Sozialgericht Stade
Beschl. v. 08.10.2010, Az.: S 28 AS 724/10 ER
Anspruch auf Übernahme der Kosten für zwei Kleinstwohnungen mit einer Größe von unter 20 qm und einer getrennten Nutzung als Wohnraum und als Schlafzimmer; Begriff der "Unterkunft" im Sinne des § 22 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II)
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 08.10.2010
- Aktenzeichen
- S 28 AS 724/10 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 36532
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2010:1008.S28AS724.10ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 86b Abs. 2 S. 2 SGG
Tenor:
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vom 22. September 2010 bis zum Abschluss des Verfahrens S 28 AS 732/10, Kosten der Unterkunft und Heizung wie nach dem Vergleich vom 15. Juni 2010 (S 17 AS 156/09), höchstens in angemessener Höhe, zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller möchte, dass der Antragsgegner Mietschulden für die von ihm als Schlafzimmer genutzte Wohnung übernimmt und ihm für diese weiterhin Kosten der Unterkunft und Heizung leistet.
Der Amtragsteller bewohnte ursprünglich eine 19,68 m2 große Wohnung im ersten Stock in dem Mehrfamilienhaus C. weg 4 in D ... Er ist 61 Jahre alt und leidet an mehreren gesundheitlichen Einschränkungen. Anfang 2009 wandte er sich an den Antragsgegner, weil er im Erdgeschoss desselben Hauses eine weitere Wohnung gleicher Größe mieten wollte. Der Beklagte lehnte es am 29. Januar 2009 ab, eine Zusicherung zur Anmietung einer weiteren Wohnung zu erteilen.
In einem Eilrechtsstreit (S 17 AS 156/09) verglichen sich die Beteiligten am 15. Juni 2009. Der Antragsgegner sollte nach dem Vergleich bis Juli 2009 die Miete für die zweite Wohnung (150 Euro Kaltmiete, 20 Euro Betriebskostenvorschuss und Heizkosten) zuzüglich zu den Kosten der ersten Wohnung (77,95 Euro Kaltmiete, 22 Euro Betriebkostenvorschuss und Heizkosten) übernehmen. Der Antragsteller sollte sich innerhalb dieses Jahres bemühen, eine angemessene Wohnung im Raum D. zu mieten.
Der Antragsgegner bewilligte am 18. Mai 2010 ab dem 1. August 2010 nur noch Kosten der Unterkunft für ursprüngliche Wohnung im ersten Stock. Es sei vereinbart gewesen, dass der Antragsteller nur bis Juli 2010 weiteren Wohnraum mieten dürfe.
Dem widersprach der Antragsteller am 14. Juni 2010. Er macht insbesondere geltend, in dem Vergleich sei von einem Zeitraum von einem bis eineinhalb Jahren die Rede gewesen. Er meint, dass unter Berücksichtigung einer Kündigungsfrist von drei Monaten die Kosten für die Erdgeschosswohnung bis Ende März 2011 zu übernehmen seien.
Der Antragsgegner wies den Widerspruch am 13. August 2010 zurück. Kosten der Unterkunft seien nur für eine einzige Wohnung zu leisten. Die Kosten für die weitere Wohnung seien nur aufgrund des Vergleichs geleistet worden. Die Pflicht dazu habe nur bis Ende Juli 2010 bestanden. Der Antragsteller habe keine ernsthaften Bemühungen um eine angemessene Wohnung nachgewiesen und habe betont, dass er in der alten Wohnung bleiben möchte. Der Entwurf des Widerspruchsbescheids trägt Handzeichen vom 18. und 19. August 2010.
Am 22. September 2010 hat der Kläger Klage erhoben und
vorläufigen Rechtsschutz
beantragt.
Er möchte erreichen, dass die Kosten der Unterkunft weiter für beide Wohnungen gezahlt werden. Außerdem möchte er, dass der Antragsgegner die aufgelaufenen Mietrückstände übernimmt. Sein Gesundheitszustand habe sich gebessert, seit er einen separaten Schlafraum habe.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er hält daran fest, dass der Vergleich nur die Zeit bis Ende Juli 2010 geregelt habe. Im Übrigen habe bereits das erkennende Gericht im Beschluss vom 17. März 2009 (S 17 AS 159/09 ER) ausgeführt, dass Kosten der Unterkunft nach § 22 Absatz 1 Satz 3 SGB 2 nur für eine einzige Wohnung zu leiten seien. Wenn mehrere Wohnungen angemietet werden, sei auf die tatsächlich genutzte abzustellen.
Der Antragsgegner weist darauf hin, dass er seine Bewilligung für Oktober und November 2010 am 7. Oktober 2010 geändert habe. Damit sei einer Mieterhöhung und Nebenkostenerhöhung für die anerkannte Wohnung Rechnung getragen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist nach § 86b Absatz 2 des Sozialgerichtsgesetzes zulässig, aber nur teilweise begründet.
Nach § 86b Absatz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich ist. Zusätzlich muss dem Antragsteller ein Anordnungsanspruch zustehen.
Der Antrag bleibt ohne Erfolg, soweit der Antragsteller Leistungen für die aufgelaufenen Mietrückstände erreichen möchte:
Der von der einstweiligen Anordnung erfasste Regelungszeitraum reicht grundsätzlich vom Zeitpunkt des Eingangs des Eilantrags bei Gericht längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21. September 2009 - L 8 AS 585/09 B ER - [...]). Für die Regelungsanordnung nach § 86b Absatz 2 Satz 2 SGG ergibt sich das daraus, dass diese nötig erscheinen muss, um einen wesentlichen Nachteil abzuwenden. Dafür ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der Eilantrag bei Gericht eingegangen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. April 2005 - L 8 AS 57/05 ER - [...]). Eine vorläufige Leistungsanordnung ist damit grundsätzlich ausgeschlossen, soweit es um Rechtsbeeinträchtigungen geht, die vor Antragstellung bei Gericht eingetreten sind. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellen die Fälle dar, in denen ein Nachholbedarf besteht. Nachholbedarf ist gegeben, wenn ohne eine rückwirkende Leistungsgewährung erhebliche Rechtsverletzungen für die Zukunft drohen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - L 8 AS 3441/05 ER-B - [...]). Der Antragsteller hat nicht dargelegt, dass ihm wegen der Mietrückstände für August und September erhebliche Rechtsverletzungen drohen.
Der Antrag ist dagegen begründet, soweit er sich auf die Kosten der Unterkunft ab Antragstellung bei Gericht bezieht.
Allerdings kann der Antragsteller keine Ansprüche aus dem Vergleich herleiten. Dieser regelt ausdrücklich nur die Zeit bis Juli 2010. Ob der Antragsteller sich darauf verlassen hat, nicht der protokollierte Wortlaut sei verbindlich, sondern mündliche Äußerungen, die in dem Erörterungstermin gefallen sein mögen, kann dahinstehen. Denn daraus könnte er für sich nichts herleiten, nachdem er - ausweislich des Protokolls des Erörterungstermins vom 15. Juni 2009 dem Vergleich nach Vorspielen so genehmigt hat, wie er protokolliert wurde. Andererseits steht der Vergleich dem Antrag nicht entgegen. Der Antragsteller ist nach dem Vergleich verpflichtet, sich bis Juli 2010 um eine angemessene Wohnung im Raum D. zu bemühen. Nach seinen Angaben bei dem Antragsgegner hat er das getan. Ob der Antragsteller seine Angaben auch belegen kann, ist im Eilverfahren nicht zu prüfen. Darauf kommt es hier nicht an, weil der Vergleich auch insoweit nur die Zeit bis Juli 2010 regelt. Schließlich ergibt sich aus dem Vergleich auch keine Einigung darüber, dass ab August 2010 wieder so verfahren werden soll wie zuvor. Es ist gerade offengelassen, wie weiter zu verfahren ist, so dass die Ansprüche des Antragstellers nach § 22 SGB 2 zu beurteilen sind.
Nach § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB 2 werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Auch der Antragsgegner ist nicht der Auffassung, dass die Kosten der Unterkunft und Heizung, für die er nach dem Vergleich Leistungen zu erbringen hatte, unangemessen gewesen wären. Seine Ablehnung stützt sich allein auf die Auffassung, dass nach § 22 SGB 2 Kosten der Unterkunft und Heizung nur für eine einzige Wohnung erbracht werden dürften. Dafür beruft er sich auf den Beschluss des erkennenden Gerichts in dem Verfahren vom 17. März 2009 (S 17 AS 159/09 ER). Soweit dort für den Fall des Antragstellers dieses Ergebnis aus § 22 ,Absatz 1 Satz 3 SGB 2 hergeleitet wird, schließt die Kammer sich dieser Beurteilung nicht an.
"Die Unterkunft" im Sinne des § 22 SGB 2 sind alle baulichen Anlagen oder Teile hiervon, die geeignet sind, Schutz vor der Witterung zu bieten und einen Raum der Privatheit zu gewährleisten (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - B 4 AS 1/08 R - [...], m.w.N.). "Unterkunft" ist danach ein abstrakter, offener Begriff, der nicht nur "Wohnung" bedeutet. Deshalb spricht auch nichts dafür, von der Verwendung des bestimmten Artikels in § 22 Absatz 1 Satz 3 SGB 2 ("die Unterkunft") darauf zu schließen, dass damit eine Regelung zur Anzahl berücksichtigungsfähiger Wohnungen getroffen werden soll (also "die Unterkunft" als "eine Wohnung" zu verstehen, wobei "eine" auch noch als Zahlwort und nicht - wie es parallel zu "die Unterkunft" konsequent wäre - als Artikel verstanden würde). Vielmehr können der Unterkunft sogar Sachverhalte zugeordnet werden, bei denen die unterschiedlichen privaten Wohnzwecke in räumlich voneinander getrennten Gebäuden verwirklicht werden. Dass eine nach § 22 SGB einheitlich zu bewertende Unterkunft vorliegt, hat das Bundessozialgericht in der angeführten Entscheidung für ein 19 m2 großes Zimmer in einem Obdachlosenwohnheim und eine Garage und eine Scheune angenommen, in denen während des Wohnens im Obdachlosenheim Hausrat untergestellt war. Dazu hat es die Erwägung angestellt, dass dies jedenfalls gelte, wenn ein räumlicher Zusammenhang gewahrt bleibt, der eine Erreichbarkeit durch den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gewährleistet. Ob eine Unterkunft im Sinn des § 22 SGB 2 vorhanden ist, ist also nach der Funktion der Räume und ihrer Lage zu bestimmen. Ein räumlicher Zusammenhang, der eine Erreichbarkeit durch den Antragsteller gewährleistet, ist hier gegeben. Denn die beiden Kleinstwohnungen liegen im selben Mehrfamilienhaus übereinander. Nach der Funktion dienen die beiden Kleinstwohnungen auch dazu, die unterschiedlichen Wohnzwecke zu verwirklichen. Denn nach der im Eilverfahren unwidersprochenen und plausiblen Darstellung des Antragstellers ist in der einen Wohnung der Schlafbereich und in der anderen Wohnung der Wohnbereich. Dagegen spricht nicht schon, dass beide Wohnungen ein Duschbad und eine Kochnische haben. Zwar wäre es möglich, in beiden Wohnungen - sehr beengt - alle Wohnzwecke zu verwirklichen. Für die Beurteilung nach § 22 SGB 2 kommt es aber nicht auf diese Möglichkeit an, sondern darauf, wie der Antragsteller die Räume tatsächlich nutzt (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, Rdnr. 13 zu § 22). Tatsächlich ergänzen sich die beiden Kleinstwohnungen nach dem unwidersprochenen Vorbringen des Antragstellers zu einer Wohnung, die erst insgesamt allen Wohnbedürfnissen gerecht wird.
Soweit in dem Beschluss vom 17. März 2009 auf eine Literaturfundstelle und eine Gerichtsentscheidung Bezug genommen wird (diese nehmen ihrerseits auf weitere Fundstellen Bezug), geht es dort ersichtlich um andere Fallgestaltungen, nämlich um mehrere Wohnungen in verschiedenen Häusern oder sogar verschiedenen Orten, deren jede für sich eine voll funktionsfähige Unterkunft darstellt; die alle Wohnbedürfnisse erfüllt. Das ist mit dem Fall des Antragstellers aus den angeführten Gründen nicht vergleichbar.
Danach kommt es für den Anspruch nur noch auf die Angemessenheit an. Diese war für den Vergleich unter den Beteiligten unstreitig. Deshalb knüpft das Gericht für die vorläufige Regelung an den Vergleich an und sieht daher für die vorläufige Regelung auch davon ab im Einzelnen zu prüfen, ob durch die Aufteilung auf zwei Wohnungen unnötige Doppelkosten - namentlich für Grundgebühren bei Versorgungsunternehmen - entstehen. Das ist mit dem ausdrücklichen Hinweis verbunden, dass Miet- oder Nebenkostenerhöhungen dazu führen werden, dass die Angemessenheitsfrage neu zu prüfen ist und dass dann auch die vorläufigen Leistungen nach diesem Beschluss gegebenenfalls nicht mehr in tatsächlicher Höhe zu leisten sein werden. Der Verweis auf den Vergleich schließt ein, dass auch der Vorbehalt der Nummer 5 des Vergleichs gilt (Bedingung des fortlaufenden Leistungsbezugs).
Die Kostenentscheidung folgt aus dem entsprechend anzuwendenden § 193 SGG; es entspricht der Billigkeit, dass Kosten nicht erstattet werden.