observation sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
Andere Maßnahmen, vor allem Anschlussmaßnahmen, etwa ein Platzverweis oder die Sicherstellung von Kletterausrüstungen, sind nicht geeignet, die von den Protestaktionen der Klägerin ausgehenden Gefahren effektiv zu verhindern. Vielmehr - und dies zeigen die vorangegangenen Aktionen - kommen die Einsatzkräfte oft zu spät an den Aktionsort, um durch Platzverweise etc. die Kletteraktion noch zu verhindern. Eine Sicherstellung der Kletterausrüstung scheidet aus, da eine Kletterausrüstung wiederbeschafft werden kann.
Gleiches gilt für die Gefährderansprache. Denn unabhängig davon, ob für eine Gefährderansprache bzw. ein Gefährderanschreiben im Bundespolizeigesetz eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage besteht und die Beklagte eine solche Maßnahme daher überhaupt hätte vornehmen können (vgl. Peilert in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Auflage, § 14, Rn. 13), wäre eine Gefährderansprache im vorliegenden Fall nicht hinreichend erfolgversprechend gewesen.
Die Gefährderansprache stellt ein Mittel der Deeskalation dar, das die Polizei verwendet, um einer potenziell bedrohlichen Person eine Grenzziehung für ihr zukünftiges Handeln aufzuzeigen. Der Betroffene wird dabei darüber informiert, dass er sich konkreten polizeilichen Maßnahmen aussetzt, falls er der Aufforderung nicht nachkommt (Peilert in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Auflage, § 14, Rn. 13).
Die Klägerin führte zwar bei einem der acht in der Einsatzanordnung aufgeführten Fälle nach einer erfolgten Gefährderansprache keine Protestaktion durch. Zu beachten ist dabei aber, dass sie in diesem Fall unmittelbar vor der Ausführung der Protestaktion von der Beklagten angetroffen wurde. Die Beklagte ist aufgrund des Verhaltens der Klägerin - auch nach Durchführung der Gefährderansprache - zu Recht davon auszugehen, dass die Klägerin Protestaktionen durch das Abseilen über bzw. in die Bahnanlagen des Bundes hinein durchführen wird, obwohl sie sich der polizeilichen Folgen ihres Handelns bewusst ist. So hat sich die Klägerin bei der letzten Protestaktion vom 5. Oktober 2020, bei der sie sich selbst von einer Autobahnbrücke abseilte, auch nach der Aufforderung durch die vor Ort eingesetzten Kräfte der Beklagten geweigert, ihre Aktion abzubrechen und musste durch Kräfte der Bundesbereitschaftspolizei aus ihrer Seilkonstruktion gelöst werden. Die Beklagte konnte daher zu Recht davon ausgehen, dass die Klägerin aufgrund einer Gefährderansprache ihre Aktion nur dann abbrechen würde, wenn sie diese noch nicht begonnen hat und der Erfolg somit sowieso vereitelt gewesen wäre.
(3) Allerdings war die Maßnahme der Beklagten nicht verhältnismäßig i. S. d. § 15 BPolG. Aus der hohen Intensität des Grundrechtseingriffs folgt, dass heimliche Datenerhebungsmaßnahmen nur zum Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter erfolgen dürfen (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.4.2016 - 1 BvR 1140/09 -, juris). Eine verdeckte Observation der Klägerin war vorliegend nicht erforderlich. Die Beklagte hätte die Klägerin auch offen observieren können. Dabei handelt es sich um ein milderes Mittel, denn die Klägerin wird nicht im Unklaren belassen über die Maßnahme und kann darauf entsprechend reagieren. Eine offene Observation, die u.U. auch kürzer hätte erfolgen können, wäre im hiesigen Fall gleich geeignet wie eine verdeckte Observation zur Zielerreichung gewesen. Denn im Fall einer offenen Observation wäre die Klägerin entweder von allen Aktionen abgeschreckt oder ein rechtzeitiger Zugriff (und damit die Verhinderung der Kletteraktion) wäre möglich gewesen. Demgegenüber dient eine verdeckte Observation vor allem der Informationsgewinnung über die Zielperson. Die Beklagte hat allerdings nicht dargelegt, inwiefern und welche Informationen sie verdeckt erlangen wollte und inwiefern eine offene Observation nicht ausreichend gewesen wäre.
b. Die Beklagte konnte die längerfristige Observation der Klägerin auch nicht auf § 28 Abs. 1 Nr. 2 BPolG stützen.
Danach kann die Bundespolizei unter Beachtung des § 70 Satz 2 BPolG personenbezogene Daten mit den besonderen Mitteln nach Absatz 2 erheben über die in § 21 Abs. 2 bezeichneten Personen zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Abs. 1 mit erheblicher Bedeutung, wenn Tatsachen die hme rechtfertigen, dass eine solche Straftat gewerbs-, gewohnheits-, bandenmäßig oder von einer kriminellen Vereinigung begangen werden soll, und die Abwehr der Gefahr oder die Verhütung der Straftat auf andere Weise aussichtslos ist oder wesentlich erschwert würde. Die Erhebung kann auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.
Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm - neben den Einwänden gegen die Verfassungsgemäßheit - sind jedoch nicht erfüllt.
Im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BPolG handelt derjenige gewohnheitsmäßig, der mindestens zwei Taten begeht und einen durch Übung erworbenen, ihm aber vielleicht unbewussten, Hang (vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.2015 - 1 StR 379/15 -, juris) zu wiederholter Tatbegehung besitzt (vgl. Fischer in Fischer, StGB, Vor § 52, Rn. 63). Der gewohnheitsmäßigen Tatbegehung ist insbesondere immanent, dass der Täter die Ausführung seiner Tat quasi ohne innere Auseinandersetzung mit der Straftatenbegehung verübt (Drewes/Malmberg/Wagner/Walter, Bundespolizeigesetz, 6. Auflage, § 28, Rn. 20; Martens in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Auflage, § 28, Rn. 15).
Nach dieser Vorschrift können die Befugnisse bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur Verhütung von Straftaten angewendet werden. Aufgrund seines weiten Anwendungsbereiches ist die Norm daher restriktiv anzuwenden. Die Weite des Tatbestandes muss durch eine besonders sorgfältige und fundierte Gefahrenprognose ausgeglichen werden (Martens in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz, 5. Auflage, § 28, Rn. 1).
Allein der pauschale Verweis der Beklagten, die Klägerin würde durch ihre Protestaktionen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen, vor allem nach den §§ 240, 315 Abs. 1 und 316b des Strafgesetzbuches (StGB), kann diesen Anforderungen nicht genügen. Voraussetzung ist zumindest, dass darlegt ist, durch welches konkret zu erwartende Verhalten sich die Klägerin bezüglich einer konkreten Straftat strafbar machen könnte. Vorliegend fehlt es bereits an der Darlegung, dass die Klägerin Straftaten der genannten Art in der Vergangenheit gewohnheitsmäßig begangen hat. Vielmehr hat die Beklagte ausgeführt, dass die gegen die Klägerin angestrengten Strafverfahren im Zusammenhang mit den durchgeführten Protestaktionen nach § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt worden sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).