Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.11.2019, Az.: L 8 SO 240/18

Kostenerstattung für eine ambulant durchgeführte Autismus-Therapie; Wesentliche geistige Behinderung; Unmöglichkeit der Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
28.11.2019
Aktenzeichen
L 8 SO 240/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 47107
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 25.09.2018 - AZ: S 15 SO 323/16

Fundstellen

  • KomVerw/B 2020, 327-330
  • KomVerw/LSA 2020, 332-336
  • KomVerw/MV 2020, 336-340
  • KomVerw/S 2020, 325-328
  • KomVerw/T 2020, 323-327
  • ZfSH/SGB 2020, 114-118

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine geistige Behinderung ist wesentlich, wenn infolge einer Schwäche der geistigen Kräfte in erheblichem Umfange die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist; dies richtet sich nach den Besonderheiten des Einzelfalls und hängt von unterschiedlichen, durch die individuelle Behinderung geprägten Umständen ab.

2. Von einer wesentlichen Behinderung kann ausgegangen werden, wenn die mit der Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule entgegenstehen, weil Lerninhalte ohne zusätzliche Hilfestellung nicht aufgenommen und verarbeitet werden können.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 25. September 2018 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Berufungsverfahren zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Erstattung von Kosten für eine von Juni 2016 bis Mai 2018 ambulant durchgeführte Autismus-Therapie in Höhe von etwa 7.400,00 EUR.

Bei der 2007 geborenen Klägerin ist eine schwer ausgeprägte Autismusspektrumsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus (ICD-10 F 84.0), eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD10: F90.0) und eine leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung (ICD10: F70.1) diagnostiziert (Kurzbericht des Dr. F., der Ärztin G. und der Dipl. Psychologin H. des LVR-Klinikverbunds, Viersen, vom 10.7.2018; im Jahr 2016 ist bei der Klägerin allerdings ein Gesamt-IQ von 40 erhoben worden, vgl. Befundbericht des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. I. vom 2.4.2016). Sie ist als Schwerbehinderte mit einem GdB von 80 mit den Merkzeichen B, G und H anerkannt und bezieht Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe 2 (Bescheid der AOK Bremen/Bremerhaven Pflegekasse vom 31.10.2014). Sie lebt gemeinsam mit ihren zwei älteren Geschwistern bei ihren Eltern im Stadtgebiet der Beklagten und besuchte dort von Mitte 2014 bis Mitte 2018 eine Inklusionsklasse entsprechend dem bei ihr festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf für den Bereich Wahrnehmung und Entwicklung (Bescheid der Beklagten - Senatorin für Bildung und Wissenschaft - vom 8.5.2014) der Grundschule J ... Ihre Klasse bestand aus 20 Schülerinnen und Schülern; hiervon hatten vier Kinder - einschließlich die Klägerin - einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen Wahrnehmung und Entwicklung. Der Unterricht erfolgte mit einer Lehrkraft, einem Sonderpädagogen und zwei pädagogischen Mitarbeitern sowie einer Klassenassistenz. Zusätzlich wurde der Klägerin eine individuelle Assistenz zugeordnet (1:1 Betreuung).

Im Juli 2015 beantragte die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern, und zusätzlich durch das Autismus-Therapiezentrum Autismus Bremen e.V. (im Weiteren Therapiezentrum) bei der Beklagten unter Vorlage einer Stellungnahme des Therapiezentrums vom 20.10.2015 (Dipl. Psychologe und Dipl. Sozialpädagoge K.) und von aktuellen Arztberichten des L., Gesundheit Nord Klinikum Bremen-Mitte die Übernahme der Kosten für eine ambulante Autismustherapie in einem durchschnittlichen Umfang von zwei bis drei Wochenstunden aus Mitteln der Sozialhilfe (SGB XII).

Nach Erstellung eines Gesamtplans nach § 58 SGB XII am 23.11.2015 und Einholung von Unterlagen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern der Klägerin lehnte die Beklagte den Antrag wegen vorrangig einzusetzenden Einkommens und Vermögens ab (Bescheid vom 17.3.2016). Den hiergegen erhobenen Widerspruch, mit dem die Erforderlichkeit der Therapie unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. I., Bremen, vom 2.4.2016, des Therapiezentrums vom 6.4.2016 (Dipl. Sozialpädagogin M.) und der Klassenlehrerin der Klägerin, Frau N., Grundschule J., Zentrum für unterstützende Pädagogik, vom 20.4.2016 (nochmals) geltend gemacht wurde, dass die Therapie eine Hilfe für eine angemessene Schulbildung und damit kostenprivilegiert sei, wies die Beklagte unter Bezugnahme auf eine fachliche Weisung des Amtes für Soziale Dienste, mit der sichergestellt werden solle, dass in der Schule und für die Schule keine zusätzliche Unterstützung durch das Therapiezentrum im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung gewährt werden, als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.9.2016). Maßgeblich für eine Zuordnung zur Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung oder zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei letztlich die Entscheidung der Schulbehörde, was als pädagogischer Bedarf im Rahmen der Schulpflicht notwendig sei. Auch wenn durch die Therapie lebenspraktische Inhalte vermittelt würden, um den Anforderungen im Rahmen des Schulbesuches gerecht zu werden, rechtfertige dies nicht eine Zuordnung zu den Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung.

Mit der hiergegen am 21.10.2016 beim Sozialgericht (SG) Bremen erhobenen Klage hat die Klägerin (zunächst) die Verurteilung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für eine Autismus-Therapie in einem Umfang von mindestens vier Wochenstunden ohne Einsatz von Einkommen und Vermögen verfolgt und weitere Unterlagen vorgelegt (u.a. eine Stellungnahme und den Entwicklungsbericht des Therapiezentrums für den Zeitraum Juli 2017 bis Juni 2018 vom 4.7.2018, eine Stellungnahme der Fachärztin Dr. I. vom 22.12.2017 und einen Kurzbericht des Dr. F., der Ärztin G. und der Dipl. Psychologin H. des LVR-Klinikverbunds, Viersen, vom 10.7.2018). Nach einem wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse der Eltern der Klägerin (Anordnungsgrund) erfolglosen Eilverfahren (SG Bremen, Beschluss vom 8.11.2016 - S 15 SO 321/16 ER -) hat sie Belege für die von Juni 2016 bis Mai 2018 durchgeführte ambulante Autismus-Therapie mit einem durchschnittlichen Umfang von einer Wochenstunde vorgelegt; die Gesamtkosten belaufen sich auf 7.377,37 EUR. Wegen der Autismus-Therapie ab dem Schuljahr 2018/2019 (Wechsel in die Oberschule an der O., Bremen) haben ihre Eltern einen weiteren Kostenübernahmeantrag gestellt, über den - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden worden ist.

Das SG hat die Beklagte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 25.9.2018 unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Klageabweisung im Übrigen (für die Zeit ab dem Schuljahr 2018/2019) verurteilt, die Kosten der Autismus-Therapie der Klägerin ab dem 1.6.2016 bis zum Ende des Schuljahres 2017/2018 als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen zu übernehmen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, der Klagegegenstand sei aufgrund des Schulwechsels Mitte 2018 in zeitlicher Hinsicht begrenzt. Für die vorangegangene Zeit habe aber die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Übernahme der Therapiekosten nach §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung (Eingliederungshilfe-VO), weil die Autismus-Therapie nach den Stellungnahmen der Lehrer der Klägerin und der Mitarbeiter des Therapiezentrums sowie nach dem in der beigezogenen Schullaufbahnakte enthaltenen Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung erforderlich und geeignet sei, den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu erleichtern. Auf die (interne) Weisung der Beklagten - Amt für Soziale Dienste - oder die Entscheidung der Schulbehörde komme es nicht entscheidend an, weil es für Förderleistungen für schulpflichtige Kinder keine ausschließliche Zuständigkeit der Bildungsbehörde gebe und ergänzende Hilfen des Sozialhilfeträgers, außerhalb des Kernbereichs der schulischen Bildung, gerade gesetzlich vorgesehen seien (§ 92 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII).

Mit der hiergegen gerichteten Berufung vom 21.10.2018 macht die Beklagte unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens u.a. geltend, dass eine Kostenübernahme für die Autismus-Therapie nach Weisungslage nur als Hilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und damit einkommens- und vermögensabhängig in Betracht komme und dies von der Beklagten auch dem Grunde nach anerkannt werde. Nach dem Inhalt der Schullaufbahnakte hätte eine angemessene Beschulung der Klägerin - insbesondere wegen der persönlichen Assistenz in einer 1:1 Betreuung - auch ohne Therapie erfolgen können, weil die in den beigezogenen Unterlagen aufgeführten individuellen Förderziele auch im Rahmen der Schulbildung verfolgt würden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 25.9.2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich auch in zweiter Instanz mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte, der beigezogenen Gerichtsakte des SG betreffend das Eilverfahren (- S 15 SO 321/16 ER -) und der ebenfalls beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Leistungs- und Schullaufbahnakte) verwiesen. Diese Akten haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung des Senats ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben.

Gegenstand der statthaften kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) ist der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.9.2016 (§ 95 SGG), mit dem diese die Übernahme der Kosten für eine Autismus-Therapie für die Zeit ab Juni 2016 (Therapiebeginn) abgelehnt hat. Im Berufungsverfahren ist (nur) über die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung und einen Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für die Zeit von Juni 2016 bis Mai 2018 zu entscheiden, weil das SG den Verfahrensgegenstand insoweit sowohl in zeitlicher als auch materieller Hinsicht als begrenzt angesehen und die Klägerin nicht ihrerseits Rechtsmittel eingelegt hat (Verbot der reformatio in peius). Für die Beurteilung der Leistungsklage ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der Begleichung der Therapiekosten bis Juni 2018 (Fälligkeit der letzten Rechnung des Therapiezentrums) maßgeblich. Nach allgemeinen Grundsätzen des Prozessrechts ist für die Beurteilung des Anspruchs auf ein Verwaltungshandeln zwar grundsätzlich auf die letzte mündliche Verhandlung der Tatsacheninstanz abzustellen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn. 34). Dies gilt allerdings nicht für Ansprüche auf Kostenerstattung, bei denen regelmäßig - wie auch hier - auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Beschaffung der Leistung abzustellen ist (vgl. etwa BSG, Urteil vom 7.10.2010 - B 3 KR 5/10 R - juris Rn. 10). Wie das SG zutreffend ausgeführt hat, hat es einer Beiladung des Leistungserbringers, des Trägers des Therapiezentrums, nicht bedurft, weil zwischen den Beteiligten für den o.g. Zeitraum keine Kostenübernahme (i.S. eines Schuldbeitritts der Beklagten) mehr im Streit ist (grundlegend dazu BSG, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 22/07 R - juris Rn. 13 ff.; BSG, Urteil vom 20.4.2016 - B 8 SO 20/14 R - juris Rn. 31).

Rechtsgrundlagen für den Anspruch auf Kostenerstattung sind für die Zeit bis 31.12.2017 § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (BGBl. I 2001, 1046; im Weiteren a.F.) sowie für die Zeit ab 1.1.2018 § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX (BGBl. I 2016, 3234), nach denen dem Leistungsberechtigten dem Grunde nach ein Kostenerstattungsanspruch zusteht, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Leistungsberechtigten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Voraussetzungen einer Kostenerstattung bei unrechtmäßiger Leistungsablehnung liegen hier vor.

Die Beklagte ist als sog. erstangegangener Rehabilitationsträger nach § 14 SGB IX sowohl örtlich als auch sachlich zuständig, weil hier die Entscheidung sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe (als Hilfe zur angemessenen Schulbildung oder zur sozialen Teilhabe) nach §§ 19 Abs. 3, 53 ff. SGB XII und damit eine Leistung zur Teilhabe i.S. des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX i.V.m. §§ 4, 5 SGB IX betrifft, die die Beklagte als örtlicher Träger der Sozialhilfe und damit als Rehabilitationsträger nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX erbringt. Mangels Weiterleitung i.S. des § 14 Abs. 2 SGB IX ist die Beklagte für die Entscheidung über den Antrag aus Juli 2015 und damit auch betreffend einen Kostenerstattungsanspruch für die Vergangenheit allein zuständig geworden.

Die Beklagte hat den Antrag zu Unrecht abgelehnt, weil die Klägerin für die Zeit ab Juni 2016 einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Autismus-Therapie ohne Berücksichtigung des Einkommens und Vermögens ihrer Eltern hatte.

Grundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 XII i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO.

Ein konkurrierender Anspruch auf jugendhilferechtliche Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder nach § 35a SGB VIII kommt in ihrem Fall nicht in Betracht, weil diese Leistungen nach § 10 Abs. 4 SGB XII nachrangig sind. Danach gehen Leistungen nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB XII vor (Satz 1), es sei denn, es besteht (zugleich) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII für junge Menschen, die (auch) körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind (vgl. Satz 2; dazu etwa Senatsbeschluss vom 22.10.2013 - L 8 SO 241/13 B ER -). Dabei stellt § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII für die Abgrenzung zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe allein auf die Art der miteinander konkurrierenden Leistungen bzw. die hieraus folgende Leistungspflicht ab (st. Rspr. vgl. etwa BSG, Urteil vom 25.9.2014 - B 8 SO 7/13 R - BSGE 117, 53 - juris Rn. 26; s. auch BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 - 5 C 6/11 - Rn. 18). Die von der Klägerin begehrten Leistungen sollen u.a. nach der Stellungnahme des für das Therapiezentrum arbeitenden Dipl. Kunsttherapeuten/-pädagogen und Psychotherapeuten P. vom 4.7.2018 grundlegende Kompetenzen der Kommunikation und sozialen Interaktion vermitteln und die Aufmerksamkeit und Kooperationsfähigkeit aufbauen, um damit die bei der Klägerin bestehende Wahrnehmungsverarbeitungsstörung in Teilen zu kompensieren. Sie zielen damit auf eine Behandlung der bei ihr bestehenden tiefgreifenden Entwicklungsstörung im Sinne eines frühkindlichen Autismus (ICD-10 F 84.0) ab. Dieses Krankheitsbild wird nach der wohl herrschenden Meinung in Rechtsprechung (vgl. etwa LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.3.2016 - L 20 SO 545/11 - juris Rn. 110; Bayer. LSG, Beschluss vom 21.1.2015 - L 8 SO 316/14 B ER - juris Rn. 38) und Literatur (vgl. etwa v. Koppenfels-Spies in jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 35a Rn. 27; Wehrhahn in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 3 EinglHV Rn. 6; vgl. auch die sog. Orientierungshilfe Behinderungsbegriff der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe - BAGüS - vom 24.11.2009, S. 17, Punkt 5.4 Besonderheiten bei Autismus-Spektrum-Störungen, abrufbar unter: www.bagues.de) grundsätzlich als seelische Behinderung i.S. des § 3 Eingliederungshilfe-VO angesehen, wenn anderweitige Schädigungen der Körperstrukturen oder Körperfunktionen (insb. mit einhergehender Intelligenzminderung) nicht bestehen. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier jedoch vor. Die Klägerin ist aufgrund ihrer schweren Beeinträchtigungen auch wesentlich geistig Behinderung i.S. des § 2 Abs. 1 SGB IX, § 2 Eingliederungshilfe-VO (zur Wesentlichkeit der Behinderung auch gleich), weil bei ihr u.a. eine ausgeprägte Intelligenzminderung besteht, mit einem im Jahr 2016 erhobenen Gesamt-IQ von 40 (vgl. Befundbericht des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. I. vom 2.4.2016, S. 2; zum Erreichen eines bestimmten IQ-Werts als Indiz für das Vorliegen einer geistigen Behinderung vgl. auch Senatsbeschluss vom 15.1.2018 - L 8 SO 249/17 B ER - juris Rn. 23), so dass die sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe Vorrang vor den Leistungen der Jugendhilfe hat.

Die Klägerin erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII für die Gewährung von Eingliederungshilfe als Pflichtleistung. Danach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor, insbesondere ist die Behinderung der Klägerin wesentlich. Dies ist bei geistigen Behinderungen nach § 2 Eingliederungshilfe-VO der Fall, wenn infolge einer Schwäche der geistigen Kräfte in erheblichem Umfange die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Ob eine geistige bzw. seelische Behinderung wesentlich ist, richtet sich nach den Besonderheiten des Einzelfalls und hängt von sehr unterschiedlichen, durch die individuelle Behinderung geprägten Umständen ab (statt vieler BSG, Urteil vom 30.6.2016 - B 8 SO 7/15 R - juris Rn. 13). Die Wesentlichkeit ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn die mit einer Behinderung einhergehenden Beeinträchtigungen der erfolgreichen Teilnahme am Unterricht in einer Grundschule entgegenstehen, weil Lerninhalte ohne zusätzliche Hilfestellung nicht aufgenommen und verarbeitet werden können; denn eine Grundschulbildung bildet die essentielle Basis für jegliche weitere Schullaufbahn (BSG, Urteil vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 19 m.w.N.). Die Klägerin hat einen anerkannten Förderbedarf in den Bereichen Wahrnehmung und Entwicklung (Bescheid der Beklagten - Senatorin für Bildung und Wissenschaft - vom 8.5.2014) und bedarf zum Grundschulbesuch fachlicher Hilfen u.a. durch das Lehrpersonal und einer Assistenzkraft mit einer 1:1-Betreuung.

Neben diesen Hilfestellungen ist auch die begehrte Autismus-Therapie als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht i.S. des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 12 Eingliederungshilfe-VO notwendig gewesen (§ 4 Abs. 1 SGB IX). Nach § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO umfasst diese Hilfe auch heilpädagogische sowie sonstige Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Der Kernbereich der schulischen pädagogischen Arbeit ist durch die außerhalb des Schulbetriebs stattfindende Autismus-Therapie jedenfalls nicht berührt (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 21, 22). Dass die durch die Autismus-Therapie bezweckte Förderung der Aufmerksamkeit und Konzentration, der kommunikativen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten im streitgegenständlichen Zeitraum entscheidend zu einem erfolgreichen Besuch der Grundschule beitragen konnte, hat bereits das SG unter Bezugnahme auf die Erklärungen der Lehrer der Klägerin, das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Erklärungen der Therapeuten des Therapiezentrums, insbesondere der Stellungnahme von Herrn P. vom 4.7.2018, überzeugend dargelegt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diese Ausführungen (S. 6, 7 des Urteils) Bezug genommen. Ohne Zweifel war die Autismus-Therapie geeignet, die Vermittlung von Unterrichtsinhalten, das Sprachverständnis, die soziale Interaktion mit Mitschülern und das Arbeitsverhalten der Klägerin im Unterricht zu verbessern. Die Erforderlichkeit der Autismus-Therapie wird nicht zuletzt durch die Stellungnahme der (damaligen) Klassenlehrerin, Frau N., vom 20.4.2016 belegt, die die Therapie als den Schulbesuch der Klägerin begleitende Maßnahme ausdrücklich empfohlen hat. Der Einwand der Beklagten, die Klägerin werde in der Schule bereits durch eine persönliche Assistenzkraft begleitet und erhalte dort besondere Förderung u.a. durch qualifizierte Sonderpädagogen, führt vor diesem Hintergrund zu keiner anderen rechtlichen Bewertung. Für die Annahme einer Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung ist es nicht notwendig, dass der Schulbesuch (allein) durch die Maßnahme ermöglicht wird; es reicht aus, dass die Hilfe geeignet und erforderlich ist, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu erleichtern (vgl. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO). Eine Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers außerhalb des Kernbereichs der pädagogischen Arbeit der Schule ist in aller Regel zu bejahen, solange und soweit die Schule - wie hier - eine entsprechende Hilfe nicht gewährt (BSG, Urteil vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 25; vgl. auch Senatsbeschluss vom 7.12.2017 - L 8 SO 206/17 B ER - juris Rn. 27). Auch auf die (interne) Weisungslage der Beklagten kommt es insoweit nicht entscheidend an, weil sie gegenüber der Klägerin keine Außenwirkung entfaltet.

Die Hilfe ist unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Klägerin und ihrer Eltern zu gewähren. Die Maßnahme ist nach § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB XII kostenprivilegiert. Danach ist auf die Leistungen weder Einkommen der Klägerin noch Einkommen ihrer Eltern anzurechnen; denn nach Satz 1 ist eine Aufbringung der Mittel nur für die Kosten des Lebensunterhalts zuzumuten, die bei der Autismus-Therapie nicht anfallen. Eine Vermögensanrechnung unterbleibt völlig (Satz 2).

Der Erstattungsanspruch nach § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a.F. bzw. § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX (in der seit 1.1.2018 geltenden Fassung) erstreckt sich auf die gesamten Therapiekosten, die im streitgegenständlichen Zeitraum angefallen sind. Die Leistungen sind notwendig gewesen und haben den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entsprochen. Insoweit hat das SG zu Recht darauf abgestellt, dass die Klägerin die Therapie trotz schwer ausgeprägter Autismusspektrumsstörung in einem geringeren Umfang (von durchschnittlich einer Stunde je Woche) als empfohlen (zwei bis vier Wochenstunden, vgl. die allgemeine Beschreibung des Therapiezentrums über Inhalte und Ziele der Autismus-Therapie, Stand 31.5.2016) in Anspruch genommen hat. Dass die Eltern der Klägerin die Therapiekosten beglichen haben, steht dem Erstattungsanspruch nicht entgegen (BSG, Urteil vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - juris Rn. 26).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.