Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.09.1990, Az.: 4 A 184/88

Geringfügige Mittel

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.09.1990
Aktenzeichen
4 A 184/88
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 13056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1990:0926.4A184.88.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg (Oldenburg) 30.06.1988 - 4 OS A 45/87
nachfolgend
BVerwG - 17.06.1993 - AZ: BVerwG 5 C 11/91

Amtlicher Leitsatz

"Geringfügige Mittel" im Sinne von § 85 Nr. 2 BSHG sind eins von Hundert des Grundbetrages des § 79 Abs. 1 Nr. 1 BSHG.

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 4. Kammer Osnabrück - vom 30. Juni 1988 (4 OS VG A 45/87) geändert.

Der Beklagte wird verpflichtet, Kosten für Zahnersatz in Höhe von 30,-- DM zu übernehmen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 200,-- DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Der Kläger beantragte im Juli 1986, der Beklagte solle Kosten in Höhe von 30,-- DM für Zahnersatz übernehmen, die von der Krankenkasse nicht getragen worden seien. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 8. September 1986 ab, weil der Kläger die Mittel, die nur geringfügig seien, selbst aufbringen könne (§ 85 Nr. 2 BSHG). Mit Widerspruch und Klage hatte der Kläger keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 25. September 1986; Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichtes vom 30. Juni 1988).

2

Mit seiner Berufung beantragt der Kläger,

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die Bescheide des Beklagten vom 8. September 1986 und 28. Januar 1987 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, Kosten für Zahnersatz in Höhe von 30,-- DM zu übernehmen.

4

Der Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

6

Er verteidigt seine Bescheide und den Gerichtsbescheid.

7

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

8

Die Berufung ist begründet.

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Der Beklagte muß dem Kläger gemäß § 37 BSHG die begehrte Krankenhilfe gewähren. Er darf vom Kläger, dessen Einkommen im maßgebenden Zeitraum die Einkommensgrenze des § 79 BSHG nicht überstiegen hat, nicht verlangen, die Mittel für den Zahnersatz selbst aufzubringen. Allerdings erlaubt es § 85 Nr. 2 BSHG dem Träger der Sozialhilfe, von einem Hilfesuchenden, dessen Einkommen die Einkommensgrenze nicht überschreitet, die Aufbringung der Mittel zu verlangen, "wenn zur Deckung des Bedarfs nur geringfügige Mittel erforderlich sind". Den Begriff "geringfügig" versteht das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 5. 11. 1969, BVerwGE 34, 164) dahin, daß der Hilfesuchende mit seinem Begehren zurückzuweisen ist, wenn der zur Beseitigung der Notlage notwendige Aufwand in einem unangemessenen Verhältnis zum Nutzen steht oder der Bedarf nach der allgemeinen Verkehrsanschauung so gering ist, daß er sich einer wirtschaftlichen Betrachtung entzieht. Welcher Betrag aber eine "Bagatelle" ist, läßt sich nicht aufgrund der "allgemeinen Verkehrsanschauung" bestimmen, zumal sich nach der Auffassung des Senats eine solche Verkehrsanschauung nicht feststellen läßt. Der Maßstab ist vielmehr dem Bundessozialhilfegesetz zu entnehmen. Dieser Überlegung ist das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung (aaO) auch im Ansatz nachgegangen; es hat nämlich dort ausgeführt, die Mittel dürften dann nicht mehr als "geringfügig" bezeichnet werden, wenn ihre Gewährung im Bundessozialhilfegesetz oder in den zu diesem Gesetz ergangenen Verordnungen ausdrücklich vorgesehen sei.

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Das Bundessozialhilfegesetz sieht - auch bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen - die Bewilligung von Hilfe selbst in geringer Höhe vor. So schreibt § 37 b Nr. 2 BSHG die Übernahme der Kosten der ärztlich verordneten empfängnisregelnden Mittel vor. Aus der Sicht des Bundessozialhilfegesetzes ist deshalb selbst ein niedriger Betrag von Bedeutung. Das entspricht auch der Sicht eines Hilfesuchenden mit niedrigem Einkommen. Der Senat hält es für richtig, an die Einkommensgrenze des § 79 BSHG anzuknüpfen, um zu beschreiben, welche Mittel "geringfügig" sind; diese Vorschrift ist im Unterabschnitt 2 des Abschnitts 4 des Gesetzes ("Einkommensgrenzen für die Hilfen in besonderen Lebenslagen") enthalten. Er bemißt diesen Betrag auf ein Prozent des jeweils maßgebenden Grundbetrages des § 79 Abs. 1 Nr. 1 BSHG. Dieser Betrag ist einerseits hoch genug; es wird damit erreicht, daß der "zur Beseitigung der Notlage notwendige Aufwand in einem unangemessenen Verhältnis zum Nutzen steht". Er ist andererseits niedrig genug; es wird damit vermieden, daß ein Hilfesuchender einen unangemessenen Teil seines Einkommens einsetzen muß. Neben diesem eben genannten objektiven Merkmal sind bei der Bestimmung der "geringfügigen Mittel" grundsätzlich nicht die Besonderheiten des einzelnen Falles zu berücksichtigen. Das würde dem Sinn und Zweck der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang der §§ 79 ff BSHG nicht entsprechen. Auch die Höhe des Einkommens stellt einen geeigneten Anknüpfungspunkt nicht dar. Hat der Gesetzgeber nämlich eine bestimmte Einkommensgrenze festgelegt, so hat er damit entschieden, daß in dieser Höhe bei der Hilfe in besonderen Lebenslagen das Einkommen des Hilfesuchenden unangetastet bleiben soll. Die Annahme, es komme auf die Höhe des Einkommens an, um die "Geringfügigkeitsgrenze" zu bestimmen, würde die Regel der §§ 79 ff BSHG in die Ausnahme verkehren.

11

Zu fragen wäre deshalb allenfalls, ob der vom Senat für richtig gehaltene Betrag nach den Besonderheiten des Einzelfalles noch ermäßigt werden kann. Diese Frage kann der Senat hier offenlassen. Gegen eine solche Annahme spricht aber, daß dieser Betrag wiederum so niedrig ist, daß es in der Regel einem Hilfesuchenden zuzumuten sein wird, in dieser Höhe Einkommen unter der Einkommensgrenze einzusetzen.

12

Mit dieser Auslegung der Vorschrift wird der Senat auch den Anforderungen der Verwaltungspraxis gerecht, die darauf angewiesen ist, klare Maßstäbe darüber zu haben, wann es einem Hilfesuchenden zuzumuten ist, Einkommen unter der Einkommensgrenze einzusetzen. Anerkanntermaßen dürfen die Erfordernisse der Verwaltungspraxis bei der Auslegung einer Vorschrift berücksichtigt werden, soweit diese Erfordernisse nicht in Widerspruch zu vorrangigen Kriterien der Auslegung stehen (BVerfG, Beschl. v. 29. 5. 1990, RamRZ 1990, 995 m.w.Nachw.).

13

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

14

Der Senat läßt die Revision zu, weil es von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist, wie § 85 Nr. 2 BSHG auszulegen ist, und weil er von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. November 1969 (aaO) abweicht.

15

Jacobi

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Zeisler

17

Atzler