Sozialgericht Stade
Urt. v. 28.05.2010, Az.: S 31 R 406/09
Minderung der einer Berechnung einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit zugrundegelegten persönlichen Entgeltpunkte durch Rücknahmebescheid
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 28.05.2010
- Aktenzeichen
- S 31 R 406/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 39033
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2010:0528.S31R406.09.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- LSG Niedersachsen-Bremen - AZ: L 2 KN 40/10
- BSG - AZ: B 13 R 9/11 R
Rechtsgrundlage
- § 45 Abs. 1 SGB X
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen einen Rücknahmebescheid, mit welchem die der Berechnung seiner Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit zugrundegelegten persönlichen Entgeltpunkte von 56,3265 auf 47,6777 gemindert wurden.
Die Beklagte bewilligte dem am 29. Januar 1947 geborenen Kläger mit Bescheid vom 30. Oktober 2007 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit ab dem 1. August 2007. Bei der Berechnung der Rente wurden ein Zugangsfaktor von 1,0 sowie 56,3265 Entgeltpunkte zugrundegelegt. In der Zeit vom 1. August 1996 bis 30. Juni 1998 hatte der Kläger bereits eine Rente wegen Berufsunfähigkeit durch die Beklagte bezogen. Dieser Rentenberechnung hatten ebenfalls 56,3265 Entgeltpunkte zugrundegelegen. Bereits vor Auszahlung der ersten Rentenleistung nahm die Beklagte den Bescheid vom 30. Oktober 2007 durch Bescheid vom 1. November 2007 teilweise zurück und setz-te nur noch 47,6777 persönliche Entgeltpunkte fest. Hierbei wurde der Zugangsfaktor um 16,2% auf 0,838 gemindert. Eine vorherige Anhörung hatte nicht stattgefunden.
Hiergegen erhob der Kläger am 12. November 2007 Widerspruch. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2009 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bescheid vom 30. Oktober 2007 sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Zwar habe der Kläger bereits zuvor eine Berufsunfähigkeitsrente bezogen. Diese sei jedoch noch vor Vollendung des 62. Lebensjahres des Klägers weggefallen und die Folgerente habe sich nicht nahtlos an die Rente wegen Berufsunfähigkeit angeschlossen. Daher sei der Zugangsfaktor für die Folgerente gemäß § 77 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch -Gesetzliche Rentenversicherung- (SGB VI) zu vermindern. Vertrauensschutz habe auf Seiten des Klägers nicht bestanden. Die Rücknahme sei bereits erfolgt, bevor der Kläger die erste Rentenleistung erhalten habe. Vermögensdispositionen habe der Kläger nicht getroffen. Die unterbliebene Anhörung im Verwaltungsverfahren sei im Widerspruchsverfahren nachgeholt worden. Der Mangel sei insoweit geheilt worden. Das Interesse an der Rücknahme seitens der Versichertengemeinschaft sei höher zu bewerten als das Interesse des Klägers am Bestand des ursprünglichen Bescheides, da diesem keine anderen Sozialleistungen entgangen seien.
Hiergegen hat der Kläger am 9. Oktober 2009 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass eine Verminderung des Zugangsfaktors rechtswidrig sei, da bereits vorher eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bezogen worden sei. Daher greife die Ausnahmevor-schrift des § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI. Darüber hinaus habe auf Seiten des Klägers keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis bezüglich der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 30. Oktober 2007 vorgelegen. Außerdem sei das erforderliche Anhörungsverfahren nicht durchgeführt worden.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid vom 1. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2009 aufzuheben.
- 2.
die Beklagte zu verurteilen dem Kläger nach dem ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 30. Oktober 2007 Altersrente unter Berücksichtigung von 56,8026 Entgeltpunkten zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.
Die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakte haben vorgelegen und wurden zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gemacht. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten sowie des Sachverhalts wird ergänzend auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 1. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2009 ist rechtmäßig. Zu Recht hat die Beklagte den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom 30. Oktober 2007 teilweise aufgehoben und den Zugangsfaktor von 1,0 auf 0,838 sowie die Entgeltpunkte von 56,3265 auf 47,6777 gemindert.
Rechtsgrundlage für die teilweise Rücknahme ist § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch -Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz- (SGB X). Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat auch nachdem er unanfechtbar geworden ist unter den Einschränkungen der Absätze 2-4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, sofern der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Gemäߧ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit
- 1.
er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
- 2.
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
- 3.
er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorg-falt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 SGB X liegen vor. Der Bescheid vom 30. Oktober 2007 war insoweit rechtswidrig, als bei der Berechnung der Rente ein Zugangsfaktor von 1,0 statt 0,838 und somit 47,6777 statt 56,3265 Entgeltpunkte zugrundegelegt wurden.
Gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 a SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren bei Renten wegen Alters, die vorzeitig in Anspruch genommen werden für jeden Kalendermonat um 0,003 niedriger als 1,0. Im Fall des Klägers folgt hieraus die Herabsetzung von 1,0 auf 0,838.
Entgegen der Auffassung des Klägers greift die Ausnahmevorschrift des § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI nicht ein.
Gemäß § 77 Abs. 3 Satz SGB VI bleibt für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren der frühere Zugangsfaktor maßgebend.
Dem Wortlaut nach spricht diese Regelung für die vom Kläger vertretene Auffassung. Die Regelung ist jedoch einschränkend nach dem Sinn und Zweck auszulegen. Die Regelung hat den Zweck, den nahtlosen Übergang von der einen in die andere Rente zu ermöglichen. Die Regelung greift daher nur dann, wenn sich die Folgerente nahtlos an die vorherige Rente anschließt und die alte Rente nach Vollendung des 62. Lebensjahres weggefallen ist. Dies folgt bereits aus der Regelung in § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nach der die Zeit eines Bezuges einer Rente vor Vollendung des 62. Lebensjahres nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme gilt (vgl. Silber in: LPK-SGBVI, § 77, Rn. 6). Für diese Aus-legung sprechen auch die in§ 88 SGB VI enthaltenen Regelungen. Nach § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind nach Bezug einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, bei einer darauffolgenden Rente, deren Bezug spätestens innerhalb von 24 Kalendermonats nach Ende des Bezuges einer solchen Rente beginnt, mindestens die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte zugrundezulegen. Würde § 77 Abs. 3 SGB VI über die Fälle der bis zu 24 Kalendermonate unterbrochenen Rentenzahlung hinaus auch die Fälle der erneuten Rentenzahlung nach zwischenzeitlicher längerer Unterbrechung erfassen, so wäre § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI überflüssig (vgl Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. August 2005, Az: L 1 RA 243/01 zur Hinterbliebenenrente und§ 88 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
Das Gericht verkennt nicht, dass die oben zitierte Entscheidung nicht rechtskräftig geworden ist und im anschließenden vor dem Bundessozialgericht geführten Revisionsverfahren (Az: B 4 RA 37/05 R) der dort beklagte Rentenversicherungsträger ein Anerkenntnis abgegeben hat. Dies dürfte jedoch auf die seinerzeit vom zuständigen 4. Senat des Bundessozialgerichts vertretene Auffassung, nach der die Kürzung des Zugangsfaktors vor Vollendung des 62. Lebensjahres verfassungswidrig war, zurückzuführen gewesen sein. An dieser Auffassung hält das Bundessozialgericht jedoch zwischenzeitlich nicht mehr fest.
Vertrauensschutz bestand seitens des Klägers nicht. Ein Verbrauch der Rentenleistung konnte noch nicht eintreten, da der Kläger zum Zeitpunkt des Rücknahmebescheides noch keine Rentenzahlungen erhalten hatte. Der Kläger hat nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch keine Vermögensdispositionen in Erwartung der Rente getroffen. Da auch kein anderweitiger Vertrauenstatbestand erkennbar ist, liegen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X nicht vor.
Es kann daher dahinstehen, ob die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Bescheides dem Kläger überhaupt bekannt oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war. Denn die Ausschlusstatbestände des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X sind nur dann zu prüfen, wenn es überhaupt zu einem Verbrauch der Leistungen, einer Vermögensdisposition oder ähnlichem gekommen ist.
Ermessensfehler auf Seiten der Beklagten sind nicht erkennbar. Zutreffend weißt die Beklagte im Rahmen der Ermessenserwägung darauf hin, dass dem Kläger auch keine an-deren Sozialleistungen entgangen sind.
Der Mangel der zunächst nicht durchgeführten Anhörung wurde durch das Widerspruchsverfahren und letztendlich auch durch das durchgeführte Klageverfahren geheilt.
Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass auch bei Anwendung der Ausnahme-vorschrift des § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI der Ursprungsbescheid vom 30. Oktober 2007 teilweise rechtswidrig gewesen wäre. Denn gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 SGB VI gilt die Regelung nicht für die Hälfte der Entgeltpunkte, die Grundlage einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung waren. Unter den Begriff "Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung" dürfte dem Sinn der Vorschrift nach auch die vom Kläger früher bezogene Berufsunfähigkeitsrente fallen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).