Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 11.01.2023, Az.: 12 A 3284/21

Beiträge; Erwerbsunfähigkeit; Krankheit; Niederlassungserlaubnis; Rentenversicherung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
11.01.2023
Aktenzeichen
12 A 3284/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 10668
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0111.12A3284.21.00

Amtlicher Leitsatz

Für die nach den tatsächlichen Umständen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu beantwortende Frage, ob der Ausländer im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen kann, kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung daran gehindert ist, künftig (weitere) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für die private Altersvorsorge zu erbringen, sondern darauf, ob er dazu aufgrund der Erkrankung oder Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen ist (wie OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.01.2021 - 2 L 102/19 -, juris Rn. 45 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 26.11.2021 - 8 PA 138/21 -, V.n.b.).

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis.

Die am E. 1957 geborene Klägerin ist kosovarische Staatsangehörige. Sie reiste am 4. März 1979 zusammen mit ihrem 1950 geborenen und im Dezember 2020 verstorbenen Ehemann erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nach erfolgloser Asylantragstellung kehrte sie im Juli 1982 in das ehemalige Jugoslawien zurück. Vom 26. Oktober 1987 bis zum 22. August 1990 hielt sie sich erneut in der Bundesrepublik auf, bevor sie am 10. August 1992 zusammen mit ihrem Ehemann sowie drei Kindern letztmalig in das Bundesgebiet einreiste. In der Folgezeit stellte sie mehrere erfolglose Asylfolgeanträge und hielt sich gestattet bzw. geduldet im Bundesgebiet auf.

Mit Schreiben vom 15. Februar 2013 beantragte die Klägerin bei dem damals zuständigen Landkreis F. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Nachdem ihr das Gesundheitsamt des Landkreises unter dem 12. April 2013 bescheinigt hatte, dass sie aufgrund einer schwergradigen posttraumatischen Störung mit einer chronischen Angst- und depressiven Störung dauerhaft nicht reisefähig sei, erteilte der Landkreis F. ihr rückwirkend zum 21. Februar 2013 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Aufenthaltserlaubnis wurde seitdem fortlaufend verlängert.

Unter dem 6. Februar 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Mit Bescheid vom 9. März 2021 lehnte die Beklagte den Antrag nach vorheriger Anhörung der Klägerin ab. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, zwar sei die Klägerin seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Ausweislich des von ihr vorgelegten Pflegegutachtens vom 16. Mai 2017 sei sie zudem nicht zur Sicherung ihres Lebensunterhalts in der Lage, weshalb von diesem Erfordernis abgesehen werde. Nach den vorliegenden Rentenversicherungsauszügen habe sie jedoch nicht mindestens 60, sondern lediglich zwei Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet. Dass ihr Ehemann die Pflichtbeitragszeit erfüllt habe, habe sie nicht nachgewiesen. Weil ihr die Ausübung einer Beschäftigung und die damit verbundene Einzahlung in die Rentenversicherung nach ihrer letzten Einreise im Jahr 1992 zunächst möglich gewesen sei, sei von dem Erfordernis der Rentenbeitragspflicht auch nicht abzusehen. Darüber hinaus habe die Klägerin nicht nachgewiesen, dass sie über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache sowie über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfüge. Ein Absehen von diesen Erfordernissen komme aus den genannten Gründen ebenfalls nicht in Betracht.

Am 16. April 2021 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, von den Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis sei im Hinblick auf ihre Pflegedürftigkeit sowie auf den bei ihr festgestellten Pflegegrad 4 abzusehen. Für ein Absehen von dem Rentenbeitragserfordernis nach § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG sei es ausreichend, dass der Ausländer dieses Erfordernis gegenwärtig nicht erfüllen könne. Für einen Vergangenheitsbezug gebe der Wortlaut der Vorschrift nach den überzeugenden Ausführungen des Verwaltungsgericht Aachen in dessen Urteil vom 19. März 2014 (- 8 K 1398/12 -, juris) nichts her. Auch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz spreche in diesem Zusammenhang nur von Verhältnissen der Gegenwart. Das in der Kommentarliteratur vertretene Argument, eine rückschauende Betrachtung des bisherigen Erwerbslebens entspreche dem gesetzlichen Ziel, eine Zuwanderung in die Sozialsysteme zu verhindern, gehe in ihrem Fall ins Leere, da sie absehbar weiterhin erwerbsunfähig sein und daher in jedem Fall staatliche Sozialleistungen erhalten werde. Ausländern, die - wie sie - zur Volksgruppe der Roma und damit zu den Opfern des nationalsozialistischen Völkermords zählten, das Argument "Zuwanderung in die Sozialsysteme verhindern" entgegenzuhalten, sei zudem geschichtsvergessen. Hinzu komme, dass die Fixierung auf die Anwartschaftszeiten der Rentenversicherung bei Frauen, die mehrere Kinder großgezogen hätten, zu einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung führe. Unabhängig davon sei auch bei einer "vergangenheitsbezogenen Auslegung" zu klären, ob möglicherweise ihr Ehemann zu Lebzeiten 60 Monate Rentenanwartschaften erworben habe, und ob sie möglicherweise schon seit Jahren erkrankt sei und daher schon früher die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG erfüllt habe. Für Letzteres spreche, dass sie bereits seit dem 8. Dezember 2014 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis wegen einer permanenten Reiseunfähigkeit sei.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. März 2021 zu verpflichten, ihr eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie auf ihren Bescheid. Ergänzend trägt sie vor, ihrem Verwaltungsvorgang sei zu entnehmen, dass keine Rentenzahlungen an den Ehemann der Klägerin erfolgt seien und dieser die Wartezeit von fünf Jahren damit nicht erfüllt habe. Nachweise darüber, dass bei der Klägerin bereits zum Zeitpunkt ihrer letzten Einreise in das Bundesgebiet eine schwerwiegende Erkrankung bestanden habe, lägen nicht vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Sitzungsniederschrift vom 11. Januar 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die der Einzelrichter in Abwesenheit der ordnungsgemäß geladenen Klägerin verhandeln und entscheiden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 9. März 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis.

1. Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 26 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG kann einem Ausländer, der - wie die Klägerin - eine Aufenthaltserlaubnis nach dem fünften Abschnitt des Aufenthaltsgesetzes besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen; § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 AufenthG gilt entsprechend. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG setzt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis voraus, dass der Ausländer mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet hat oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens nachweist; berufliche Ausfallzeiten auf Grund von Kinderbetreuung oder häuslicher Pflege werden entsprechend angerechnet.

Diese Voraussetzung ist im Fall der Klägerin nicht erfüllt. Ihr Versicherungslauf in der gesetzlichen Rentenversicherung weist lediglich zwei Monate Pflichtbeitragszeit und 44 Monate Bezug von Arbeitslosengeld II (zu dessen fehlender Berücksichtigungsfähigkeit vgl. Bayer. VGH, Beschl. v. 07.12.2015 - 19 ZB 14.2293 -, juris Rn. 10; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.01.2021 - 2 L 102/19 -, juris Rn. 27 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.04.2021 - 3 M 30.21 -, juris Rn. 4 m.w.N.) auf. Zwar genügt es bei Ehegatten, die - wie die Klägerin bis zum Tod ihres Ehemannes - in ehelicher Lebensgemeinschaft leben, wenn das Rentenbeitragserfordernis durch einen Ehegatten erfüllt wird (§ 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Anhaltspunkte dafür, dass der Ehemann der Klägerin einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen ist, liegen jedoch nicht vor.

Soweit die Klägerin die Vereinbarkeit von § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG mit höherrangigem Recht in Zweifel zieht, hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht dazu in seinem die Beschwerde der Klägerin gegen den ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss des Einzelrichters zurückweisenden Beschluss vom 26. November 2021 (- 8 PA 138/21 -, V.n.b., Beschlussabdruck S. 4 f.) Folgendes ausgeführt:

"Die Beschwerde führt eine mittelbare Diskriminierung von Frauen an. Insbesondere Art. 3 Abs. 2 GG bietet Schutz gerade auch vor faktischen Benachteiligungen. Die Verfassungsnorm zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse von Frauen und Männern. Durch die Anfügung von Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG ist ausdrücklich klargestellt worden, dass sich das Gleichberechtigungsgebot auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Demnach ist es nicht entscheidend, dass eine Ungleichbehandlung unmittelbar und ausdrücklich an das Geschlecht anknüpft. Über eine solche unmittelbare Ungleichbehandlung hinaus haben verfassungsrechtlich insbesondere auch die faktisch unterschiedlichen Auswirkungen einer Regelung für Frauen und Männer Bedeutung. Solche durch eine überwiegende Aufteilung von familienbezogener und berufsbezogener Tätigkeit zwischen den Ehepartnern in Orientierung an überkommenen Rollenverteilungen verursachten faktischen Benachteiligungen können nur gerechtfertigt werden, wenn dafür hinreichend gewichtige Gründe bestehen (BVerfG, Urt. v. 26.5.2020 - 1 BvL 5/18 -, BVerfGE 153, 358, juris Rn. 68 f. m.w.N.).

Es ist bereits nicht offensichtlich, dass § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG unter den Bedingungen des gegenwärtigen Arbeitsmarktes eine faktische Benachteiligung von Frauen bewirkt. Denn die Vorschrift fordert keine Mindesthöhe der Rente, sondern - wenn keine private Altersvorsorge vorliegt - den Nachweis von 60 Beitragsmonaten. Eine insgesamt fünfjährige Beschäftigungszeit wird aber vielfach auch dann neben oder nach der Betreuung der Kinder erreicht werden, wenn diese, überkommenen Rollenverteilungen folgend, allein der Mutter zugewiesen worden ist. Das Klagevorbringen enthält keinen Tatsachenvortrag, der gerichtliche Ermittlungen zu dieser Frage nach sich ziehen müsste.

Des Weiteren werden etwaige nachteilige Folgen einer derartigen Zuweisung der Kindesbetreuung durch die gesetzliche Regelung ausreichend kompensiert. Diese trägt gerade der Möglichkeit Rechnung, dass eine Beitragsleistung aufgrund eigener Erwerbstätigkeit nur in geringem Umfang erfolgt ist, indem zum einen berufliche Ausfallzeiten auf Grund von Kinderbetreuung oder häuslicher Pflege entsprechend angerechnet werden (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) und es zum anderen genügt, wenn bei Ehegatten, die in ehelicher Lebensgemeinschaft leben, die Voraussetzungen durch einen Ehegatten erfüllt werden (§ 9 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Hierdurch bezweckt der Gesetzgeber, dass Unterbrechungen der Berufstätigkeit aufgrund der Wahrnehmung von Familienpflichten wie der Kindererziehung keine nachteiligen Auswirkungen haben (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 72; vgl. auch Marx, in: GK-AufenthG, § 9 Rn. 249, 253 (Aug. 2009))."

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an.

2. Von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist auch nicht abzusehen.

a) Die Ausnahme des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG greift nicht zugunsten der Klägerin ein.

Nach dieser Bestimmung wird unter anderem von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer diese aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen kann. Die zuletzt genannte Vorschrift regelt, dass von den in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG normierten Voraussetzungen abgesehen werden kann, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann. Zwar ist davon auszugehen, dass die Klägerin gegenwärtig erwerbsunfähig ist. Für die nach den tatsächlichen Umständen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu beantwortende Frage, ob der Ausländer im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG die Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen kann, kommt es aber nicht darauf an, ob der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung daran gehindert ist, künftig (weitere) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für die private Altersvorsorge zu erbringen, sondern darauf, ob er aufgrund der Erkrankung oder Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen ist, die erforderlichen 60 Monate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung oder Aufwendungen für eine vergleichbare private Altersvorsorge zu leisten (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.01.2021 - 2 L 102/19 -, juris Rn. 45 ff.; Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 6 f.; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 9 Rn. 97).

Nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG müssen die Rentenbeiträge oder anderweitigen Vorsorgeleistungen während des im Zeitpunkt der Entscheidung über die Niederlassungserlaubnis bereits zurückliegenden Aufenthalts erbracht werden ("erbracht hat"). In der Konsequenz greift § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nur dann ein, wenn eine Krankheit oder Behinderung die Ursache dafür war, dass die Voraussetzung während dieses zurückliegenden Aufenthalts nicht erfüllt wurde (Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 7). Die von der Klägerin angeführte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Aachen (Urt. v. 19.03.2014 - 8 K 1398/12 -, juris) bezieht sich nicht auf das Rentenbeitragserfordernis, sondern auf die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung (§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Soweit das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang (a.a.O., Rn. 45) argumentiert, aus der Formulierung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG im Präsens ("nicht erfüllen kann") werde deutlich, dass die gegenwärtige Situation entscheidend sei bzw. der Zeitpunkt, ab dem die Niederlassungserlaubnis erteilt werde, verfängt dieses Argument jedenfalls im Kontext des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht. Der Ausländer "kann" diese Voraussetzung (im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung) nicht erfüllen, wenn er nicht mindestens 60 Monate Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung "geleistet hat" oder Aufwendungen für einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens "nachweist" (vgl. Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 6). Dass es trotz der auf den zurückliegenden Aufenthalt bezogenen Formulierung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG für ein Absehen von dieser Erteilungsvoraussetzung ausreichen soll, dass der Ausländer gegenwärtig nicht dazu in der Lage ist, Rentenbeiträge oder anderweitige Vorsorgeleistungen zu erbringen, lässt sich § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG nicht entnehmen.

Gegen ein solches Verständnis spricht auch der Gesetzeszweck. Dieser besteht, wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 26. November 2021 überzeugend dargelegt hat, nicht - wie die Klägerin offenbar meint - allein darin, eine Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Falle altersbedingter oder anderweitiger Erwerbsunfähigkeit zu verhindern. Vielmehr bezweckt § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG auch sicherzustellen, dass die Niederlassungserlaubnis Ausländern erteilt wird, die aufgrund der Dauer ihres Aufenthalts und ihrer persönlichen Lebensumstände in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert sind. Der Gesetzgeber hat demnach den Aufbau einer grundlegenden Alterssicherung, insbesondere durch Erwerbstätigkeit, als Integrationsmerkmal angesehen (Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 7 f. unter Verweis auf BT-Drs. 15/420, S. 72, sowie auf Bayer. VGH, Beschl. v. 14.05.2009 - 19 ZB 09.785 -, juris Rn. 16). Das mit der Ausnahmeregelung des § 9 Abs. 2 Satz 3 und 6 AufenthG verfolgte Ziel, auch behinderten oder schwer kranken Ausländern eine Aufenthaltsverfestigung zu ermöglichen (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 72), wird durch eine solche Auslegung nicht verfehlt. Hat die Behinderung oder Erkrankung bereits zum Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet bestanden, ist von dem Erfordernis des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG abzusehen und dem Ausländer - sofern auch die weiteren Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen bzw. von ihnen abzusehen ist - eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen.

Gegenteiliges ergibt sich schließlich nicht aus Nr. 9.2.3 AVwV-AufenthG. Die Vorschrift wiederholt - worauf bereits das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 26. November 2021 (a.a.O., Beschlussabdruck S. 7) hingewiesen hat - lediglich den Gesetzestext. Eine Stellungnahme zur Auslegung der gesetzlichen Regelung lässt sich ihr nicht entnehmen.

Dass der Klägerin die Ausübung einer Beschäftigung und die damit verbundene Beitragsleistung zur gesetzlichen Rentenversicherung seit ihrer letzten Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 1992 wegen Krankheit oder Behinderung durchgehend unmöglich gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Soweit sie auf die ihr attestierte dauerhafte Reiseunfähigkeit verweist, betrifft dies - abgesehen davon, dass Reiseunfähigkeit nicht gleichbedeutend mit Erwerbsunfähigkeit ist (vgl. auch Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 5) - lediglich den Zeitraum ab 2013. Die weiteren im Verwaltungsvorgang der Beklagten befindlichen Atteste ergeben nicht, dass die Klägerin in der Vergangenheit wegen Krankheit an der Leistung von 60 Monaten Rentenbeiträgen oder der Erbringung vergleichbarer Vorsorgeleistungen gehindert gewesen ist. Die in den Bescheinigungen vom 1. Juli 1996, 1. November 2000, 17. November 2000, 31. Mai 2001 und 13. Januar 2002 aufgestellten Diagnosen "rezidivierende Wirbelsäulensyndrome", "hypotone Kreislaufdysregulation", "Migräneleiden" sowie "chronische obstruktive Bronchitis" rechtfertigen nicht den Schluss auf eine damalige Erwerbsunfähigkeit der Klägerin. Anhaltspunkte für eine solche Erwerbsunfähigkeit kann frühestens das Attest vom 6. Juli 2010 bieten, in dem neben einem Asthma bronchiale und Angaben zu einer "chr. Depression" sowie einer "psychovegetative[n] Störung mit funktionellen Organbeschwerden" eine reduzierte Kraftentwicklung bei Erschöpfungszustand mit Spannungskopfschmerzen sowie Migräne beschrieben wird; den diesbezüglichen Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (a.a.O., Beschlussabdruck S. 5 f.), denen die Klägerin nicht entgegengetreten ist, tritt der Einzelrichter bei.

b) Die Klägerin kann sich auch auf keine sonstige Ausnahmevorschrift berufen. Die Härteregelung des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG bezieht sich lediglich auf die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG. Eine allgemeine Härteklausel enthält § 9 Abs. 2 AufenthG nicht (vgl. Nds. OVG, a.a.O., Beschlussabdruck S. 8 unter Verweis auf Bayer. VGH, Beschl. v. 14.05.2009 - 19 ZB 09.785 -, juris Rn. 17). Vor diesem Hintergrund ist zugunsten der Klägerin auch nicht deshalb von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AufenthG abzusehen, weil die Klägerin zur Volksgruppe der Roma gehört. In welcher Weise Sonderregelungen für Nachfahren der Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermordes zu treffen sind, ist - worauf bereits das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hingewiesen hat (a.a.O., Beschlussabdruck S. 8) - durch den Gesetzgeber zu entscheiden. Im Übrigen setzt die Gesetzesbegründung auch für die Annahme einer besonderen Härte voraus, dass die betreffenden Ausländer alles unternommen haben, was ihnen möglich war, um die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 geforderten Kenntnisse zu erwerben (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 73).

3. Ob der Klägerin - wie die Beklagte meint - auch deshalb keine Niederlassungserlaubnis zu erteilen ist, weil sie die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 und 8 AufenthG nicht erfüllt, oder ob von diesen Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG abzusehen ist, bedarf nach alledem keiner Entscheidung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.