Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 30.01.2023, Az.: 9 B 707/23

Alternativenprüfung; Ausnahmegenehmigung; enger zeitlicher Zusammenhang; Europarecht; Habitatschutz; Herdenschutz; keine Verschlechterung; Nutztierrisse; Pferde; Population; Rinder; Schadensprognose; Schafe; Selbstschutz; sukzessive Entnahme; Tötungsverbot; Wolf; Wolfsrudel; Teilweise erfolgreicher Eilantrag eines Umweltverbands gegen die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für den Abschuss eines Wolfs und für die sukzessive letale Entnahme weiterer Wölfe aus dem Wolfsrudel im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Rissereignissen

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
30.01.2023
Aktenzeichen
9 B 707/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 10550
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0130.9B707.23.00

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 16.01.2023 gegen Ziffer 4 und 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 06.10.2022 wird wiederhergestellt. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Antragstellerin und die Antragsgegnerin tragen jeweils zur Hälfte die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 15.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die dem Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte naturschutzrechtliche Genehmigung für den Abschuss eines Wolfs in der E..

Die Antragstellerin ist eine gemäß Bescheid des Umweltbundesamtes vom 28.06.2018 nach § 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz (im Folgenden: UmwRG) anerkannte Umweltvereinigung, die sich nach § 2 ihrer Satzung für den Schutz, den Erhalt und die Pflege des Wolfes und dessen Subspezies einsetzt, unter anderem durch Durchführung und Unterstützung geeigneter Projekte, die durch möglichst nicht letale Methoden helfen, Schäden durch Wölfe zu verhindern.

Nachdem es im Zeitraum Oktober 2021 bis September 2022 zu insgesamt 13 Rissereignissen im F. und den angrenzenden Landkreisen gekommen ist, stellte der Beigeladene unter dem 31.08.2022 bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Erteilung einer artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung für die Entnahme der im Wald "G." ansässigen Wölfe.

Mit Bescheid vom 06.10.2022 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen die Ausnahmegenehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme eines Individuums der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) aus der Natur der Gemeindegebiete H., I., J. und K. in der E.. Ausweislich der beigefügten Nebenbestimmungen bezog sich die Genehmigung auf das Individuum GW950m (Ziffer 1), galt ab sofort befristet bis zum 31.01.2023 (Ziffer 2) und war beschränkt auf Teile des Territoriums des sog. L. Rudels im Gemeindegebiet der Stadt H. sowie die angrenzenden Gemeinden I., J. und K. (Ziffer 3). Darüber hinaus konnte nach Ziffer 4 der Nebenbestimmungen eine Identifizierung über den engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die dem Individuum GW950m zugeordneten Rissereignisse erfolgen, solange der Wolf in der Landschaft nicht anhand besonderer, leicht erkennbarer äußerlicher Merkmale (etwa besonderer Fellzeichnung) identifiziert werden kann. Dabei müsse nach jeder Entnahme eines Einzeltieres zwei Wochen abgewartet werden, ob im Revier des sogenannten L. Rudels die Nutztierrisse aufhören bzw. soweit möglich mittels genetischer Untersuchung ermittelt werden, ob tatsächlich GW950m entnommen wurde. Sei dies nicht der Fall und träten weitere Übergriffe auf, könne in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen sukzessive jeweils ein weiteres Mitglied des Rudels bis zum Ausbleiben der Schäden entnommen werden. Nach Ziffer 5 der Nebenbestimmungen lag ein enger räumlicher Zusammenhang vor bei einer Entnahme im unter Ziffer 3 bestimmten Entnahmegebiet und ein enger zeitlicher Zusammenhang bei einer Entnahme innerhalb der unter Ziffer 2 festgelegten Frist. In Ziffer 13 der Nebenbestimmungen wurde die sofortige Vollziehung der Ausnahmegenehmigung angeordnet. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin unter anderem an, dass die gemeldeten Wolfsrisse in der Region eine deutliche Konzentration im F. zeigten, sich insbesondere seit dem Frühjahr 2022 häuften und zu wirtschaftlichen Schäden geführt hätten. Überwiegend handele es sich um den Wolf GW950m, welcher an den Rissen beteiligt gewesen sei. Aus einer im Bescheid enthaltenen Aufstellung ergibt sich, dass sieben Fälle dem Wolf GW950m zugeordnet worden seien: der letzte Vorfall (14.07.2022) habe ein Schaf ohne Schutzvorkehrungen betroffen, ein weiterer Vorfall (20.03.2022) zwei Schafe ohne Schutzvorkehrungen, ein Vorfall (14.03.2022) elf Schafe mit Schutzvorkehrungen, ein Vorfall (15.03.2022) zwei Schafe mit Schutzvorkehrungen, ein Vorfall (03.03.2022) ein Schaf (Schutzvorkehrungen unbekannt), ein Vorfall (15.10.2021) zwei Schafe ohne Schutzvorkehrungen und ein Vorfall (01.10.2021) ein Rind. Von den weiteren sechs Rissvorfällen betreffend Schafe, Rinder, Ziegen und ein Pferd im Zeitraum August und September 2022 hätten bislang lediglich zwei Vorfälle pauschal Wölfen (aber noch keinem individuellen Wolf) zugeordnet werden können und im Übrigen seien die Verfahren in Bearbeitung. Auf der Grundlage dieser Nutztierrisse könne ein ernster wirtschaftlicher Schaden prognostiziert werden, nämlich für die bedrohten Interessen der Weidetierhalter. Es gäbe auch keine zumutbaren Alternativen, weil der Wolf nicht vergrämt werden könne und es die Grenze des Zumutbaren überschreite, nicht nur für Schafe, Ziegen und Gatterwild, sondern auch für große Huftiere wie Pferde und Rinder aufwändige Herdenschutzmaßnahmen umzusetzen. Schließlich verschlechtere sich der Erhaltungszustand der Population nicht, da in Niedersachsen aktuell 44 Wolfsrudel lebten und die Entnahme einer oder mehrerer besonders problematischer Wölfe auch in dem konkreten Gebiet wegen des Vorkommens mehrerer reproduzierender Wolfsrudel ausgeglichen werden könne. Die Entnahme sei auf das räumliche Gebiet des Vorkommens des Rudels in und um H. beschränkt und zeitlich bis zum 31.01.2023 befristet.

Die Antragstellerin legte am 16.01.2023 Widerspruch gegen diesen Bescheid ein, über den noch nicht entschieden wurde.

Gleichzeitig hat die Antragstellerin einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs beim Verwaltungsgericht gestellt. Zur Begründung ihres Eilantrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen folgendes vor:

Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abschussgenehmigung lägen nicht vor, da ein aktiver Herdenschutz die Rissereignisse verhindert hätte. Insbesondere sei es unzulässig, im Bereich von Pferden und Rindern auf einen aktiven Herdenschutz zu verzichten, nur, weil Pferde und Rinder selbst schutzfähig sein sollten. Es fehle an belastbaren Grundlagen für die Annahme in Niedersachsen, dass Rinder und Pferde über eine Selbstschutzfähigkeit verfügten. Zudem sei zu befürchten, dass sich der Erhaltungszustand der Wolfspopulation verschlechtere. Die Wolfspopulation befinde sich noch nicht in einem stabilen Zustand. Durch die Genehmigung des Abschusses einer Vielzahl von Wölfen, bis "der Richtige" getroffen werde, leide der Erhaltungszustand der Wolfspopulation ganz erheblich. Darüber hinaus gebe es keine konkreten Angaben dazu, über welche besonderen äußeren Merkmale der Wolf verfüge und wie man ihn individualisieren und damit von anderen Wölfen unterscheiden solle. Schließlich sei die Regelung in § 45a Abs. 2 Bundesnaturschutzgesetz europarechtswidrig und damit nicht anwendbar, weil das der Ausnahmegenehmigung zugrundeliegende Ultima Ratio Prinzip durch den ermöglichten ungeregelten Blindabschuss in sein Gegenteil verkehrt werde. Nach der Rechtsprechung des EuGH müssten die für eine Ausnahmegenehmigung geltend gemachten Ziele ausnahmslos klar, genau und fundiert festgelegt werden und könnten nur auf der Basis von konkreten und punktuellen Entscheidung ergehen.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Abschussgenehmigung der Antragsgegnerin vom 06.10.2022 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Dem Wolfsrüden GW950m seien zum Zeitpunkt der Genehmigung sieben Rissereignisse zugeordnet worden. Ein erheblicher Schaden könne prognostiziert werden, weil der Wolf mindestens dreimal einen Herdenschutz überwunden habe bzw. ein Rissereignis bei einem Rind in Herdenhaltung erfolgt sei. Der Wolfsrüde könne anhand seiner Größe identifiziert werden. Durch die Befristung der Genehmigung könne auch ausgeschlossen werden, dass es zu einer Auslöschung des gesamten Rudels komme. Die Auswirkungen auf die Population seien auf der Grundlage einer Stellungnahme des Niedersächsischen Umweltministeriums beurteilt worden.

Der Beigeladene hält die Ausnahmegenehmigung ebenfalls für rechtmäßig. Der Wolf GW950m sei allein für vier Rissereignisse an Schafen und Rindern verantwortlich und eindeutig als Verursacher identifiziert worden. Darüber hinaus habe dieser Wolf inzwischen auch in weiteren Fällen (am 15.09.2022, am 05.09.2022, am 25.08.2022, am 02.09.2022 und am 25.10.2022) als Verursacher identifiziert werden können. Sowohl der Wolf GW950m als auch die Fähe GW1423f aus demselben Rudel griffen seit Jahren neben Schafen auch regelmäßig Großpferde und Rinder an (vgl. nur Rissereignis vom 01.10.2021), was die Annahme stütze, dass es zukünftig zu ernsten wirtschaftlichen Schäden durch den Wolfsrüden GW950m kommen werde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

Der Antrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig, insbesondere statthaft. Der Widerspruch der Antragstellerin hat keine aufschiebende Wirkung, da die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Abschussgenehmigung angeordnet hat. Die Antragstellerin ist als nach § 3 UmwRG anerkannte Vereinigung auch antragsbefugt, da die Erteilung der angefochtenen Ausnahmegenehmigung vom Tötungsverbot zum Abschuss eines Wolfs, der zu den streng geschützten Arten nach § 7 Abs. 1 Nr. 14 lit. b BNatSchG gehört, eine Zulassungsentscheidung darstellt, auf die die umweltbezogenen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (vgl. hierzu nur OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2020 - 4 ME 116/20 -, Rn. 11-14, juris).

Der Antrag ist nur zum Teil begründet.

Zwar hat die Antragsgegnerin das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausnahmegenehmigung im Sinne von § 80 Abs. 3 VwGO in formeller Hinsicht ausreichend damit begründet, dass die besondere Gefahr des Eintritts ernster landwirtschaftlicher Schäden durch weitere Rissereignisse durch den Wolf GW950m ein schnelles Handeln erfordert.

Allerdings fällt die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung (nur) teilweise zu Gunsten der Antragstellerin aus.

Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i. V. m. § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO bedarf es einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten. Maßgeblich ist, ob das private Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs oder das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Genehmigung überwiegt. Für das Interesse der Antragstellerin, einstweilen nicht dem Vollzug der behördlichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, sind die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache einzulegenden Rechtsbehelfs von besonderer Bedeutung. Ein überwiegendes Interesse der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel anzunehmen, wenn bereits die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass der Verwaltungsakt voraussichtlich Rechte der Antragstellerin verletzt. Umgekehrt überwiegt bei voraussichtlicher Rechtmäßigkeit in der Regel das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Genehmigung.

Gemessen daran überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, soweit die Antragsgegnerin mit dem angefochtenen Bescheid die Tötung des Wolfs GW950m genehmigt hat. Bei summarischer Prüfung ist die Ausnahmegenehmigung rechtmäßig (1.) Demgegenüber überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, soweit dem Beigeladenen mit den Nebenbestimmungen Ziffer 4 und 5 gestattet worden ist, eine Identifizierung des Wolfs auch über einen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem ihm zugeordneten Rissereignissen vorzunehmen und nach einer erfolgten letalen Entnahme unter bestimmten Voraussetzungen noch weitere Wölfe töten zu dürfen. Diese Regelung ist bei summarischer Prüfung rechtswidrig (2.).

1. Rechtsgrundlage für die angefochtene Abschussgenehmigung ist § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 Bundesnaturschutzgesetz (im Folgenden: BNatSchG). Nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG kann die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständige Behörde von dem in § 44 geregelten Tötungsverbot, das auch für den streng geschützten Wolf gilt, im Einzelfall unter anderem Ausnahmen zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher oder sonstiger ernster wirtschaftlicher Schäden zulassen. Dabei ergibt sich aus der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, dass es nicht darauf ankommt, ob bereits ein erheblicher Schaden entstanden ist, sondern ob ein solcher Schaden droht, so dass eine Schadensprognose erforderlich ist (Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, Rn. 11, juris; Beschl. v. 26.06.2020 - 4 ME 116/20 -, Rn. 24, juris, jeweils mit weiteren Nachweisen). Für die Schadensprognose unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang weiter die Frage, ob auch in allen Fällen von Nutztierrissen ausreichende Herdenschutzzäune vorhanden waren, da die Anforderungen an den Herdenschutz erst bei der Prüfung zumutbarer Alternativen zu berücksichtigen sind (OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2020 - 4 ME 116/20 -, Rn. 28 sowie Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, Rn. 17-19, juris).

Vor diesem Hintergrund hält das Gericht die Schadensprognose der Antragstellerin für nachvollziehbar. Die dem Wolf GW950m zugeordneten Rissereignisse rechtfertigen die Annahme, dass dieser Wolf auch in naher Zukunft regelmäßig Schafe, Ziegen, Rinder und Pferde reißen und den betreffenden Weidetierhaltern erhebliche Eigentumsschäden zufügen wird.

Wie sich aus der im Bescheid enthaltenen Liste an Nutztierschaden-Fällen ergibt, war der Wolf GW950m im Zeitraum 01.10.2021 bis 14.07.2022 nachweislich an insgesamt sieben Vorfällen in H., I., M. und J. beteiligt, bei denen zwischen ein bis elf Schafe und ein Rind getötet worden sind. Bereits die Vielzahl dieser Fälle, die eine besondere Häufung im März aufweisen, spricht dafür, dass Schafsrisse ein erlerntes und gefestigtes Jagdverhalten des Wolfs GW950m darstellen, bei dem der Wolf im Fall von zwei Schafsrissen jeweils elektrische Flexinetze von ca. 100 bis 105 cm überwinden konnte. Darüber hinaus sind dem Wolf zwischenzeitlich weitere Rissvorfälle zugeordnet worden, nämlich die Risse von jeweils einem Schaf am 05.09.2022 und am 25.08.2022, jeweils mit Herdenschutz (115-120 cm Flexinetz) sowie ein Rissvorfall am 02.09.2022 (ein Pferd aus einer Herde von zwei deutschen Reitponys) und zwei weitere Vorfälle am 15.09.2022 und am 25.10.2022. Angesichts der Beteiligung an den vorgenannten Vorfällen erscheint es zudem naheliegend, dass der Wolf GW950m auch an weiteren Rissereignissen, die Vorfälle aus dem September 2022 betreffen, beteiligt gewesen sein könnte. Daraus ergibt sich nicht nur die Gefahr, dass der Wolf GW950m auch zukünftig Weidetiere töten und damit ernste wirtschaftliche Schäden bei den Tierhaltern hervorrufen wird, sondern dass er sein erlerntes und gefestigtes Beuteverhalten auch an die jüngeren Tiere im Rudel weitergibt.

Zumutbare Alternativen zur letalen Entnahme des Wolfes GW950m sind nicht ersichtlich. In Bezug auf das Reißen von Schafen stellen weder eine Vergrämung noch ein besserer Herdenschutz gleichermaßen erfolgversprechende und zumutbare Alternativen zur Tötung des Wolfs dar. Dieser hat nachweislich bis zu 120 cm hohe elektrische Flexizäune überwunden, so dass auch eine durchgängige Erhöhung der (in einem Teil der Fälle vorhandenen) niedrigeren elektrischen Zäune keine Gewähr dafür bieten dürfte, dass der Wolf zukünftig nicht auch Zäune dieser Höhe überwinden wird.

Soweit die Antragstellerin die naturschutzfachliche Bewertung der Antragsgegnerin in Frage gestellt hat, dass Pferde und Rinder eine ausreichende Fähigkeit zum Selbstschutz hätten und daher im Regelfall keine weiteren Herdenschutzmaßnahmen erforderlich seien, teilt die Kammer die Bedenken der Antragstellerin nicht. Die Antragsgegnerin hat für das Gericht fachlich nachvollziehbar das Risiko eines erfolgreichen Wolfsangriffs auf Rinder oder Pferde aufgrund deren Wehrhaftigkeit und Größe als deutlich geringer bewertet und darauf verwiesen, dass diese als große Huftiere eine bessere Verteidigungsposition einnehmen und auch Jungtiere schützen könnten (so im Ergebnis auch OVG Lüneburg, Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, Rn. 21, juris). Auch wenn diese Fragen noch klärungsbedürftig sein mögen und die Antragstellerin diese Frage - mit Blick auf die nachgewiesenen Rissereignisse auch bei Pferden und Rindern - anders beantwortet hat, erscheint die Bewertung der Antragsgegnerin jedenfalls im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes weiterhin vertretbar. Abgesehen davon liegen auch ohne die Rissereignisse von Pferden und Rindern jedenfalls angesichts der Vorfälle am 05.09.2022, am 25.08.2022, am 15.03.2022 und am 14.03.2022 (vier Rissereignisse von Schafen mit Schutzvorkehrungen) ausreichend Fälle vor, die belegen, dass der Wolf auch die empfohlenen Schutzmaßnahmen für Schafe überwinden kann und dieses erlernte Jagd- und Beuteverhalten nur durch seine letale Entnahme beendet werden kann.

Schließlich teilt das Gericht auch nicht die Bedenken der Antragstellerin betreffend die Verschlechterung des Erhaltungszustands der Wolfspopulation durch die Erteilung der Ausnahmegenehmigung zum Abschuss des Wolfs GW950m. Wie sich aus dem Bescheid der Antragsgegnerin ergibt, leben allein in Niedersachen 44 Wolfsrudel, was bei einer durchschnittlichen Geburtenrate von Wölfen von 6,1 etwa 264 Welpen im Jahr 2022 entspricht. Dass die Entnahme eines einzelnen Wolfs zu einer nennenswerten Verschlechterung des Erhaltungszustands der lokalen Population führen könnte, erscheint angesichts dieser Zahlen ausgeschlossen.

Ermessensfehler sind weder dargelegt noch sonst erkennbar.

2. Rechtswidrig sind hingegen bei summarischer Prüfung die Nebenbestimmungen Ziffern 4 und 5 des Bescheides vom 06.10.2022, die eine Identifizierung über den engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die dem Individuum GW950m zugeordneten Rissereignisse erlauben, solange der Wolf in der Landschaft nicht anhand besonderer, leicht erkennbarer äußerer Merkmale identifiziert werden kann und (unter bestimmten Voraussetzungen) nach einer so erfolgten Entnahme die Tötung noch weiterer Wölfe zulassen.

Rechtsgrundlage für diese Nebenbestimmungen ist § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG. Danach gilt § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG mit der Maßgabe, dass, wenn Schäden bei Nutztierrissen keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind, der Abschuss von einzelnen Mitgliedern des Wolfsrudels in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen auch ohne Zuordnung der Schäden zu einem bestimmten Einzeltier bis zum Ausbleiben von Schäden fortgeführt werden darf. Wie das OVG Lüneburg in seinem Beschluss vom 26.06.2020 (4 ME 116/20 -, Rn. 39-41, juris) ausgeführt hat, ist der Anwendungsbereich dieser Vorschrift umstritten: während Teile der Rechtsprechung die Vorschrift auf die Regelung des Falles beschränken wollen, dass bereits eingetretene Rissereignisse einem bestimmten einzelnen Wolf nicht zugeordnet werden können (so unter Berufung auf den Wortlaut: VG Lüneburg, Beschl. v. 11.06.2020 - 2 B 56/20; VG Oldenburg, Beschl. v. 27.10.2022 - 5 B 3146/22 -, Rn. 38ff., juris), hält das OVG Lüneburg unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung auch eine Anwendung der Vorschrift auf Fälle für möglich, in denen Nutztierrisse zwar einzelnen Wölfen genetisch zugeordnet werden können, eine gezielte Tötung sich aber als schwierig erweist, weil der jeweilige Wolf wegen des Fehlens besonderer, leicht erkennbarer äußerer Merkmale (z.B. eine besondere Fellzeichnung) nicht in der Landschaft erkannt und von anderen Wolfsindividuen unterschieden werden kann. Selbst wenn man der weiteren Auslegung des Eufach0000000012s folgt, setzt der Abschuss einzelner Mitglieder des Wolfsrudels nach § 45a Abs. 2 BNatSchG darüber hinaus voraus, dass es einen engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen gibt, der von der Naturschutzbehörde fachlich vertretbar zu bestimmen ist. Dazu hat das OVG Lüneburg in seiner vorzitierten Entscheidung (Rn. 40-41, juris) im Einzelnen folgende Anforderungen gestellt:

"Die Norm erlaubt den Abschuss von einzelnen Mitgliedern des Wolfsrudels nur in einem sowohl räumlich als auch zeitlich engen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen. Dadurch soll gewährleistet werden, dass, wenn nicht mit absoluter Sicherheit, so doch zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit derjenige Wolf getötet wird, der für die Nutztierrisse auch verantwortlich ist. Entsprechend ist es Aufgabe der Naturschutzbehörde, sowohl den zeitlichen als auch den räumlichen Zusammenhang so zu bestimmen, dass eine entsprechende Prognose fachlich gerechtfertigt ist. Hieran fehlt es jedoch hinsichtlich der erforderlichen Bestimmung des engen zeitlichen Zusammenhangs. Sowohl in der Nebenbestimmung Nr. 3 als auch in Nr. 4 hat der Antragsgegner eine Identifizierung und Tötung von einzelnen Wolfsindividuen aufgrund des engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs zu vorangegangenen Rissereignissen erlaubt, ohne allerdings den engen zeitlichen Zusammenhang näher zu konkretisieren. Dies hat er nur hinsichtlich des engen räumlichen Zusammenhangs getan, den er auf das Gebiet der Gemeinden E., F. und G. in einem Radius von 500 m um die Schafhaltungen begrenzt hat.

Bei summarischer Prüfung vermag der Senat auch in der Befristung sämtlicher Regelungen des am 4. April 2020 ergangenen Bescheides auf die Zeit bis zum 30. Juni 2020 keine rechtmäßige Entscheidung über den von § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG geforderten engen zeitlichen Zusammenhang zu sehen. Im Anwendungsbereich von Art. 16 Abs. 1 FFH-​Richtlinie, dessen Anforderungen die Auslegung sowohl von §§ 45 Abs. 7 Satz 1 als auch von § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG genügen muss, ist die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung rechtswidrig, wenn die zuständige Behörde nicht anhand fundierter wissenschaftlicher Daten nachzuweisen vermag, dass die Ausnahmegenehmigung geeignet und erforderlich ist, um das damit verfolgte Ziel - hier die Abwendung von erheblichen Nutztierschäden auf Seiten des Beigeladenen - zu erreichen (vgl. EuGH, Urt. v. 10.10.2019 - C-​674/17 - Rn. 80). Jedenfalls an einem derartigen Nachweis fehlt es hier, zumal sich dem Bescheid keine Begründung dafür entnehmen lässt, dass und aus welchen naturschutzfachlichen Erwägungen der von § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG geforderte enge zeitliche Zusammenhang sich über einen Zeitraum von etwa drei Monaten erstreckt und innerhalb des so gewählten Zeitraums noch die Prognose gerechtfertigt ist, dass ein Wolf, der sich in den 500 m-​Radius rund um die Schafhaltungen des Beigeladenen bewegt, zu den Verursachern der in der Risstabelle des Bescheides aufgeführten Schafsrisse zählt."

Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen, denen die erkennende Kammer folgt, erscheint es fraglich, dass ein solcher räumlich und zeitlich enger Zusammenhang ausreichend bestimmt worden ist.

Angesichts der europarechtlichen Vorgaben, denen zufolge die Selektivität und beschränkte Entnahme von Exemplaren des besonders geschützten Wolfs gewährleistet sein muss (EuGH, Urt. v. 10.10.2019 - C-674/17 -, Rn. 79-80, juris), ist es im Zusammenhang mit der Anwendung von § 45a Abs. 2 BNatSchG erforderlich, dass die Behörden in jedem Einzelfall den zeitlichen (und räumlichen) Zusammenhang mit konkret zugeordneten Rissereignissen so eng begrenzen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Tötung des "Verursacher-Wolfs" besteht (vgl. Lau in: Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Aufl. 2021, § 45a Rn. 9). Selbst wenn man davon ausginge, dass die Bezugnahme auf das gesamte Gemeindegebiet der Stadt H. und der angrenzenden Gemeinden I., J. und K. räumlich hinreichend eng ist, fehlt es jedenfalls an der erforderlichen Bestimmung des engen zeitlichen Zusammenhangs. Die Antragsgegnerin hat im Hinblick auf die Bestimmung des engen zeitlichen Zusammenhangs nur auf die Befristung der Geltungsdauer der Ausnahmegenehmigung verwiesen, nicht aber eine darüberhinausgehende nachvollziehbare Bestimmung des Zeitrahmens vorgenommen, der nach einem Rissereignis noch als enger zeitlicher Zusammenhang gewertet werden kann. Angesichts der Geltungsdauer der Ausnahmegenehmigung von vier Monaten hätte die Antragsgegnerin im Bescheid plausibel darlegen müssen, dass dieser Zeitraum tatsächlich geeignet ist, einen Wolf, der sich in dem großen Verbreitungsgebiet des L. Rudels bewegt, als Verursacher eines der in der Risstabelle aufgeführten Nutztierrisses anzusehen. Dies gilt umso mehr, als die Antragsgegnerin selbst in ihrem Bescheid darauf verwiesen hat, dass weitere Rudel direkt an das Territorium des sog. L. Rudels angrenzen und damit eine Verwechslungsgefahr mit bislang unbeteiligten Wolfsrudeln nicht ausgeschlossen erscheint. Fehlt es damit an der erforderlichen Begrenzung des engen zeitlichen Zusammenhangs, sind die Nebenbestimmungen der Ziffern 4 und 5 rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Ziffer 1.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.