Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 27.10.2022, Az.: 5 B 3146/22
Zu den Voraussetzungen einer sukzessiven letalen Entnahme eines ganzen Wolfrudels
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 27.10.2022
- Aktenzeichen
- 5 B 3146/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 50421
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2022:1027.5B3146.22.00
Rechtsgrundlagen
- BNatSchG § 45 Abs. 7
- BNatSchG § 45a Abs. 2
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Unter Berücksichtigung der europarechtlichen Zusammenhänge ist § 45a Abs. 2 BNatSchG nach Wortlaut, Systematik und Sinn und Zweck dahingehend auszulegen, dass der sukzessive Abschuss aller Mitglieder eines Wolfsrudels und nicht nur eines als schadensverursachend identifizierten Wolfsindividuums nur möglich ist, wenn Schäden bei Nutztierrissen keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind. Dass das als schadensverursachend identifizierten Wolfsindividuum (bislang) nicht anhand besonderer leicht erkennbarer äußerer Merkmale identifiziert werden kann, genügt nicht.
- 2.
Jedenfalls bedarf es der Ausschöpfung aller zumutbaren Mittel zur Feststellung des äußeren Erscheinungsbildes des schadensverursachenden Wolfes.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 21. September 2022 / 10. Oktober 2022 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14. September 2022 in der Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 6. Oktober 2022 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 15.000,00 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt mit seinem vorläufigen Rechtsschutzantrag die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruches gegen eine unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ergangene Verfügung des Antragsgegners, mit der dieser eine Ausnahmegenehmigung zum Abschuss eines Wolfsindividuums aus dem Rudel "D." erteilte.
Nach einer Reihe von Rinderrissen durch Wölfe in dem Territorium des Rudels "D." erteilte der Antragsgegner mit Bescheid vom 14. September 2022 eine Ausnahmegenehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme eines Individuums der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) aus dem Rudel "D.".
In den Inhalts- und Nebenbestimmungen wurde u.a. bestimmt, dass sich die Genehmigung auf das Wolfsindividuum E. aus dem Rudel "D." bezieht (Ziffer 1). Ferner wurde die Ausnahmegenehmigung bis zum 31. Dezember 2022 befristet (Ziffer 2) und räumlich auf bestimmte, zum Territorium des Rudels "D." gehörende Stadt- und Gemeindegebiete in den Landkreisen F. und G. beschränkt (Ziffer 3 a und b). Zudem wurde in Ziffer 4 verfügt, dass eine Identifizierung des Wolfsindividuums GW2888m über den engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse erfolgen kann, solange das Individuum H. in der Landschaft nicht anhand besonderer, leicht erkennbarer äußerer Merkmale identifiziert werden kann. Unter Ziffer 5 der Nebenbestimmungen wurde angeordnet, dass nach jeder Entnahme eines Einzeltieres abgewartet werden müsse, ob im jeweiligen Revier die Nutztierrisse aufhörten. Sei dies nicht der Fall und träten weitere Übergriffe auf, könne in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen sukzessive jeweils ein weiteres Mitglied des Rudels bis zum Ausbleiben der Schäden entnommen werden. In Ziffer 6 wurde bestimmt, dass ein enger räumlicher Zusammenhang bei einer Entnahme in dem unter Ziffer 3 benannten Entnahmegebiet und ein enger zeitlicher Zusammenhang innerhalb der unter Ziffer 2 vorgenommenen Befristung vorliegt.
In Ziffer 14 der Verfügung wurde die sofortige Vollziehung der Ausnahmegenehmigung angeordnet.
Der Antragsteller hat gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 24. Januar 2022 Widerspruch eingelegt.
Mit Bescheid vom 6. Oktober 2022 änderte der Antragsgegner die Nebenbestimmung zu Ziffer 3b der Ausnahmegenehmigung vom 14. September 2022 wie folgt: "- in den Landkreisen F. und G. darüber hinaus die in der Anlage 1a (Karte) rot dargestellten Waldgebiete." Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es am 2. Oktober 2022 zu einem weiteren Übergriff im Territorium D. bei I. in der Nähe des westlich gelegenen "J. Forst" gekommen sei. Die mit dem Vollzug vor Ort betrauten Personen hätten zudem berichtet, dass das "K. Rudel" nunmehr regelmäßig auch in den angrenzenden Gebieten gesichtet werde.
Mit Schreiben vom 10. Oktober 2022 erhob der Antragsteller auch gegen diesen Bescheid Widerspruch. Über die Widersprüche des Antragstellers ist noch nicht entschieden.
Zur Begründung des vorläufigen Rechtsschutzantrages trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor:
Die Voraussetzungen für den Erlass der Ausnahmegenehmigung nach § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG seien nicht erfüllt. Dies folge bereits daraus, dass die betroffenen Tierhalter der streitgegenständlichen Nutztierrisse 1983 und 1971 keinerlei Maßnahmen für einen Herdenschutz ergriffen hätten. Dass eine Selbstschutzfähigkeit bei Pferde- und Rinderherden gegeben sei, habe der Antragsgegner, den insoweit die Darlegungs- und Beweislast treffe, nicht belegt. Ein Elektrozaun mit Untergrabschutz sei auch für Pferde- und Rinderhalter eine ihnen obliegende, zumutbare Herdenschutzmaßnahme. Der Antragsgegner habe nichts unternommen, um festzustellen, welche Landwirte bedroht sein könnten und welche Schutzmaßnahmen diese bereits ergriffen hätten oder ergreifen könnten. Eine Prüfung zumutbarer Alternativen sei somit unterblieben und in der Folge auch die erforderliche Abwägung. Es fehle ferner an einem ernsten wirtschaftlichen Schaden. Bisher seien lediglich zwei Rinder aus zwei Herden mit zusammen 45 Tieren gerissen worden. Dies sei noch hinzunehmen.
Außerdem habe keine Prüfung stattgefunden, ob hinsichtlich der Jungtiere überhaupt schon ein erlerntes Jagdverhalten vorhanden sei.
Die hier streitgegenständliche Abschussgenehmigung sei aber auch deshalb rechtswidrig, weil sie zwar auf der Identifizierung des Wolfes GW2888m beruhe, jedoch keine Beschreibung des Tieres enthalte. Es sei völlig unklar, ob das Tier E. anhand besonderer leicht erkennbarer äußerer Merkmale identifiziert werden könne oder nicht. Eine Feststellung des Erscheinungsbildes des Tieres sei offensichtlich nicht versucht worden. Die Regelung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG setze voraus, dass Schäden an Nutztieren keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden seien. Nur dann dürften sukzessive die übrigen Rudeltiere der Natur entnommen werden. Im vorliegenden Verfahren sei das schadensverursachende Tier jedoch nachgewiesen worden. Somit scheide eine sukzessive Entnahme auch der anderen Rudeltiere aus.
Zudem sei auch die Nebenbestimmung unter Ziffer 6 zumindest teilweise rechtswidrig. Danach seien die Entnahme von Wölfen des Rudels nur in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem vorherigen Tierriss zulässig. Der Antragsgegner gehe insoweit von sieben Tierrissen seit Juli 2022 im Territorium D. aus. Richtigerweise hätten jedoch nur zwei Tierrisse im Juli und August 2022 in zwei Ortsteilen von L. berücksichtigt werden dürfen. Ein enger räumlicher Zusammenhang bestehe also allenfalls in der Gemeinde D., nicht aber auch in Bezug auf die Städte F. und M.. Die Überdehnung des räumlichen Territoriums mache die Nebenbestimmung rechtswidrig.
Ebenfalls rechtswidrig sei die Nebenbestimmung zu Nr. 6 Satz 2 betreffend den engen zeitlichen Zusammenhang. Ein enger zeitlicher Zusammenhang setze eine zeitliche Begrenzung voraus, wie etwa zwei Wochen. Der Antragsgegner setze dagegen in unzulässiger Weise den erforderlichen engen zeitlichen Zusammenhang mit der Befristung der Verfügung gleich.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 14. September 2022 / 10. Oktober 2022 gegen die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 14. September 2022 in der Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 6. Oktober 2022 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er tritt dem vorläufigen Rechtsschutzbegehren des Antragstellers unter Wiederholung und Vertiefung der Gründe des angefochtenen Bescheides entgegen und trägt im Hinblick auf die Antragsbegründung im Wesentlichen vor:
Die Genehmigung beziehe sich auf das Individuum E. aus dem Rudel "D.", der als schadensverursachender Wolf durch genetischen Nachweis identifiziert worden sei. Eine weitere Bestimmbarkeit dieses Wolfes anhand leicht erkennbarer äußerer Merkmale sei bislang nicht möglich gewesen. Daher lasse es die Nebenbestimmung Nr. 4 zu, eine Identifizierung des Tieres über einen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse vorzunehmen. Grundlage hierfür sei § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, der - wie die Gesetzesbegründung zeige - auch dann anwendbar sei, wenn eine Zuordnung zu einem bestimmten Tier möglich sei, sich aber eine sichere Identifizierung aufgrund fehlender äußerer Unterscheidungsmerkmale als schwierig erweise.
Die Maßgaben in den Nebenbestimmungen Nr. 6 für die Identifizierung eines zu entnehmenden Wolfes durch den definierten engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit den eingetretenen Rissereignissen entsprächen den Vorgaben des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG. Die Entnahme sei beschränkt auf Flächen, die in einem Abstand von bis zu 100m um Weiden, auf denen Rinder gehalten werden, liegen. Ausgehend vom Rissgeschehen im Territorium D. seien somit räumlich die Gemeinde D. sowie die Städte F. und M. betroffen. Durch die Definition des engen zeitlichen Zusammenhang sei sichergestellt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit das schadensverursachende Tier entnommen werde. Die Befristung der Genehmigung bzw. der Zeitpunkt, bis zu dem nach einer eventuellen Entnahme eines Tieres das Ausbleiben von Schäden abzuwarten sei, sei auf den 31.Dezember 2022 festgelegt worden. Innerhalb dieses Zeitraumes sei es unwahrscheinlich, dass versehentlich ein rudelfremder Wolf entnommen werde.
Die Kritik an der Alternativprüfung bzw. der Schadensprognose sei unberechtigt. Der Wolf GW2888m habe bei mehreren Nutztierrissen in zunächst in zwei Fällen in nachweislich selbstschutzfähigen Tierherden vielfach Schäden verursacht. Ferner sei dem Wolfsindividuum E. nach der inzwischen vorliegenden Auswertung der genetischen Analyse auch der Nutztierriss NTS2013 zuzuordnen. Bei Rindern und Pferden sei in der RSpr. des OVG Lüneburg anerkannt, dass sie wehrhaft gegenüber Wölfen seien und besondere wolfsabweisende Herdenschutzmaßnahmen nicht in Betracht kämen. Auch ein ernsthafter Schaden könne mit hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden, da das Individuum E. mehrfach selbstschutzbefähigten Rinderherden angegriffen habe. Von daher könne davon ausgegangen werde, dass sich dieser Wolf auf das Erbeuten großer Huftiere spezialisiert habe und diese Jagdtechnik an andere Rudelmitglieder weitergebe, was dadurch bestätigt werde, dass bei der Auswertung der Nutztierrisse auch genetisches Material anderer Wölfe aufgefunden worden sei. Auch das aktuelle Rissgeschehen in der Region mit vier weiteren Übergriffen auf Jungrinder bestätigten diesen Befund.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsvorgänge, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, verwiesen.
II.
Der vorläufige Rechtsschutzantrag des Antragstellers ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches des Antragstellers vom 21. September 2022 / 10. Oktober 2022 gegen die mit Bescheid vom 14. September 2022 (in der Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 6. Oktober 2022) vom Antragsgegner verfügte Ausnahmegenehmigung gerichtet.
Dieser Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt. VwGO statthaft, weil der Antragsgegner die sofortige Vollziehung der Verfügung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet hat. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist der Antragsteller als eine nach § 3 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigung (vgl. Anerkennungsbescheid des Umweltbundesamtes vom 25. Januar 2018) gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG antragsbefugt (vgl. ausführlich OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris).
Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in dem streitgegenständlichen Bescheid des Antragsgegners ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, weil die entsprechenden Ausführungen des Antragsgegners den Anforderungen, die sich aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO für die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ergeben, genügen.
In materiell-rechtlicher Hinsicht erfordert die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass sein Rechtsbehelf offensichtlich keinen Erfolg haben wird. Dagegen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 4 ME 231/21 -, juris).
Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung weder die Rechtmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren aber erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall, dass es zunächst bei der vorläufigen Vollziehung des Verwaltungsaktes bleibt, sein Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren dann jedoch Erfolg hat, gegenüber zu stellen sind (siehe zu den Einzelheiten W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 80 Rn.152 f.).
Ausgehend von diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, weil sich die angefochtene Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 14. September 2022 in der Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 6. Oktober 2022 bei summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtswidrig erweist.
Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Ausnahmegenehmigung sind die §§ 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1, 45a Abs. 2 BNatSchG.
Gemäß § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG kann die nach Landesrecht für Naturschutz und Landschaftspflege zuständige Behörde u.a. von dem artenschutzrechtlichen Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, unter das als streng geschützte Art auch der Wolf fällt, zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher Schäden im Einzelfall Ausnahmen zulassen. Diese Regelung bezieht sich auf einzelne, als schadensverursachend identifizierte Wolfsindividuen.
Der Antragsgegner hat die streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung in der Inhaltsbestimmung unter Ziffer 1 zwar auf das - schadensverursachende - Wolfsindividuum E. bezogen, zugleich aber unter der Bestimmung in Ziffer 4 gestattet, dass eine Identifizierung des Wolfsindividuum E. über den engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse erfolgen kann, solange das Wolfsindividuum E. nicht anhand besonderer leicht erkennbarer äußerer Merkmale (etwa eine besondere Fellzeichnung) identifiziert werden kann.
Gestützt hat der Antragsgegner diese Inhalts-/Nebenbestimmungen auf die Regelung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, wonach im Umgang mit dem Wolf § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG mit der Maßgabe gilt, dass, wenn Schäden bei Nutztierrissen keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind, der Abschuss von einzelnen Mitgliedern des Wolfsrudels in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen auch ohne Zuordnung der Schäden zu einem bestimmten Einzeltier bis zum Ausbleiben von Schäden fortgeführt werden darf. Der Antragsgegner hat insoweit auf die amtliche Begründung des zugrunde liegenden Gesetzentwurfs verwiesen, wonach die Regelung auch den Fall erfassen soll, dass einem oder mehreren Wölfen Nutztierrisse eindeutig genetisch zugeordnet werden können, sich eine gezielte Tötung aber schwierig gestaltet, weil der jeweilige Wolf wegen des Fehlens besonderer, leicht erkennbarer äußerer Merkmale (zum Beispiel eine besondere Fellzeichnung) nicht in der Landschaft erkannt und von anderen Wolfsindividuen unterschieden werden könne.
Der Anwendungsbereich des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG ist in der Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt.
Das VG Lüneburg geht unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift davon aus, dass § 45a Abs. 2 BNatSchG nur den Fall regelt, dass bereits eingetretene Rissereignisse einem bestimmten einzelnen Wolf nicht zugeordnet werden können (VG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juni 2020 - 2 B 56/20 - V.n.b.).
Das OVG Lüneburg hat in der Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss des VG Lüneburg (OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris) letztlich offengelassen, ob dieser Auffassung zu folgen ist. Es hat allerdings unter Hinweis auf die - vorstehend dargestellte - amtliche Begründung des zugrundeliegenden Gesetzentwurfs sowie unter Hinweis auf eine im Wege der Auslegung grundsätzlich mögliche Überwindung des Wortlautes der Vorschrift zu erkennen gegeben, dass es eine entsprechende erweiternde Auslegung der Regelung für möglich hält.
Nach Auffassung der Kammer sprechen neben dem klaren Wortlaut auch der systematische Zusammenhang sowie Sinn und Zweck der Norm allerdings gegen eine erweiternde Auslegung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG.
Die Vorschriften der §§ 44 und 45 BNatSchG dienen der Umsetzung der in Art. 12 ff FFH-Richtlinie geregelten Schutzvorschriften für streng geschützten Tierarten, zu denen auch der Wolf (Canis lupus) gehört. Vom artenschutzrechtlichen Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG kann nur in den gesetzlich geregelten Fällen, eine Ausnahme zugelassen werde. § 45 Abs. 7 BNatSchG ist dabei an den europarechtlichen Vorgaben aus Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie ergebenden Anforderungen an Ausnahmegenehmigungen im Einzelfall zu messen (vgl. Gläß/Brade, Aufsatz: "Feuer frei auf den Wolf", NuR 2021, S. 24).
Der EuGH hat mehrfach deutlich gemacht, dass er Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie als eng auszulegende Ausnahmevorschrift versteht, bei der die Beweislast für das Vorliegen der für jede Abweichung erforderlichen Voraussetzungen die Stelle trifft, die über sie entscheidet (EuGH, Urt. vom 14. 06 2007 - C 342/05, NuR 2007, 477 Rn. 25; EuGH, Urt. vom 10. Oktober 2019 - C 674/17, NuR 2019, 756 Rn. 36ff). Dementsprechend ist auch eine restriktive Auslegung der nationalen Regelung des § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG, geboten (vgl. auch Lau in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Auflage 2021, § 45a Rn. 5; BeckOK UmweltR/Gläß 60. Ed.1.10.2021, BNatSchG § 45a Rn. 14).
Ist damit schon die Regelung des § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG als Ausnahmevorschrift eng auszulegen, so gilt dies erst recht für hierzu ergangene und als Vollzugsregelung verstandene Vorschrift des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG. Jede erweiternde Auslegung dieser Vorschrift, sei es im Hinblick auf die Frage, ob auch Wölfe aus mehr als einem Rudel ohne Schadensnachweis entnommen werden können (vgl. zu dieser Konstellation den Beschluss der Kammer vom 22. März 2022 - 5 B 294/22 -, juris) oder - wie im vorliegenden Verfahren - im Hinblick auf die Frage der Identifizierbarkeit des als schadensverursachend nachgewiesenen Wolfes anhand leicht erkennbarer äußerer Merkmale, führt denknotwendig zu einer Aushöhlung der Ausnahmevorschrift des § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG, die sich ausschließlich auf einzelne, als schadensverursachend identifizierte Wolfsindividuen bezieht.
Damit spricht bei summarischer Prüfung bereits Überwiegendes dafür, dass § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG auf die hier vorliegende Fallkonstellation von vorn herein nicht anwendbar ist.
Sofern man gleichwohl eine derartige erweiternde Auslegung des Anwendungsbereiches des § 45a Abs. 2 BNatSchG für den hier vorliegenden Fall einer Ausnahmegenehmigung für die Tötung eines schadensverursachenden, aber nicht anhand leicht erkennbarer äußerer Merkmale individualisierbaren Wolfes für zulässig erachten wollte, so wäre die hier streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung dennoch voraussichtlich rechtswidrig.
Denn in diesem Fall wäre aufgrund der gebotenen restriktiven Auslegung und Anwendung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zu verlangen, dass nicht von vornherein auf den Versuch zur Feststellung des Erscheinungsbildes des durch genetischen Nachweis als schadensverursachend bestimmter Wolfes verzichtet wird. Vielmehr sind insoweit alle zumutbaren Mittel zur Feststellung des äußeren Erscheinungsbildes des Wolfes (Aufstellen von Kameras, Beobachtungen durch geeignete Personen etc.) auszuschöpfen und nachzuweisen (so ausdrücklich auch Gläß/Brade, aaO, NuR 2021, S. 25 zu den Anforderungen an die Identifizierung des schadensverursachenden Wolfes). Dass der Antragsgegner überhaupt irgendwelche Maßnahmen zur Feststellung hinsichtlich der Feststellung des Erscheinungsbildes des Wolfindividuum E. unternommen hätte, ist weder vorgetragen, noch in irgendeiner Weise aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlich.
Auf die weiteren zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfragen, insbesondere hinsichtlich der Selbstschutzfähigkeit von Rinderherden und der damit verbundenen Frage zumutbarer Schutzmaßnahmen sowie hinsichtlich der Nebenbestimmungen zum engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang kommt es nach alledem nicht entscheidungserheblich an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Ziffer 1.2 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen. Eine Halbierung des Streitwertes ist nicht vorzunehmen, da die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Hauptsache vorwegnimmt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 - 4 ME 116/20 -, juris).