Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 05.01.2023, Az.: 12 B 230/23

Afghanistan; Reiseausweis für Ausländer; Unzumutbarkeit der Passbeschaffung; Unzumutbarkeit der Passerlangung für afghanische Staatsangehörige

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
05.01.2023
Aktenzeichen
12 B 230/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 10077
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0105.12B230.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im September 2021 besteht in der Bundesrepublik Deutschland kein funktionierendes afghanisches Konsularwesen mehr, bei welchem sich Staatsangehörige um die Neuausstellung afghanischer Nationalpässe bemühen könnten.

  2. 2.

    Solange eine Wiederaufnahme des afghanischen Konsularwesens nicht einmal im Raum steht, ist die Passbeschaffung regelmäßig unzumutbar (§ 5 Abs. 1 AufenthV).

  3. 3.

    Es ist ermessensfehlerhaft, einen Reiseausweis für Ausländer mit Hinblick auf die geschützte Passhoheit des Herkunftsstaates nur bei zwingender Notwendigkeit auszustellen, wenn diese Passhoheit faktisch von niemandem ausgeübt wird.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragssteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt einen vorläufigen Reiseausweis für Ausländer.

Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger persischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine Verwandten - Vater, Mutter, Bruder und Schwester - leben im Iran. Im Juli 2016 stellte er einen Asylantrag. Mit Urteil vom 19.4.2022 verpflichtete das erkennende Gericht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, für den Antragsteller ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen. Die Antragsgegnerin erteilte ihm am 19.7.2022 einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als Ausweisersatz.

Zum Zwecke des Verwandtenbesuchs versuchte der Antragsteller bei der Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan in Berlin einen Reisepass zu erlangen. Mit Schreiben vom 28.7.2022 teilte diese ihm mit, dass auf Grund des Machtwechsels in Afghanistan bis auf weiteres keine afghanischen Pässe und Personalausweise für in Deutschland lebende Afghanen ausgestellt werden könnten. Mit Schreiben vom 25.7.2022 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer. Unter dem 28.9.2022 teilte diese dem Antragsteller mit, dass die Beschaffung afghanischer Ausweisdokumente nicht dauerhaft unmöglich oder unzumutbar sei und die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer nur bei zwingender Notwendigkeit in Betracht käme. Aus diesem Grund könne der Ausweis nur bei konkreter Reiseabsicht ausgestellt werden. Mit Schreiben vom 2.11.2022 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur beabsichtigten Ablehnung des Antrags an.

Am 16.11.2022 buchte der Antragsteller einen Flug von B-Stadt nach Teheran über Istanbul für den Zeitraum vom 9.1.2023 bis zum 6.2.2023 zum Besuch seiner Eltern. Die Buchungsbestätigung übersandte der Antragsteller der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 18.11.2022.

Mit Bescheid vom 23.12.2022 lehnte die Antragsgegnerin die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer für den Antragsteller ab. Die Beschaffung eines afghanischen Passes sei nicht unzumutbar. Im Rahmen des eingeräumten Ermessens sei zu berücksichtigen, dass es nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sei, ohne konkreten Anlass Passersatzpapiere auszustellen, wenn der Heimatstaat keinen Nationalpass ausstelle, da dies einen schwerwiegenden Eingriff in die Passhoheit des anderen Staates darstelle. Ein solcher Eingriff komme nur bei zwingender Notwendigkeit in Betracht, was sich aus der niedersächsischen Erlasslage ergebe. Eine zwingende Notwendigkeit der Reise habe der Antragsteller nicht geltend gemacht. Weiterhin sei die Identität des Antragstellers nicht hinreichend geklärt. Auch im Hinblick auf die Missbrauchsgefahr, die dadurch entstehe, wenn Ausweisdokumente mit Personalien erstellt würden, die nur auf eigenen Angaben des Betroffenen beruhten, sei die Ausstellung eines Reiseausweises zurückhaltend zu handhaben. Eine Beeinträchtigung der Identifikationsfunktion im internationalen Reiseverkehr bedeute ein erhöhtes Risiko von Missbrauchsfällen und Straftaten.

Der Antragsteller hat gegen diesen Bescheid am 30.12.2022 Klage erhoben und den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er trägt vor, nach §§ 6, 5 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) einen Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer zu haben, weil die Beschaffung eines afghanischen Reisepasses unzumutbar und das Ermessen der Behörde auf Null reduziert sei. Handlungsmöglichkeiten zur Passbeschaffung seien nicht erkennbar. Die Reise in den Iran sei nicht willkürlich, da er nunmehr erstmals seit sechs Jahren Kontakt zu seiner Familie habe aufnehmen können.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, ihm einen vorläufigen Reiseausweis für Ausländer für den Zeitraum vom 08.01.2023 bis zum 08.02.2023 auszustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie verteidigt ihre ablehnende Entscheidung. Der Antragsteller habe schon keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ferner werde mit dem Eilantrag eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache begehrt. In der Sache verlange die niedersächsische Erlasslage, einen Reiseausweis für Ausländer nur bei "zwingender Notwendigkeit" zu erteilen, was hier nicht vorliege. Auch begründe die von § 4 Abs. 6 Satz 1 AufenthV vorgesehene Möglichkeit, den Reiseausweis bei ungeklärter Identität mit dem Hinweis "Personendaten beruhen auf eigenen Angaben" zu versehen, keine Ermessensreduzierung auf Null. Die angegriffene Entscheidung sei ermessensfehlerfrei ergangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

1.

Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg. Mit der begehrten einstweiligen Anordnung würde eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache eintreten.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Dazu muss der Antragsteller gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch).

Dem Wesen und Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Verwaltungsgericht in einem Eilverfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Betroffenen nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Zwar soll hier der im einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebte Reiseausweis nur auf beschränkte Zeit erteilt werden. Aber auch eine vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt dem jeweiligen Antragsteller die im Klageverfahren erstrebte Rechtsposition und stellt ihn vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. VG München, Beschl. v. 11.12.2019 - M 12 E 19.5537 -, juris Rn. 15; Beschl. v. 4.8.2021 - M 10 E 21.492 -, juris Rn. 24 f.; Schleswig-Holsteinisches VG, Beschl. v. 23.6.2022 - 11 B 63/22 -, juris Rn. 5; vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 24.10.2022 - 13 ME 249/22 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 13.9.2022 - 13 ME 150/22 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 29.7.2015 - 8 ME 33/15 -, juris Rn. 11). Ein solches Rechtsschutzziel kommt deshalb nur ausnahmsweise aus Gründen des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) in Betracht. Voraussetzung hierfür wäre, dass dem Antragsteller durch das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG, Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 17).

Hieran gemessen verlangt das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht ausnahmsweise die Vorwegnahme der Hauptsache. Der Antragsteller hat keine Gründe vorgetragen, aus denen ihm nicht mehr abwendbare Nachteile entstünden. Zwar ist nachvollziehbar, dass er seine Eltern und Geschwister nach der langjährigen Trennung besuchen möchte. Besondere Gründe, aus denen sich ein zwingender und nicht nachholbarer Anlass der Reise ergeben würde, hat er jedoch nicht vorgetragen. Eine alsbald geplante Reise rechtfertigt für sich nicht, ihn im Wege der einstweiligen Anordnung so zu stellen, als hätte er im Klageverfahren bereits (teilweise) obsiegt. Dies gilt auch mit Hinblick auf die bereits eingegangenen finanziellen Verpflichtungen. Der Antragsteller muss sich entgegenhalten lassen, die Reise gebucht zu haben, obwohl die Antragsgegnerin ihn vor einer voreiligen Buchung gewarnt und sie ihn zum Buchungszeitpunkt bereits zur beabsichtigten Ablehnung seines Antrags angehört hatte.

2.

Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der Antragsteller in der (Haupt-)Sache allerdings zumindest einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung seines Antrags auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer haben dürfte (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Nach summarischer Prüfung liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer vor (dazu unter a)) und ist die Ablehnung ermessensfehlerhaft erfolgt (dazu unter b)).

a)

Nach § 6 Satz 1 Nr. 1 AufenthV darf ein Reiseausweis für Ausländer im Inland nach Maßgabe des § 5 ausgestellt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Das ist hier der Fall, da der Antragsteller im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG ist. Die Ausstellung des Reiseausweises für Ausländer richtet sich darüber hinaus nach § 5 Abs. 1 AufenthV. Danach kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der darauffolgenden Absätze ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden.

Welche konkreten Anforderungen an das gerichtlich vollständig überprüfbare Vorliegen einer Unzumutbarkeit zu stellen sind, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist es im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passes durch seinen Heimatstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises erst dann in Betracht zieht, wenn diese Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind (Nds. OVG, Beschl. v. 24.10.2022 - 13 ME 249/22 -, juris Rn. 9; vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.2.1996 - 11 S 2744/95 -, juris Rn. 24; Nds. OVG, Beschl. v. 17.2.2005 - 11 PA 345/04 -, juris Rn. 14; Beschl. v. 7.6.2012 - 8 PA 65/12 -, juris Rn. 7; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 17.5.2016 - 18 A 951/15 -, juris Rn. 3).

Nach § 5 Abs. 2 AufenthV gilt es insbesondere als zumutbar, derart rechtzeitig vor Ablauf der Gültigkeit eines Passes oder Passersatzes bei den zuständigen Behörden im In- und Ausland die erforderlichen Anträge für die Neuerteilung oder Verlängerung zu stellen, dass mit der Neuerteilung oder Verlängerung innerhalb der Gültigkeitsdauer des bisherigen Passes oder Passersatzes gerechnet werden kann (Nr. 1), in der den Bestimmungen des deutschen Passrechts, insbesondere den §§ 6 und 15 des Passgesetzes in der jeweils geltenden Fassung, entsprechenden Weise an der Ausstellung oder Verlängerung mitzuwirken und die Behandlung eines Antrages durch die Behörden des Herkunftsstaates nach dem Recht des Herkunftsstaates zu dulden, sofern dies nicht zu einer unzumutbaren Härte führt (Nr. 2), die Wehrpflicht, sofern deren Erfüllung nicht aus zwingenden Gründen unzumutbar ist, und andere zumutbare staatsbürgerliche Pflichten zu erfüllen (Nr. 3) oder für die behördlichen Maßnahmen die vom Herkunftsstaat allgemein festgelegten Gebühren zu zahlen (Nr. 4).

Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses des Heimatstaates zu bemühen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die einen Ausnahmefall begründenden Umstände sind vom Ausländer darzulegen und nachzuweisen. Dabei ist bei den Anforderungen an den Nachweis zu differenzieren. Je gewichtiger die vom Ausländer plausibel vorgebrachten Umstände sind, desto geringer sind die Anforderungen an das Vorliegen einer daraus resultierenden Unzumutbarkeit (Nds. OVG, Beschl. v. 24.10.2022 - 13 ME 249/22 -, juris Rn. 11 m.w.N.).

Hiernach bestehen vorliegend hinreichend gewichtige Umstände, aus denen auf einen Ausnahmefall und damit auf eine Unzumutbarkeit der Beschaffung eines afghanischen Nationalpasses geschlossen werden kann.

Seit der Machtübernahme der Taliban im September 2021 besteht in der Bundesrepublik kein funktionierendes afghanisches Konsularwesen mehr, bei welchem sich der Antragsteller um die Ausstellung afghanischer Nationalpässe bemühen könnte. Ausweislich der im Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 8.3.2022 (Az. 63.23/12231-2/AFG-G/01-03-3) zitierten Verbalnote der afghanischen Botschaft in Berlin sowie der vom Antragsteller vorgelegten Bescheinigung der Botschaft vom 28.7.2022 ist es für afghanische Staatsangehörige, die nicht im Besitz eines verlängerungsfähigen afghanischen Passes sind, nicht möglich, Anträge für neue Pässe zu stellen. Gleiches ergibt sich aus einer im Internet abrufbaren Verbalnote der Botschaft vom 28.7.2022 (https://www.fluechtlingsrat-thr.de/sites/fluechtlingsrat/files/pdf/Afghanistan/2022 %2007%2023%20Botschaft%20Afghanistan%2C%20Verbalnote%20-%20zu%20Aus stellung%20P%C3%A4ssen%20und%20Tazkira.pdf, zuletzt abgerufen am 4.1.2023). Zu der dort genannten Personengruppe gehört auch der Antragsteller. Es ist nicht ersichtlich, auf welchem legalen Wege - zumutbar oder nicht zumutbar - er überhaupt einen afghanischen Pass erlangen könnte. Dass es sich beim Zusammenbruch des afghanischen Konsularwesens um einen temporären Zustand handelt, ist ebenfalls nicht erkennbar. Vielmehr bestehen derzeit keine Anzeichen dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland oder andere europäische Staaten beabsichtigen, das von den Taliban ausgerufene "Islamische Emirat Afghanistan" anzuerkennen. Der auf Bundesebene geschlossene Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP knüpft die "Anerkennung" der neuen afghanischen Regierung an "ihre Inklusivität und an die Bewahrung der Menschenrechte" (https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, S. 123, zuletzt abgerufen am 4.1.2023). Vor diesem Hintergrund sowie mit Blick auf die von der Taliban verfolgte gegensätzliche Politik, ist es gegenwärtig auch nicht zu erwarten, dass die Bundesregierung die derzeitigen Machthaber in Afghanistan anerkennen wird. Eine solche informelle Anerkennung wäre jedoch Voraussetzung dafür, dass im Namen dieses Staates in der Bundesrepublik Deutschland konsularische Aufgaben wahrgenommen werden könnten (vgl. instruktiv Clemens/Schmidt-Radefeldt, Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, WD 2 - 3010 - 070/21, S. 13 f.). Die Botschaft der Islamischen Republik Afghanistan kann hingegen aufgrund der aktuellen Machtverhältnisse auf nicht absehbare Zeit keine Konsularaufgaben wahrnehmen. Solange eine Wiederaufnahme des afghanischen Konsularwesens nicht einmal im Raum steht, ist die Passbeschaffung unzumutbar. Diese Einschätzung teilt auch das Bundesministerium des Innern und für Heimat in einer an die obersten Landesbehörden gerichteten E-Mail vom 2.9.2022 (https://nds-fluerat.org/wp-content/uploads/ 2022/09/2022_09_02_BMI_Afghanistan_Passbeschaffung_unmoeglich.pdf, zuletzt abgerufen am 5.1.2023).

b)

§ 5 Abs. 1 AufenthG stellt die Ausstellung des Reiseausweises für Ausländer in das pflichtgemäße Ermessen der Antragsgegnerin. Hinsichtlich des Prüfungsumfanges des Gerichtes bei Ermessensentscheidungen bestimmt § 114 Satz 1 VwGO, dass ein Verwaltungsakt dann rechtswidrig ist, wenn die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Gegenstand der gerichtlichen Prüfung ist somit nur, ob die Behörde ihr Ermessen erkannt und tatsächlich ausgeübt hat, ob sie von einem vollständig ermittelten und zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, ob die maßgeblichen und sachgerechten Ermessenserwägungen in die Abwägung eingestellt und zutreffend gewichtet worden sind und ob letztlich das Ergebnis dieser Abwägung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt.

Daran gemessen sind die im Bescheid zulässigerweise (wohl) hilfsweise angestellten Ermessenserwägungen (vgl. Wolff, in: NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, VwGO § 114 Rn. 118 ff.) mit mehreren Fehlern behaftet, die dem Antragsteller jedenfalls einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neubescheidung geben.

Soweit die Antragsgegnerin in ihre Ermessenserwägungen eingestellt hat, dass die afghanischen Auslandsvertretungen "lediglich aktuell" keine Nationalpässe ausstellten und die Passbeschaffung daher nicht "dauerhaft unmöglich oder unzumutbar" sei, beruht dies nach den o.g. Feststellungen auf einem nicht zutreffend bewerteten Sachverhalt. Zwar führt nicht jede kurzzeitige Unterbrechung des Konsularwesens zur Unzumutbarkeit der Passbeschaffung, die Antragsgegnerin kann den Antragsteller bei einem nunmehr über ein Jahr andauernden Stillstand der Passausgabe jedoch nicht darauf verweisen, eine mögliche Anerkennung der Taliban-Machthaber durch die Bundesregierung oder einen erneuten Regimewechsel abzuwarten.

Soweit die Antragsgegnerin ferner mit Verweis auf die niedersächsische Erlasslage und den durch die Erteilung eines Reiseausweises erfolgenden Eingriff in die Passhoheit des anderen Staates eine restriktive Erteilungspraxis rechtfertigt, nach der die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nur bei "zwingender Notwendigkeit" in Betracht komme, überschreitet dies die Grenze des ihr eingeräumten Ermessens. Im Falle Afghanistans besteht derzeit keine schützenswerte funktionsfähige Passhoheit. Das herrschende Taliban-Regime wird von der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt und die Exil-Regierung sieht sich außer Stande, ein funktionierendes Passwesen zu betreiben. Allein der Schutz einer abstrakten "Passhoheit" des Herkunftslandes, die von diesem selbst nicht mehr ausgeübt wird, vermag den mit der Versagung des Reiseausweises für Ausländer verbundenen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Betroffenen nicht zu rechtfertigen. Im Übrigen ist auch allgemein zweifelhaft, ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthV auf Ebene des Ermessens eine "zwingende Notwendigkeit" der Passausstellung verlangt werden kann. Zwar ist es zutreffend, dass grundsätzlich dem Herkunftsstaat das Recht zusteht, seinen Staatsangehörigen Pässe und andere Nationaldokumente auszustellen. Die Rechte und Interessen des Herkunftsstaates werden im System des § 5 AufenthV jedoch zum einen bereits durch die Regelversagungsgründe des § 5 Abs. 3 und 4 AufenthV gewahrt (Wittmann, in: Klaus/Wittmann, AufenthV, § 5 Rn. 41). Zum anderen schützt auch das Zumutbarkeitskriterium den Herkunftsstaat. Nur bei Herkunftsstaaten, die von ihren Staatsangehörigen unzumutbare Mitwirkungshandlungen verlangen und daher nicht gewillt oder in der Lage sind, ihre konsularischen Pflichten gegenüber den eigenen Staatsangehörigen nachtzukommen (so wörtlich Wittmann, in: Klaus/Wittmann, AufenthV, § 5 Rn. 42), kommt eine Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer überhaupt tatbestandlich in Betracht. Dieses restriktiv gehandhabte Kriterium dürfte ausreichend sein, um die Hoheitsrechte der Herkunftsstaaten zu schützen. Für diese Auffassung spricht auch Ziff. 3.3.1.8 der nach Art. 84 Abs. 2 GG für die Länder verbindlichen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009. Danach soll die Ausstellung des Reiseausweises für Ausländer im Allgemeinen nur versagt werden, wenn die Ausstellungsvoraussetzungen des § 5 AufenthV nicht erfüllt werden, wenn kein Ausstellungsgrund nach den §§ 6 und 7 gegeben ist, oder wenn öffentliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland der Ausstellung entgegenstehen.

Schließlich erweisen sich auch die Erwägungen der Antragsgegnerin zur Identitätsklärung als ermessensfehlerhaft. Zwar stellt die Frage, ob die Identität des Ausländers geklärt ist, grundsätzlich einen zulässigen Ermessengesichtspunkt bei der Entscheidung über die Erteilung eines Reiseausweises dar. Es entspricht einem öffentlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, bei substantiierten Zweifeln an der Identität des Betroffenen kein deutsches Personalpapier auszustellen. Gleichwohl hat die Antragsgegnerin sich ermessensfehlerhaft in ihrer Abwägung nicht mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 AufenthV einen Reiseausweis für Ausländer mit dem Hinweis auszustellen, dass die Personendaten auf den eigenen Angaben des Antragstellers beruhen.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG und orientiert sich an Nr. 8.4 und Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11). Da der Antragsteller nur eine auf einen kurzen Zeitraum beschränkte Vorwegnahme der Hauptsache begehrt hat, wird die Hälfte des für das Klageverfahren maßgeblichen Streitwertes angesetzt.

4.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist nicht begründet. Prozesskostenhilfe erhält gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Vorliegend bietet die Rechtsverfolgung aus den vorgenannten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten.