Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.01.2001, Az.: 4 L 3846/00

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.01.2001
Aktenzeichen
4 L 3846/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 34565
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2001:0130.4L3846.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 04.07.2000 - AZ: 3 A 945/98

Fundstellen

  • DVBl 2001, 587 (amtl. Leitsatz)
  • FEVS 2001, 361-363
  • NVwZ-RR 2001, 449-450 (Volltext mit amtl. LS)

In der Verwaltungsrechtssache

...

hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 4. Senat - am 30. Januar 2001 beschlossen:

Tenor:

  1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 4. Juli 2000 geändert.

  2. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 13. September 1997 und des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 1998 verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Juli 1997 bis zum 22. Januar 1998 Eingliederungshilfe zu gewähren.

  3. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungs- und des Berufungsverfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

  4. Insoweit ist dieser Beschluss vorläufig vollstreckbar.

  5. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in derselben Höhe leistet.

  6. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Art der dem Kläger zu gewährenden Hilfe.

2

Der im Jahr 1937 geborene Kläger leidet an einem cerebralen Anfallsleiden und ist geistig behindert; er lebt seit dem Jahr 1950 in den Bethelschen Anstalten. Er wendet sich mit der Klage gegen die in den angefochtenen Bescheiden vertretene Ansicht der Beklagten, dass die durch seinen Heimaufenthalt entstehenden Kosten ihm - weiterhin - als Hilfe zur Pflege und nicht als Eingliederungshilfe zu gewähren seien. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf das angefochtene Urteil ergänzend Bezug genommen.

3

Durch dieses Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klage sei unzulässig, da ein Rechtsschutzbedürfnis nicht bestehe. Der Kläger sei in dem maßgebenden Zeitraum vom 1. Juli 1997 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides am 22. Januar 1998 in der Anstalt Bethel untergebracht gewesen und habe dort, deklariert als Hilfe zur Pflege, die Hilfe erhalten, die er benötigt habe. Eine Verbesserung seiner Rechtsposition infolge der Gewährung der Hilfe als Eingliederungshilfe sei nicht ersichtlich. Dies gelte auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur Möglichkeit, sogenannte "Umetikettierungsbescheide" anzufechten. Ein Fall von "Umetikettierung" liege hier nicht vor, da der Kläger stets Hilfe zur Pflege erhalten habe. Es könne auch nicht angenommen werden, dass ein Wechsel des Klägers in eine Pflegeeinrichtung vorbereitet werden solle. Im Unterschied zur Beklagten nehme die Kammer allerdings an, dass dem Kläger bedarfsgerecht Eingliederungshilfe zu gewähren sei. Die Auffassung der Beklagten, das Ziel der Eingliederungshilfe könne angesichts des Alters des Klägers und der langen Unterbringung in der Anstalt Bethel nicht mehr erreicht werden, treffe nicht zu. Maßgebend sei nicht das Alter, sondern allein die Frage, ob noch Aussicht bestehe, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden könne. Diese Frage sei hier auf der Grundlage eines Sozialberichtes der Anstalt Bethel vom September 1996 und einer ärztlichen Stellungnahme hierzu vom Oktober 1996 zu bejahen.

4

Der Kläger hat am 21. August 2000 beantragt, die Berufung gegen das ihm am 21. Juli 2000 zugestellte Urteil zuzulassen. Der Senat hat durch Beschluss vom 7. November 2000 die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugelassen.

5

Zur Begründung seiner Berufung macht der Kläger im Wesentlichen geltend: Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, da die falsche Bezeichnung der Hilfeart seine Rechtsposition verschlechtere. Es bestehe jederzeit die Möglichkeit, dass er neben seinem Bedarf an Eingliederungshilfe zusätzlich noch erheblich pflegebedürftig werde. Dieser Umstand wäre kein Grund, die Einrichtung der Behindertenhilfe zu verlassen, wenn er Eingliederungshilfe erhalte. Anders gestalte sich dies, wenn er Hilfe zur Pflege erhalte. Er müsse dann damit rechnen, aufgefordert zu werden, in eine Pflegeeinrichtung zu wechseln. Im übrigen sei sein Fall auch vergleichbar mit den vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht entschiedenen "Umetikettierungsfällen". Die Sachlage sei insbesondere hinsichtlich der Möglichkeit, dass ihm angesonnen werde, in eine Pflegeeinrichtung zu wechseln, vergleichbar. Es mache keinen Unterschied, dass hier nicht ein neuer "Umetikettierungsbescheid" angefochten werde, weil die jahrelange Deklarierung der ihm gewährten Hilfe als Hilfe zur Pflege mehr oder weniger zufällig und unter völlig anderen rechtlichen Verhältnissen zustande gekommen sei. Vor der Einführung der Pflegeversicherung sei eine Unterscheidung zwischen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege praktisch ein besonderer Stellenwert nicht zugekommen.

6

Der Kläger beantragt sinngemäß,

  1. das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. September 1997 und des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 1998 zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis zum 22. Januar 1998 Eingliederungshilfe zu gewähren.

7

Die Beklagte stellt im Berufungsverfahren keinen Antrag. Sie hat zur Begründung ihres Antrages im Zulassungsverfahren vorgebracht: Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts begegne ihrer Ansicht nach keinen rechtlichen Zweifeln. Eine "Umetikettierung" im Sinne der Rechtsprechung des Senats liege nicht vor, da der Kläger schon immer Hilfe zur Pflege erhalten habe. Er habe auch keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Allerdings wäre sie bereit gewesen, ab Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts mit Eingliederungshilfe einzutreten.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen; sie sind in ihren wesentlichen Bestandteilen Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

9

Der Senat kann gemäß § 130a VwGO über die Berufung durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu der in Aussicht genommenen Form der Entscheidung durch Beschluss und zu ihrem voraussichtlichen Inhalt gehört worden.

10

Die Berufung des Klägers ist zulässig und begründet.

11

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts fehlt es der Klage nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 26. Januar 1998 (4 O 530/98, FEVS 48, 460) hervorgehoben, dass ein "Umetikettierungsbescheid" der Vorbereitung eines Verlangens, aus einer stationären Behinderteneinrichtung im Sinne des § 71 Abs. 4 SGB XI in eine stationäre Pflegeeinrichtung (ein Pflegeheim) im Sinne des § 71 Abs. 2 SGB XI zu wechseln, dienen könnte und damit bereits die Rechtsposition des Hilfeempfängers verschlechtere. An dieser Rechtsprechung hat der Senat in zwei rechtskräftig gewordenen Urteilen vom 12. April 2000 (4 L 35/00, NVwZ-RR 2001, 39 und 4 L 4041/99) auch für den Fall festgehalten, dass sich der Hilfesuchende tatsächlich in einer Einrichtung aufhält, die der Sozialhilfeträger als "Pflegeheim" bezeichnet, die der Hilfesuchende, der Einrichtungsträger und die Pflegekassen aber als Behinderteneinrichtung ansehen. Auch in diesem Falle bestehe die Möglichkeit einer Rechtsgutbeeinträchtigung, auf die abzustellen sei, wenn die Zulässigkeit eines Rechtsschutzbegehrens unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses geprüft werde, und die nicht davon abhänge, dass Maßnahmen eines bestimmten Inhalts schon konkret (aktuell) weitere rechtserhebliche Folgen nach sich ziehen. Diese Möglichkeit einer Rechtsgutbeeinträchtigung besteht auch für den Kläger. Sie liegt darin, dass er jederzeit erheblich pflegebedürftig werden und dann der Aufforderung ausgesetzt sein kann, in ein Pflegeheim zu wechseln, um höhere Leistungen der Pflegekasse zu erlangen und dadurch den Sozialhilfeträger stärker zu entlasten. Es macht entgegen der Ansicht der Beklagten in der Sache keinen Unterschied, ob der Sozialhilfeträger die Hilfeart erstmals in einem Umetikettierungsbescheid falsch deklariert oder - wie hier - die unzutreffende Zuordnung in einem Weiterbewilligungsbescheid aufrecht erhält. Die für die Annahme des Rechtsschutzbedürfnisses ausreichende Möglichkeit einer Rechtsgutbeeinträchtigung auf Grund der aktuellen unzutreffenden Deklarierung der Hilfeart liegt in beiden Fällen vor.

12

Dem Kläger steht nach den §§ 39, 40 BSHG ein Anspruch auf Eingliederungshilfe für den hier maßgebenden Zeitraum vom 1. Juli 1997 bis zum 22. Januar 1998 zu. Insofern verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils. Die Abgrenzung zwischen Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe richtet sich grundsätzlich nach den Umständen des Einzelfalles. Sie hat sich daran zu orientieren, welchem Ziel die konkrete Hilfe dient. So hat die Hilfe zur Pflege in erster Linie einen bewahrenden Charakter, der in den Hilfestellungen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens zum Ausdruck kommt, und zwar unbeschadet dessen, dass insbesondere die aktivierende Pflege auch darauf auszurichten ist und der Pflegebedürftige daran mitzuwirken hat, seine körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte wiederzugewinnen oder zu erhalten und die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhindern (§§ 2 Abs. 1 Satz 2, 6 Abs. 2 SGB XI). Demgegenüber zielt die Eingliederungshilfe primär zukunftsgerichtet auf eine Behebung oder Milderung der Folgen der Behinderung und auf die Eingliederung des Behinderten in die Gesellschaft. Maßgebliche Bedeutung für die Unterscheidung der in Betracht kommenden Hilfearten ist ärztlichen Stellungnahmen beizumessen. Aus diesen ergibt sich in fachkundiger Weise die Prognose für die zu erwartende Entwicklung des Hilfesuchenden oder das Ausmaß der erforderlichen Pflege. Kommen die ärztlichen Stellungnahmen zu einer zukunftsgerichteten Prognose, nach der die Gewährung von Eingliederungshilfe erforderlich ist, rückt dieser Zweck bei der Gewährung der Hilfe in den Vordergrund.

13

Die hier von dem angefochtenen Urteil in Bezug genommene ärztliche Stellungnahme vom 11. Oktober 1996 kommt für den Kläger zu einer eindeutig zukunftsgerichteten Prognose. Es wird darin zusammenfassend ausgeführt: "Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass Herr F. im Laufe der Jahre deutliche Entwicklungsfortschritte im Sinne von besser angepasstem sozialen Lernen in der Gruppe und der Ausgestaltung seiner Eigeninitiative gemacht hat. Unter intensiver Betreuung ist daher durchaus die Möglichkeit gegeben, weitere Fortschritte im Sozialverhalten zu erlernen und sich auch sinnvoll innerhalb und außerhalb der Arbeitszeiten zu beschäftigen."

14

Als bedarfsgerechte Hilfeart kommt vor diesem Hintergrund nur die Gewährung von Eingliederungshilfe in Betracht. Auf dieser Sachlage beruht wohl auch die Äußerung der Beklagten vom 13./30 Oktober 2000, dass sie bereit gewesen wäre, für die Zukunft mit Eingliederungshilfe einzutreten, wenn das angefochtene Urteil rechtskräftig geworden wäre.

15

Nach allem ist dem Kläger die gewährte Hilfe als Eingliederungshilfe zu gewähren, die er in der Einrichtung, in der er im maßgeblichen Zeitraum betreut worden ist, auch tatsächlich erhalten hat (und weiterhin erhält).

16

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

17

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) sind nicht gegeben.

Klay
Willikonsky
Riemann