Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 17.01.2001, Az.: 4 M 4422/00

Abschiebung; Abschiebungshindernis; Asyl; Asylantragsteller; Asylbewerber; Ausreise; freiwillige Ausreise; Freiwilligkeit; Hindernis; humanitäre Gründe; Jugoslawien; Kosovo; Roma; Sozialhilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.01.2001
Aktenzeichen
4 M 4422/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 40403
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 30.11.2000 - AZ: 7 B 5688/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die Vergünstigung des § 2 Abs. 1 AsylbLG durch Gewährung von Leistungen in entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes setzt voraus, dass sowohl die (freiwillige) Ausreise nicht erfolgen kann als auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.

2. Die am Ende dieser Vorschrift genannten entgegenstehenden Gründe beziehen sich nicht nur darauf, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, sondern auch darauf, dass die Ausreise nicht erfolgen kann.

3. Für die Vergünstigung reicht nicht, dass nur tatsächliche Gründe der Ausreise und Abschiebung entgegenstehen. Tatsächliche Gründe können aber zugleich humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe sein.

4. Der Abschiebung von Roma in den Kosovo und ihrer Rückkehr dorthin stehen aufgrund der gegenwärtigen Lage im Kosovo humanitäre Gründe entgegen.

Gründe

1

Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts ist gemäß § 146 Abs. 4 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 VwGO statthaft und auch sonst zulässig. Er ist auch begründet, weil die genügend dargelegten ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts aus den folgenden Gründen bestehen; diese Gründe tragen auch die Begründetheit der zugelassenen Beschwerde.

2

Die Antragstellerin hat einen Anordnungsgrund und -anspruch glaubhaft gemacht.

3

Nach § 2 Abs. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes -- AsylbLG -- in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022) ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das Bundessozialhilfegesetz auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.

4

Dass die Antragstellerin leistungsberechtigt i.S. des § 1 AsylbLG ist und sie für den in § 2 Abs. 1 AsylbLG genannten Zeitraum Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten hat, ist zwischen den Beteiligten zu Recht weiterhin unstreitig. Eine Änderung der Situation, die dem Beschluss vom 14. September 2000 (4 M 3027/00) zu Grunde lag, ist insofern nicht eingetreten.

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Im Ergebnis gilt dies auch für die weiteren. Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG. Denn die Antragstellerin hat auch unabhängig von der damals bestehenden fortgeschrittenen Schwangerschaft, welche in dem genannten Beschluss eigenständig und ausreichend den Anspruch begründete, einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich aus Folgendem:

6

Der Senat nimmt weiterhin an, dass die Antragstellerin dem Volk der Roma angehört. Bereits bei der Niederschrift ihres Asylbegehrens bei der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt Braunschweig am 10. September 1990 wurde im Hinblick auf ihre "Sprachkenntnisse: roma" eine entsprechende Zuordnung vorgenommen, die sich in den Begründungen der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 12. Dezember 1990 und vom 25. März 1994 fortsetzt. Dass ihre Eltern bzw. ihre Mutter in den beiden gerichtlichen Asylverfahren aus den Jahren 1992 und 1994, an denen die Antragstellerin als Minderjährige beteiligt war, vortragen ließen, albanische Volkszugehörige zu sein, steht dem nicht entgegen. Denn das Verwaltungsgericht Hannover stellte trotz dieses Vorbringens in den Urteilen vom 17. Juni 1992 (4 A 1849/92) und vom 2. Februar 1995 (13 A 343/94) fest, dass die Antragstellerin und ihre Familie dem Volk der Roma angehören. Das Verwaltungsgericht stützte sich zur Begründung dieser Zuordnung in dem Urteil vom 2. Februar 1995 insbesondere darauf, dass die Antragstellerin der albanischen Sprache nicht mächtig ist. Insofern ist zu berücksichtigen, dass die vom Milosevic-Regime durchgeführten Repressionen und ethnischen Vertreibungen von Albanern aus dem Kosovo unter der albanischen Bevölkerung Angst, Hass und Rachegefühle gegenüber den im Kosovo verbliebenen nicht-albanischen Minderheiten, vor allem Serben und Roma, haben entstehen lassen. Von den Roma sind hiervon nicht nur die sog. "ethnischen Roma" oder Cergari Roma betroffen, die sich u.a. durch die Sprache (Romany oder Serbokroatisch) und ihren orthodoxen Glauben von den Albanern unterscheiden, sondern auch sog. "ashkaelische Roma", die albanisch sprechen und sich als Albaner identifizieren. An eine dieser Teilgruppen gerichtete Vorwürfe der Kollaboration mit den Serben und der Beteiligung an den Gräueltaten werden häufig auch auf andere Romagruppen übertragen (vgl. "ad hoc-Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo)" des Auswärtigen Amtes vom 21. November 2000). Ein Merkmal zur Unterscheidung und Abgrenzung gegenüber der Kollaboration verdächtigen Angehörigen ethnischer Minderheiten ist folglich die Sprache. Aufgrund der jüngsten Geschichte im Kosovo ist dabei insbesondere das Fehlen albanischer Sprachkenntnisse von Relevanz. Dies gründet darauf, dass die Albaner im Kosovo die albanische Sprache als einen wichtigen Bestandteil ihrer kulturellen und politischen Autonomie ansehen, die es gegenüber der als Besatzung empfundenen serbischen Verwaltung zu verteidigen galt. Ein Beispiel hierfür ist die Zuspitzung der Auseinandersetzungen Anfang der 90er Jahre, weil nach den Vorstellungen der serbischen Verwaltung der Schulunterricht nur noch in serbokroatischer Sprache stattfinden sollte. Die albanischen Lehrkräfte und Schüler weigerten sich, dieser Forderung nachzukommen, wurden daraufhin von den Schulen ausgeschlossen und begannen, ein eigenständiges alternatives Schulsystem zu errichten, in dem weiterhin in albanischer Sprache unterrichtet wurde. Das offizielle -- serbische -- Schulangebot nahmen von da an nur noch Angehörige nicht-albanischer Minderheiten an. Neben der Sprache gibt es aber offensichtlich weitere relevante Identifikationsmerkmale, da die albanische Bevölkerung nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes auch solche Angehörige der Roma dem Verdacht der Kollaboration aussetzt, die -- wie insbesondere die Ashkali -- albanisch sprechen und sich zudem (bisher) selbst als Albaner identifiziert haben. Eine Abgrenzung gegenüber Angehörigen dieser Romagruppen erfolgt offensichtlich über äußerliche Merkmale wie das Erscheinungsbild (Physiognomie, dunkle Hautfarbe), gegebenenfalls verbunden mit dem Herkunfts- oder Wohnort (bestimmte Dörfer oder Stadtviertel), die sich von Außenstehenden kaum mehr nachvollziehbar objektivieren lassen. Derartige Schwierigkeiten dürfen jedoch nicht zum Anlass genommen werden, bei der Beurteilung der Frage, ob einzelnen Menschen im Falle der Rückkehr Gefahren drohen, weil sie als Roma angesehen werden, entsprechende Identifikationsmuster nicht in den Blick zu nehmen und stattdessen etwa allein auf einen vordergründig bestehenden Widerspruch im Vorbringen der Betroffenen (jetzt Roma, früher Kosovo-Albaner) abzustellen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass es nachvollziehbare Gründe für einen solchen Wechsel des Vorbringens geben kann, weil nach den Ausführungen des Auswärtigen Amtes in dem Bericht vom 21. November 2000 auch im Kosovo sich Viele, die jetzt als Roma bezeichnet werden, früher selbst als Albaner identifiziert haben. Im vorliegenden Verfahren ist aber schon unabhängig von dem äußeren Erscheinungsbild der Antragstellerin, das allerdings auch -- jedenfalls aus albanischer Sicht -- eine Roma-Zugehörigkeit nahe legt, der Umstand, dass sie der albanischen Sprache nicht mächtig ist, hinreichend, sie als Zugehörige der Roma bzw. Ashkali im Sinne des Runderlasses des Niedersächsischen Innenministeriums vom 7. April 2000 anzusehen, für die eine Rückführung in den Kosovo nicht in Betracht kommt. In dem Runderlass heißt es:

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Die Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder sind sich in der Einschätzung einig, dass eine Rückkehr aller im Laufe der Jahre nach Deutschland geflohenen Kosovo-Albaner, die hier kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht besitzen, möglich ist. (vgl. Rd.Erl. v. 07.12.1999). Die Einschränkungen, die das "memorandum of understanding" zwischen dem Bundesministerium des Innern und der UNMIK für Rückführungen im Winter vorsah, sind nach Abstimmung zwischen Bund und Ländern mit Beginn des Frühjahrs 2000 entfallen. Damit sind Rückführungen von Kosovo-Albanern ab sofort auch ohne Wohnsitznachweis möglich.

8

Dies gilt nicht für andere ethnische Gruppen wie z.B. Serben, Roma und Ashkaeli. Über die weitere aufenthaltsrechtliche Behandlung dieser nicht-albanischen Volksgruppen aus dem Kosovo wird je nach Lageentwicklung zu gegebener Zeit eine gesonderte Regelung getroffen. Derzeit ist ihre Rückführung aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Bis auf weiteres sind auf drei Monate befristete Duldungen zu erteilen."

9

Dieser Erlass ist weiterhin gültig. Mit einem aktuellen Erlass vom 6. Dezember 2000 wird die Regelung für alle Angehörigen ethnischer Minderheiten beibehalten und daneben -- Bitten und Empfehlungen von UNMIK und UNHCR entsprechend -- während der Wintermonate in eingeschränktem Umfang (keine Straftäter und Alleinstehende, deren Familien sich im Kosovo aufhalten) auf Kosovo-Albaner ausgedehnt

10

Ausländerrechtlich wird damit den zuständigen Behörden vorgegeben, unter Anwendung von § 55 Abs. 2 AuslG bindend Duldungen zu erteilen; ein Ermessen soll den Ausländerbehörden nicht eröffnet werden.

11

Der Senat sieht sich durch diese ausländerrechtlichen Regelungen nicht gehindert, für die Antragstellerin gem. § 2 AsylbLG zudem festzustellen, dass ihre Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen. Insbesondere kann aus dem Umstand, dass gemäß § 55 Abs. 2 AuslG Duldungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen zu erteilen sind, während nach § 55 Abs. 3 AuslG -- unter den Einschränkungen von § 55 Abs. 4 AuslG -- Duldungen u.a. aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen erteilt werden können, nicht gefolgert werden, dass tatsächliche Gründe in ausländerrechtlicher Hinsicht nicht (auch) humanitäre oder persönliche Gründe im Hinblick auf § 2 AsylbLG sein können. Anhaltspunkte hierfür lassen sich den Regelungen des AsylbLG nicht entnehmen. Danach schließen Gründe, die einer Rückkehr nur in tatsächlicher Hinsicht entgegenstehen, zwar eine leistungsrechtliche Besserstellung aus, weil sie von § 2 AsylbLG nicht mitumfasst werden. Dies bedeutet aber nicht, dass tatsächliche Gründe nicht zugleich die Annahme eines humanitären, persönlichen oder rechtlichen Grundes rechtfertigen können (vgl. Hohm, Voraussetzungen einer leistungsrechtlichen Besserstellung nach § 2 I AsylbLG, NVwZ 2000, S. 772, 773 [OLG Düsseldorf 28.10.1999 - 2 U 77/99]). Unabhängig von der ausländerrechtlichen Einordnung von Gründen, die einer Abschiebung entgegenstehen, bleibt somit im Hinblick auf § 2 AsylbLG eigenständig zu prüfen, ob entweder diese Gründe auch humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe sind, aus denen die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, oder aber neben den ausländerrechtlich für eine Duldung bereits genügenden Gründen weitere Gründe für eine Zuerkennung von Leistungen entsprechend dem BSHG gem. 2 Abs. 1 AsylbLG vorliegen.

12

Die Antragstellerin erfüllt die Voraussetzungen für eine leistungsrechtliche Besserstellung. Der Senat nimmt hierbei entsprechend dem Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG an, dass die Besserstellung nur erreicht werden kann, wenn aus den dort genannten Gründen sowohl eine freiwillige Ausreise nicht erfolgen kann als auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Die entgegenstehende Ansicht von Goldmann (Zur Leistungsprivilegierung des Asylbewerberleistungsgesetzes, ZfF 2000, S. 121, 126) lässt sich mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbaren, auch Anhaltspunkte für ein entsprechendes "Redaktionsversehen" (so aber Oestreicher/Schelter/Kunz/Decker, Kommentar zum BSHG, Stand 1. September 2000, § 120 Anhang Rdnr. 11) sind nicht ersichtlich. Die Zusammenfassung der freiwilligen Ausreise "und" aufenthaltsbeendender Maßnahmen in § 2 Abs. 1 AsylbLG erfolgte zwar erst bei der Beratung des Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Vermittlungsausschuss, nachdem der Vorschlag der damaligen Regierungsfraktionen im Bundesrat keine Mehrheit gefunden hatte. Der Entwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP (vgl. BT-Drs. 13/2746) hatte noch eine Verknüpfung der beiden Tatbestandsmerkmale mit dem Wort "oder" vorgesehen. Der Senat nimmt aber -- wie das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss -- an, dass dieser Änderung eine bewusste Entscheidung im Vermittlungsausschuss zu Grunde lag. Hierauf deutet insbesondere, dass die letztlich verabschiedete Fassung von § 2 AsylbLG auch weitere erhebliche Unterschiede zu der Entwurfsfassung aufweist. Es spricht demnach Vieles dafür, dass die gesamte Regelung, mithin auch die Änderung von "oder" in "und" bei der Verknüpfung zwischen den Tatbestandsmerkmalen der freiwilligen Ausreise und aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, "Wort für Wort" im Vermittlungsausschuss beraten und einer Kompromisslösung zugeführt wurde.

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Bereits der Wortlaut von § 2 Abs. 1 AsylbLG gibt außerdem vor, dass sich die im letzten Halbsatz des Absatzes genannten Bedingungen ("weil humanitäre, rechtliche oder persönliche gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen") nicht nur auf den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen, sondern auch auf eine freiwillige Ausreisemöglichkeit beziehen. Bestätigt wird dieses Ergebnis durch eine rechtssystematische Einordnung der Regelung von § 2 Abs. 1 AsylbLG in den Gesamtzusammenhang des Asylbewerberleistungsgesetzes. Denn eine andere Interpretation würde dazu führen, dass Leistungsberechtigte, die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz besitzen, weil sie sich noch im Asylverfahren befinden, auch nach Ablauf von drei Jahren Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht beanspruchen könnten, obwohl für sie aufgrund der Gestattungswirkung des § 55 AsylVfG vor dem Hintergrund des durch Art. 16 a GG garantierten Grundrechts auf politisches Asyl die Frage nach einer möglichen freiwilligen Ausreise nicht gestellt werden darf. Die Gestattungswirkung nach § 55 AsylVfG ist folglich eindeutig als rechtlicher Grund im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG auszumachen, der nicht nur einer Abschiebung, sondern auch einer Verweisung auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise mit Erfolg entgegen gehalten werden kann. Dies setzt aber voraus, dass sich dem Wortlaut der Vorschrift folgend die am Ende des § 2 Abs. 1 AsylbLG genannten entgegenstehenden Gründe nicht nur darauf beziehen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, sondern auch darauf, dass die Ausreise nicht erfolgen kann (Beschluss des Senats vom 16. November 2000 -- 4 M 3921/00 --).

14

Der Senat folgt der Auffassung des Verwaltungsgerichts in der angefochtenen Entscheidung, dass der Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums zur "Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG); Leistungen in den Fällen gem. § 2 AsylbLG" vom 28. April 2000 hinsichtlich der benannten Voraussetzungen das Gesetz nicht entsprechend seinem Regelungsgehalt umsetzt. Die in dem Erlass vorgenommene Erweiterung der Voraussetzungen, wonach der Leistungsberechtigte entweder eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG besitzen müsse oder aber eine Duldung auf der Grundlage des § 55 Abs. 2 AuslG erhalten haben müsse und zugleich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 3 oder 4 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erfüllt sein müssten, ist von § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht mehr gedeckt.

15

Der Senat entscheidet nicht, ob ein rechtlicher Grund im Sinne von § 2 AsylbLG für die Antragstellerin bereits deshalb vorliegt, weil sie einen Asylfolgeantrag gestellt hat und mehr als zwei Jahre seit der Vollziehbarkeit der letzten Abschiebungsandrohung vergangen sind.

16

Für die Antragstellerin bestehen aber humanitäre Gründe, die sowohl einer freiwilligen Ausreise als auch dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegenstehen. Diese Gründe beruhen darauf, dass der Antragstellerin wegen ihrer Zugehörigkeit zum Volk der Roma eine Rückkehr in den Kosovo derzeit nicht zugemutet werden kann; sie liegen -- unabhängig davon, dass dort die Gründe, die einer Rückkehr und Rückführung in den Kosovo entgegenstehen, als "tatsächliche Gründe" qualifiziert werden -- letztlich auch dem für Angehörige ethnischer Minderheiten weiterhin gültigen Erlass vom 7. April 2000 zu Grunde, der die Feststellung, dass eine Rückkehr und Rückführungen in den Kosovo möglich sind, auf Kosovo-Albaner beschränkte. Die Angehörigen nicht-albanischer Minderheiten wurden hiervon ausdrücklich ausgenommen und sind jetzt -- aufgrund des aktuellen Erlasses vom 6. Dezember 2000 -- auch von den nur für Kosovo-Albaner geltenden Einschränkungen ausgenommen. Die Ausnahmeregelungen beruhen auf der schwierigen humanitären Situation für die Angehörigen dieser Minderheiten, die nach der Rückkehr der albanischen Flüchtlinge in den Kosovo Mitte 1999 begann und bis heute fortdauert. Nach dem aktuellen "ad hoc-Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien (Kosovo)" des Auswärtigen Amtes vom 21. November 2000 konnten die bisherigen Bemühungen der Staatengemeinschaft zur Stabilisierung des Kosovo nicht verhindern, dass Angehörige von ethnischen Minderheiten, insbesondere ethnische Serben und Roma, zum Teil systematischen Pressionen, Einschüchterungen und gewaltsamen, immer wieder auch tödlich endenden Übergriffen sowie massiven Sachbeschädigungen (Niederbrennen von Häusern) durch Kosovo-Albaner ausgesetzt sind. Diese Maßnahmen sollen die Opfer teilweise gezielt dazu bringen, den Kosovo zu verlassen. In dem Lagebericht wird weiter ausgeführt: Nach Erkenntnissen der Hochkommissarin für Menschenrechte seien in zahlreichen Fällen Frauen Opfer von Vergewaltigungen und Misshandlungen geworden. Der UNHCR spreche von einer anhaltenden alarmierenden Lage von Minderheiten im Kosovo. Ihre Sicherheit könne weiterhin selbst in ethnischen Enklaven und unter KFOR-Präsenz nicht immer zuverlässig gewährleistet werden. Die Hochkommissarin für Menschenrechte gehe davon aus, dass seit Mitte Juni 1999 mehr als die Hälfte der Roma den Kosovo verlassen habe.

17

Die Gesellschaft für bedrohte Völker sieht in Stellungnahmen vom 31. März, 10. April und 13. September 2000 ebenfalls eine dramatische Situation der Roma und Ashkali im Kosovo. Nach dortigen Erkenntnissen hätten drei Viertel der Roma den Kosovo verlassen oder seien vertrieben worden. Etwa zwei Drittel der Dörfer und Stadtteile, in denen Roma und Ashkali gelebt hätten, seien geplündert, niedergebrannt oder zerstört worden.

18

Auch amnesty international weist in einem Schreiben an den Vorsitzenden der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 16. November 2000 (ai -- asyl-info 12/2000, S. 3) darauf hin, dass für Serben, Roma, Ashkali und Angehörige anderer Minderheiten im Kosovo immer noch große Gefahren bestünden. Es komme weiterhin zu zahlreichen Übergriffen durch die albanische Bevölkerung, die KFOR sei nach wie vor nicht in der Lage, diese Minderheiten effektiv zu schützen.

19

Der Senat sieht auf der Grundlage dieser Erkenntnisse hinreichende humanitäre Gründe für gegeben an, die für Roma aus dem Kosovo, mithin auch die Antragstellerin, sowohl einer freiwilligen Rückkehr als auch der Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegenstehen. Ein Widerspruch zu der in dem angefochtenen Beschluss erwähnten Rechtsprechung des 12. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in Asylverfahren (vgl. Urteil v. 24. Februar 2000 -- 12 L 748/99 -- und Beschluss v. 30. März 2000 -- 12 L 4129/99 --) besteht insoweit nicht, da in diesen Verfahren im Hinblick auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG eine Prüfung erheblicher konkreter Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit nicht erfolgt, wenn dieselbe Gefahr -- wie bei Roma im Kosovo -- zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebungszielstaat droht. Die Feststellung derartiger Gefahren obliegt vielmehr nach §§ 53 Abs. 6 Satz 2, 54 AuslG der obersten Landesbehörde, ohne dass der Betroffene einen Anspruch auf Ermessensbetätigung der obersten Landesbehörde hätte. Eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung dieser Regelungen gebietet nur ausnahmsweise die Berücksichtigung allgemeiner Gefahren bei der Prüfung von § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dort gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 -- 9 C 9.95 --, BVerwGE 99, 324). Diese qualifizierten Anforderungen an die Rechtsgutbeeinträchtigungen vermag der 12. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in ständiger Rechtsprechung nicht zu erkennen. Damit wurde nicht entschieden, ob eine Gefahrenlage im Sinne des § 54 AuslG besteht oder humanitäre Gründe im Sinne von § 2 Abs.1 AsylbLG vorliegen, die einer freiwilligen Ausreise oder der Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegenstehen. Entscheidend zu berücksichtigen ist insofern aber der Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums vom 7. April 2000. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dieser Erlass als Abschiebestoppregelung im Sinne von § 54 Satz 1 AuslG zu qualifizieren ist (so VGH Baden-Württemberg zu dem dort geltenden, ähnlich lautenden Erlass in Urteilen vom 30 März 2000 -- A 14 S 431/98 -- und 27. April 2000 -- A 14 S 2559/98 --) oder in seinen Auswirkungen einer generellen Regelung gemäß § 54 AuslG gleichkommt (so OVG Münster zu dem dort geltenden, ebenfalls ähnlich lautenden Erlass mit Urteil vom 27 März 2000 -- 14 A 521/00.A --). Denn angesichts der beschriebenen Situation der Minderheiten im Kosovo spricht hier Vieles für das Vorliegen einer Situation, die eine Regelung im Sinne des § 54 AuslG erfordert (so auch VG Oldenburg, Urteil vom 17. Oktober 2000 -- 12 A 863/00 -- und Urteil vom 9. November 2000 -- 12 A 1248/00 --, bestätigend Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 11. Januar 2001 -- 12 LA 323/01 --). Die oberste Landesbehörde hat auf diese Situation reagiert und angeordnet, dass Rückführungen unterbleiben und befristete Duldungen erteilt werden. Unabhängig davon, dass der Erlass die dafür maßgeblichen Gründe ausländerrechtlich als "tatsächliche Gründe" qualifiziert, sieht der Senat den Grund für die Ausnahmeregelung für Angehörige nichtalbanischer ethnischer Gruppen zumindest auch, wenn nicht sogar vornehmlich in der beschriebenen schwierigen Situation der Betroffenen im Kosovo. Darin liegt ein humanitärer Grund, der dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen entgegensteht. Solange die Regelungen des Erlasses vom 7. April 2000 vor dem Hintergrund der beschriebenen Situation in Kraft bleiben, kann auch nicht eine Lage angenommen werden, die eine freiwillige Rückkehr möglich macht, dieser stehen vielmehr ebenfalls die genannten humanitären Gründe entgegen. Die Antragstellerin kann schließlich auch nicht auf eine Rückkehr in Gebiete Jugoslawiens außerhalb des Kosovo verwiesen werden. Insofern liegen auch nach der grundsätzlich veränderten politischen Lage in Serbien/Montenegro zur Zeit gesicherte Kenntnisse darüber (noch) nicht vor, dass aus dem Kosovo stammende Angehörige der Roma dort einreisen können; es ist auch nicht bekannt, ob für Roma, die sich erstmals in Gebieten der Bundesrepublik Jugoslawien niederlassen, welche außerhalb ihrer Herkunftsregion Kosovo liegen, ein wirtschaftlicher Mindeststandard gewährleistet ist.

20

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung das Bestehen eines Anordnungsgrundes an, sofern im Wege der einstweiligen Anordnung um die Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt gestritten wird, weil es um die Beseitigung einer existentiellen Notlage geht. In der Regel bejaht er bei laufenden Leistungen -- wie hier -- diesen Anordnungsgrund ab dem Ersten des Monats seiner Entscheidung. Hier besteht begründeter Anlass nicht, von dieser Regel eine Ausnahme zu machen. Eine erneute Befristung der Verpflichtung, vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG in entsprechender Anwendung des BSHG zu gewähren, erachtet der Senat nicht für geboten. Er sieht derzeit -- im Unterschied zu der noch dem Beschluss vom 14. September 2000 zugrundegelegten Prognose, die vornehmlich auf der Erwartung positiver Auswirkungen der Umbruchsituation in Jugoslawien auf die Lage im Kosovo beruhte -- keine Anhaltspunkte, dass sich die Erlasslage im Hinblick auf die Möglichkeit von Rückführungen und die zugrunde liegende humanitäre Situation nicht-albanischer Minderheiten im Kosovo in absehbarer Zeit ändern werden.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

22

Diese Entscheidung ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.