Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 03.08.2021, Az.: 13 MN 352/21
7-Tage-Inzidenz; Berufsausübungsfreiheit; Club; Diskothek; Inzidenzwert; Normenkontrolleilverfahren; Schließung; Shisha-Bar
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 03.08.2021
- Aktenzeichen
- 13 MN 352/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 70904
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 28 IfSG
- § 28a Abs 3 IfSG
- § 32 IfSG
- § 47 Abs 6 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Schließung von Diskotheken, Clubs und ähnlichen Einrichtungen sowie Shisha-Bars ab einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 10 ist mit der Regelung des § 28a Abs. 3 IfSG nicht vereinbar.
Tenor:
§ 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Mai 2021 (Nds. GVBl. S. 297), zuletzt geändert durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 27. Juli 2021 (eilverkündet am 27.7.2021 unter www.niedersachsen.de/verkuendung, Nds. GVBl. S. 559), wird vorläufig außer Vollzug gesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag verworfen.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Der sinngemäß gestellte Antrag (vgl. Schriftsatz der Antragstellerin vom 28.7.2021, S. 2 und vom 29.7.2021),
§ 9 Abs. 5 sowie § 1a Abs. 1 und Abs. 2 der Niedersächsischen Verordnung zur Eindämmung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 30. Mai 2021 (Nds. GVBl. S. 297), zuletzt geändert durch Verordnung zur Änderung der Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 27. Juli 2021 (eilverkündet am 27.7.2021 unter www.niedersachsen.de/verkuendung, Nds. GVBl. S. 559), im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO vorläufig außer Vollzug zu setzen,
hat nur teilweise Erfolg.
Der Antrag ist teilweise unzulässig, im Übrigen aber zulässig (1.) und begründet (2.). Er führt zur vorläufigen Außervollzugsetzung der Verordnungsbestimmung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung mit allgemeinverbindlicher Wirkung (3.).
Diese Entscheidung, die nicht den prozessrechtlichen Vorgaben des § 47 Abs. 5 VwGO unterliegt (vgl. Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 607; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 110 ff.), trifft der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 12.6.2009 - 1 MN 172/08 -, juris Rn. 4 m.w.N.) und gemäß § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.
1. Der Antrag ist nur teilweise zulässig.
a. Er ist nach § 47 Abs. 6 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 VwGOund § 75 NJG statthaft.
§ 9 Abs. 5 und § 1a Abs. 1 und Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung sind im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 75 NJG (vgl. zu den insoweit bestehenden Anforderungen: Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, NdsRpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 16 ff.). § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung lautet:
"In Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen unter Anwendung des § 1a die 7-Tage-Inzidenz mehr als 10 beträgt, sind Diskotheken, Clubs und ähnliche Einrichtungen und Einrichtungen, in denen Shisha-Pfeifen zum Konsum angeboten werden, für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen."
§ 1a Abs. 1 und Abs. 2 der Niedersächsischen Corona-Verordnung lauten:
"(1) Für Regelungen dieser Verordnung, die für Landkreise und kreisfreie Städte Schutzmaßnahmen an die Zahl der Neuinfizierten im Verhältnis zur Bevölkerung je 100 000 Einwohnerinnen und Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen (7-Tage-Inzidenz) knüpfen, sind die vom Robert Koch-Institut im Internet unter https://www.rki.de/inzidenzen für die betreffenden Kommunen veröffentlichten Zahlen zugrunde zu legen.
(2) 1Überschreitet in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die 7-Tage-Inzidenz an drei aufeinander folgenden Tagen (Dreitagesabschnitt) den in dieser Verordnung festgelegten Wert, so stellt der Landkreis oder die kreisfreie Stadt durch öffentlich bekannt zu gebende Allgemeinverfügung den Zeitpunkt fest, ab dem die jeweilige Schutzmaßnahme in seinem oder ihrem Gebiet gilt; die jeweilige Schutzmaßnahme gilt ab dem übernächsten Tag nach dem Ablauf des Dreitagesabschnitts nach Halbsatz 1. 2Die Bekanntgabe der Allgemeinverfügung erfolgt unverzüglich, nachdem aufgrund der nach Absatz 1 vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Zahlen erkennbar wurde, dass die jeweilige durch Rechtsvorschrift geregelte Zahl der 7-Tage-Inzidenz erreicht wird. 3Ein Landkreis oder eine kreisfreie Stadt darf von der Feststellung nach Satz 1 absehen, solange die Überschreitung eines in dieser Verordnung festgelegten Wertes einer 7-Tage-Inzidenz auf einem Infektionsgeschehen beruht, das mit hinreichender Sicherheit einem bestimmten räumlich abgrenzbaren Bereich zugeordnet werden kann, und deshalb die Gefahr einer nicht mehr kontrollierbaren Verbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 nicht besteht. 4Bestehen nach Einschätzung des Landkreises oder der kreisfreien Stadt hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Überschreitung eines in dieser Verordnung festgelegten Inzidenzwertes im Wesentlichen auf Infektionen in einem oder mehreren bestimmten Bereichen beruht, so kann der Landkreis oder die kreisfreie Stadt in der Allgemeinverfügung nach Satz 1 anordnen, dass in Bezug auf Bereiche nach den §§ 6 bis 9 Abs. 4, §§ 9 a, 10, 10 b bis 12, 14 a und 16 bis 17, auf denen die Überschreitung nicht beruht, die Schutzmaßnahmen eines niedrigeren Inzidenzwertes gelten.“
b. Die Antragstellerin ist im Hinblick auf § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung antragsbefugt im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da sie geltend machen kann, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Die in § 9 Abs. 5 der Verordnung u.a. verfügte Schließung von Einrichtungen, in denen Shisha-Pfeifen zum Konsum angeboten werden, lässt es möglich erscheinen, dass die Antragstellerin, die in C. eine Shisha-Bar betreibt, in ihrer durch Art. 12 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG geschützten Berufsausübungsfreiheit verletzt ist.
Hingegen fehlt die Antragsbefugnis im Hinblick auf die eher technischen Regelungen
des § 1a Abs. 1 und Abs. 2 der Niedersächsischen-Corona-Verordnung. Diese Bestimmungen regeln in erster Linie die Ermittlung der für das betreffende Gebiet geltenden Einschränkungen anhand der Inzidenzwerte. Sie legen diese Inzidenzwerte und die bei ihrem Zustandekommen zu berücksichtigenden Parameter aber nicht selbst fest. Die Möglichkeit einer Rechtsverletzung durch diese Vorschriften ist von der Antragstellerin weder dargelegt worden noch sonst ersichtlich. Die (Rück-) Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf die kommunale Ebene durch landesrechtliche Vorschriften (§ 1a Abs. 2 Satz 4 der Verordnung) entspricht der grundgesetzlichen Ordnung (vgl. auch
§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NGöGD).
c. Der Antrag ist zutreffend gegen das Land Niedersachsen als normerlassende Körperschaft im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 VwGO gerichtet.
Das Land Niedersachsen wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vertreten (vgl. Nr. II. des Gemeinsamen Runderlasses der Staatskanzlei und sämtlicher Ministerien, Vertretung des Landes Niedersachsen, v. 12.7.2012 (Nds. MBl. S. 578), zuletzt geändert am 3.6.2021 (Nds. MBl. S. 1020), in Verbindung mit Nr. 4.22 des Beschlusses der Landesregierung, Geschäftsverteilung der Niedersächsischen Landesregierung, v. 17.7.2012 (Nds. MBl. S. 610), zuletzt geändert am 23.2.2021 (Nds. MBl. S. 516)).
2. Der Normenkontrolleilantrag ist - soweit zulässig - auch begründet.
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann das Gericht in Normenkontrollverfahren auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrages im Hauptsacheverfahren, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag voraussichtlich Erfolg haben wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind im Rahmen der sog. "Doppelhypothese" die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe müssen die gegenläufigen Interessen deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.4.2019 - BVerwG 4 VR 3.19 -, juris Rn. 4 (zur Normenkontrolle eines Bebauungsplans); OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 22.10.2019 - 6 B 11533/19 -, juris Rn. 5 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung über die Freigabe eines verkaufsoffenen Sonntags); Sächsisches OVG, Beschl. v. 10.7.2019 - 4 B 170/19 -, juris Rn. 20 (zur Normenkontrolle einer Rechtsverordnung zur Bildung und Arbeit des Integrationsbeirats); Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 11.5.2018 - 12 MN 40/18 -, juris Rn. 24 ff. (zur Normenkontrolle gegen die Ausschlusswirkung im Flächennutzungsplan) jeweils m.w.N.).
Unter Anwendung dieser Grundsätze hat der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung Erfolg. Der in der Hauptsache gestellte Normenkontrollantrag der Antragstellerin wäre voraussichtlich begründet (a.). Zudem überwiegen die gewichtigen Belange der Antragstellerin die für den weiteren Vollzug der Verordnung bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren sprechenden Gründe (b.).
a. Im Hauptsacheverfahren (13 KN 351/21) ist auf den Antrag der Antragstellerin voraussichtlich § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO für unwirksam zu erklären. Diese Verordnungsregelung ordnet keine rechtmäßigen notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen an.
aa. Der Senat geht zwar davon aus, dass diese Verordnung auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruht (vgl. hierzu im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 11.11.2020 - 13 MN 485/20 -, juris Rn. 13 ff. m.w.N.). Auch besteht kein Anlass, an der formellen Rechtmäßigkeit der Verordnungsregelung zu zweifeln.
bb. Die Schließung von Diskotheken, Clubs und ähnlichen Einrichtungen sowie Einrichtungen, in denen Shisha- Pfeifen zum Konsum angeboten werden, bereits bei einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 10, wie sie § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung anordnet, ist gemessen an den sich aus §§ 28 Abs. 1, 28a Abs. 1, 3, 5 und 6, 32 IfSG ergebenden Voraussetzungen (vgl. hierzu im Einzelnen bspw.: Senatsbeschl. v. 14.4.2021 - 13 MN 161/21 -, juris Rn. 11 ff.; v. 30.11.2020 - 13 MN 519/20 -, juris Rn. 26 ff.) keine rechtmäßige Schutzmaßnahme.
Der Tatbestand der genannten Rechtsgrundlage ist unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt mit eingehender Begründung und weiteren Nachweisen etwa die Senatsbeschl. v. 5.1.2021 - 13 MN 582/20 -, Umdruck S. 4 ff., und v. 30.11.2020 - 13 MN 519/20 -, juris Rn. 26 ff.) und unter Berücksichtigung des aktuellen Infektionsgeschehens (vgl. hierzu die Angaben im täglichen Situationsbericht des Robert Koch-Instituts unter www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html und des Niedersächsischen Landesgesundheitsamts unter www.niedersachsen.de/Coronavirus/aktuelle_lage_in_niedersachsen/) auch weiterhin erfüllt, und die materielle Rechtmäßigkeit der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist im Hinblick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns keinen durchgreifenden Bedenken ausgesetzt.
Auch sind (bezogen auf die Rechtsfolgenseite) die in § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Beschränkungen mit Blick auf den Adressatenkreis dieser Regelung und die grundsätzliche Art der gewählten Schutzmaßnahme nicht zu beanstanden (vgl. zu den Betriebsbeschränkungen in § 10 der Niedersächsischen Corona-Verordnung: Senatsbeschl. v. 19.3.2021 - 13 MN 114/21 -, juris Rn. 17 m.w.N.). § 28 Abs. 1 IfSG liegt die Erwägung zugrunde, dass sich die Bandbreite der Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt. Der Gesetzgeber hat § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG daher als Generalklausel ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, BVerwGE 142, 205, 213 - juris Rn. 26 unter Hinweis auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, BT-Drs. 8/2468, S. 27 f.). Der Begriff der "Schutzmaßnahmen" in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ist folglich umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 2.4.2020 - 3 MB 8/20 -, juris Rn. 35).
"Schutzmaßnahme" im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG kann daher, wie § 28a Abs. 1 Nr. 6 IfSG konkretisiert, die Untersagung oder die Beschränkung des Betriebs von Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzurechnen sind, sein.
Der weite Kreis möglicher Schutzmaßnahmen wird durch § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG dahin begrenzt, dass die Schutzmaßnahme im konkreten Einzelfall "notwendig" sein muss. Der Staat darf mithin nicht alle Maßnahmen und auch nicht solche Maßnahmen anordnen, die von Einzelnen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst und Dritten bloß als nützlich angesehen werden. Vielmehr dürfen staatliche Behörden nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind (vgl. Senatsbeschl. v. 26.5.2020
- 13 MN 182/20 -, juris Rn. 38). Diese Notwendigkeit ist während der Dauer einer angeordneten Maßnahme von der zuständigen Behörde fortlaufend zu überprüfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.4.2020 - 1 BvQ 31/20 -, juris Rn. 16).
Die Anordnung, dass Diskotheken, Clubs, Shisha-Bars und ähnliche Einrichtungen ab einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 10 für den Publikumsverkehr und Besuche grundsätzlich geschlossen sind, verstößt gegen die besonderen Anforderungen, die § 28a Abs. 3 IfSG an die Notwendigkeit einer Maßnahme stellt. Diese Vorschrift lautet:
„„1Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) nach Absatz 1 in Verbindung mit § 28 Absatz 1, nach § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 und den §§ 29 bis 32 sind insbesondere an dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems auszurichten; dabei sind absehbare Änderungen des Infektionsgeschehens durch ansteckendere, das Gesundheitssystem stärker belastende Virusvarianten zu berücksichtigen. 2Die Schutzmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen auf die Ebene der Landkreise, Bezirke oder kreisfreien Städte an den Schwellenwerten nach Maßgabe der Sätze 4 bis 12 ausgerichtet werden, soweit Infektionsgeschehen innerhalb eines Landes nicht regional übergreifend oder gleichgelagert sind. 3Die Länder Berlin und die Freie und Hansestadt Hamburg gelten als kreisfreie Städte im Sinne des Satzes 2. 4Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen ist insbesondere die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen. 5Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. 6Bei Überschreitung eines Schwellenwertes von über 35 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind breit angelegte Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine schnelle Abschwächung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. 7Unterhalb eines Schwellenwertes von 35 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. 8Vor dem Überschreiten eines Schwellenwertes sind die in Bezug auf den jeweiligen Schwellenwert genannten Schutzmaßnahmen insbesondere bereits dann angezeigt, wenn die Infektionsdynamik eine Überschreitung des jeweiligen Schwellenwertes in absehbarer Zeit wahrscheinlich macht oder wenn einer Verbreitung von Virusvarianten im Sinne von Satz 1 entgegengewirkt werden soll. 9Bei einer bundesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind bundesweit abgestimmte umfassende, auf eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielende Schutzmaßnahmen anzustreben. 10Bei einer landesweiten Überschreitung eines Schwellenwertes von über 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sind landesweit abgestimmte umfassende, auf eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielende Schutzmaßnahmen anzustreben. 11Nach Unterschreitung eines in den Sätzen 5 und 6 genannten Schwellenwertes können die in Bezug auf den jeweiligen Schwellenwert genannten Schutzmaßnahmen aufrechterhalten werden, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich ist. 12Bei der Prüfung der Aufhebung oder Einschränkung der Schutzmaßnahmen nach den Sätzen 9 bis 11 sind insbesondere auch die Anzahl der gegen COVID-19 geimpften Personen und die zeitabhängige Reproduktionszahl zu berücksichtigen. 13Die in den Landkreisen, Bezirken oder kreisfreien Städten auftretenden Inzidenzen werden zur Bestimmung des nach diesem Absatz jeweils maßgeblichen Schwellenwertes durch das Robert Koch-Institut im Rahmen der laufenden Fallzahlenberichterstattung auf dem RKI-Dashboard unter der Adresse http://corona.rki.de im Internet veröffentlicht.“
Das Gesetz sieht mithin drei unterschiedliche Inzidenzbereiche (über 50, über 35, unter 35) vor, die zu abgestuften Einschränkungen ermächtigen. Dies schließt es aus, die derzeit angeordnete Schließung von Diskotheken, Clubs und ähnlichen Einrichtungen sowie Einrichtungen, in denen Shisha-Pfeifen zum Konsum angeboten werden, bereits mit einem 7-Tage-Inzidenzwert von mehr als 10 zu verbinden. Unterhalb eines Wertes von 35 kommen insbesondere Schutzmaßnahmen in Betracht, die die Kontrolle des Infektionsgeschehens unterstützen. Damit sind ersichtlich Einschränkungen gemeint, die deutlich unter der Eingriffstiefe flächendeckender Betriebsverbote für einzelne Branchen liegen (vgl. bereits Senatsbeschl. v. 15.10.2021 - 13 MN 44/21 -, juris Rn. 28). In Betracht kommen bei einer 7-Tage-Inzidenz unter 35 lediglich allgemeine Regelungen wie Test- und Maskenpflicht sowie die Kontaktdatenerhebung, äußerstenfalls Zugangsbeschränkungen. Generelle Betriebsschließungen einzelner Branchen sind damit jedoch nicht vereinbar. Dies gilt um so mehr, als eine baldige Rückführung des Infektionsgeschehens auf einen 7-Tage-Inzidenzwert von 10 oder niedriger schon angesichts der steigenden Inzidenzwerte in Deutschland und der Infektionslage in den europäischen Nachbarländern nicht realistisch ist, die angeordnete Schließung also eine langfristige sein dürfte.
Die Schließung ist auch nicht durch § 28a Abs. 3 Satz 8 IfSG gerechtfertigt, der die Vorwegnahme schärferer Maßnahmen bei der Prognose der Überschreitung weiterer Schwellenwerte in absehbarer Zeit ermöglicht. Die Überschreitung des niedrigen Inzidenzwerts von 10 kann für sich genommen nicht zugleich in abstrakt-genereller Weise zur Begründung der Vermutung dienen, dass in absehbarer Zeit auch weitere Schwellenwerte überschritten werden und die für diese Schwellenwerte vorgesehen Maßnahmen schon zu diesem frühen Zeitpunkt vorweggenommen werden müssen. Bei § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung handelt es sich zudem um eine lediglich eine Branche selektiv erfassende Regelung, die weder Bestandteil vorweggenommener breit angelegter (erwartete 7-Tage-Inzidenz von über 35) noch umfassender (erwartete 7-Tage-Inzidenz von über 50) Schutzmaßnahmen (vgl. zur Begrifflichkeit: Senatsbeschl. v. 15.3.2021 - 13 MN 103/21 -, juris Rn. 36) ist, die nach dieser Vorschrift bei der Erwartung der Überschreitung dieser Schwellenwerte in absehbarer Zeit angezeigt wären. Die landes- und bundesweit kontinuierliche Steigerung des Infektionsgeschehens deutet ohnehin darauf hin, dass die Ursache dieses Anstiegs nicht schwerpunktmäßig in einer Branche zu suchen ist. Die weitere Verbreitung der Delta-Variante des Virus kann durch die Schließung ebenfalls nicht eingedämmt werden, da diese bereits die vorherrschende Variante in Deutschland ist.
Ob darüber hinaus für die Gesamtheit der in der Niedersächsischen Corona-Verordnung angeordneten Schutzmaßnahmen die konkrete Erreichung einer 7-Tage-Inzidenz (Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen) von 50
oder gar 35 legitim ist, erscheint zweifelhaft (vgl. Senatsbeschl. v. 20.1.2021 - 13 MN 10/21 -, juris Rn. 20 ff. (zur 50er Inzidenz) und v. 15.2.2021 - 13 MN 44/21 -, juris Rn. 25 ff. (zur 35er Inzidenz)), insbesondere angesichts der steigenden Impfquote und der damit voraussichtlich einhergehenden niedrigeren Belastung des Gesundheitssystems trotz höherer Infektionszahlen, bedarf in diesem Verfahren aber keiner abschließenden Entscheidung. Denn die Regelung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist nach dem Vorstehenden auch unabhängig davon rechtswidrig. Allerdings wird der Normgeber dem Fortschreiten der Immunisierung der Bevölkerung und der damit verbundenen weitgehenden Beschränkung des Infektionsgeschehens auf weniger vulnerable (jüngere) Gruppen Rechnung tragen und die ursprünglich zur Bewältigung der sog. zweiten und dritten Welle geschaffenen Vorschriften den veränderten Umständen anpassen müssen. Dies kann durch eine Änderung der Inzidenzwerte oder durch stärkere Berücksichtigung anderer Indikatoren, wie der Zahl der (auch schwer) symptomatisch an COVID-19 Erkrankten, der deswegen Hospitalisierten, intensivmedizinisch Behandelten oder gar künstlich Beatmeten sowie der an oder im Zusammenhang mit dieser Krankheit Verstorbenen geschehen, wobei diese Parameter allerdings den Nachteil der späteren Erkennbarkeit haben. Erforderlichenfalls werden Rückschlüsse aus der Situation anderer europäischer Staaten gezogen werden müssen, die bereits längere Zeit deutlich höhere Inzidenzwerte aufweisen. Welches der in der Öffentlichkeit diskutierten Modelle zu bevorzugen ist, bedarf hier keiner Erörterung. Auf Grundlage der derzeit geltenden Schwellenwerte können bei Berücksichtigung des auch den Gesetzgeber bindenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit schwerwiegende Grundrechtseingriffe jedenfalls nur noch für einen kurzen Übergangszeitraum gerechtfertigt werden.
b. Der festgestellte Rechtsverstoß führt zu einer Verletzung der Antragstellerin in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG und begründet mit Blick auf die Verletzung der Berufsfreiheit der Betreiber von Diskotheken, Clubs und ähnlichen Einrichtungen sowie Einrichtungen, in denen Shisha-Pfeifen zum Konsum angeboten werden, zugleich einen gewichtigen Nachteil, der eine vorläufige Außervollzugsetzung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung in Gänze nach § 47 Abs. 6 VwGO gebietet.
Eine Unterminierung der zweifellos komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie des Antragsgegners steht demgegenüber nicht zu befürchten. Die Regelung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung ist keine zwischen allen Bundesländern abgestimmte Maßnahme eines bundesweiten Gesamtkonzepts. Die vorläufige Außervollzugsetzung durch den vorliegenden Senatsbeschluss hat zwar zur Folge, dass das umfassende Verbot des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung als solches nicht mehr zu beachten ist. Es bestehen aber keine Bedenken, vorübergehend bis zu einer Neuregelung die Regeln des § 1f Abs. 2 der Corona-Verordnung auf Diskotheken, Clubs und ähnliche Einrichtungen sowie Einrichtungen, in denen Shisha-Pfeifen zum Konsum angeboten werden, auch oberhalb einer 7-Tage-Inzidenz von 10 anzuwenden. Es muss der gebotenen Neuregelung der Schwellenwerte überlassen bleiben, ob es damit sein Bewenden hat, oder ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen diese Einrichtungen, deren Nutzung fraglos zu einem erhöhten Infektionsrisiko führt, wieder für den Publikumsverkehr und Besuche geschlossen werden sollen.
3. Die vorläufige Außervollzugsetzung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung wirkt nicht nur zugunsten der Antragstellerin in diesem Verfahren; sie ist allgemeinverbindlich (vgl. Senatsbeschl. v. 28.8.2020 - 13 MN 307/20 -, juris Rn. 36; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 611). Der Antragsgegner hat die hierauf bezogene Entscheidungsformel in entsprechender Anwendung des § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGOunverzüglich im Niedersächsischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu veröffentlichen.
Eines Eingehens auf die im vorliegenden Verfahren nicht recht verständlichen Hilfsanträge (Schriftsatz der Antragstellerin vom 28.7.2021, S. 2) bedarf es im Hinblick auf die erfolgreiche Anfechtung des § 9 Abs. 5 der Niedersächsischen Corona-Verordnung nicht.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Es entspricht der ständigen Praxis des Senats, in Normenkontrollverfahren in der Hauptsache nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO grundsätzlich den doppelten Auffangwert im Sinne des § 52 Abs. 2 GKG, mithin 10.000 EUR, als Streitwert anzusetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 31.1.2019 - 13 KN 510/18 -, Nds. Rpfl. 2019, 130 f. - juris Rn. 29). Dieser Streitwert ist für das Verfahren auf sofortige Außervollzugsetzung der Verordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO zu halbieren.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).