Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 05.12.2023, Az.: 9 B 4939/23

Abschussgenehmigung; Ausnahmegenehmigung; Einzäunung; enger räumlicher Zusammenhang; enger zeitlicher Zusammenhang; Herdenschutz; konkrete Gefahr; letale Entnahme; Nutztierrisse; Rissereignis; Schadensprognose; Wolf; Wolfsrudel; zumutbare Alternativen; Erfolgreicher Eilantrag gegen die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung für den Abschuss eines Wolfs und für die letale Entnahme weiterer Wölfe aus dem Wolfsrudel im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Rissereignissen

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
05.12.2023
Aktenzeichen
9 B 4939/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 44830
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1205.9B4939.23.00

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 03.10.2023 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 02.10.2023 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die dem Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte naturschutzrechtliche Genehmigung für den Abschuss eines Wolfs in der I..

Der Antragsteller ist eine gemäß Bescheid des Umweltbundesamtes vom 25.01.2018 nach § 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz (im Folgenden: UmwRG) anerkannte Umweltvereinigung, die sich nach § 2 ihrer Satzung für den Schutz der Wölfe in Deutschland sowie die Förderung des Tier- und Artenschutzes einsetzt, unter anderem durch Aufklärungs- und Hilfsmaßnahmen für die örtliche Bevölkerung und Förderung des Einsatzes wolfsfreundlicher Abwehrmaßnahmen zur Vermeidung von Schäden an Haustieren.

Nachdem es im Zeitraum Oktober 2021 bis September 2022 zu insgesamt 19 Rissereignissen im Großraum J. und den angrenzenden Landkreisen gekommen war, erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen mit Bescheid vom 06.10.2022 die Ausnahmegenehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme eines Individuums der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) aus der Natur der Gemeindegebiete J., K., L. und M. in der I., bezogen auf das Individuum N. und befristet bis zum 31.01.2023. Die Genehmigung sah eine Beschränkung auf Teile des Territoriums des sog. O. Rudels im Gemeindegebiet der Stadt J. sowie die angrenzenden Gemeinden K., L. und M. vor und war mit weiteren Nebenbestimmungen versehen. Ein hiergegen gerichteter Antrag einer Umweltvereinigung auf einstweiligen Rechtsschutz beim beschließenden Gericht hatte teilweise Erfolg. Mit Beschluss vom 30.01.2023 (9 B 707/23) stellte das beschließende Gericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der seinerzeitigen Antragstellerin gegen die in Ziffer 4 und 5 der damaligen Ausnahmegenehmigung geregelte Identifizierung des Individuums über den engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Rissereignissen wieder her und lehnte den Antrag im Übrigen ab.

Unter dem 27.01.2023, eingegangen am 30.01.2023, stellte der Beigeladene bei der Antragsgegnerin einen Antrag auf Verlängerung, hilfsweise Neuerteilung der mit Bescheid vom 06.10.2022 erteilten Ausnahmegenehmigung für das Individuum N..

Eine letale Entnahme des Wolfs N. aufgrund der Genehmigung vom 06.10.2022 fand nicht statt.

Im Zeitraum Oktober 2022 bis September 2023 kam es zu 11 weiteren Nutztierrissen, von denen im Rahmen von DNA-Analysen zwei Risse - ein Rissereignis am 25.10.2022 und eins am 14.01.2023 - dem Individuum N. zugeordnet werden konnten.

Mit Bescheid vom 02.10.2023 erteilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen (erneut) die Ausnahmegenehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme des zum O. Rudel zählenden Individuums N. der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) aus der Natur der Gemeindegebiete J., K., L. und M. in der I. (Ziffer 1). Nach Ziffer 2 der Ausnahmegenehmigung ist der Abschuss anderer Individuen des O. Rudels im engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu Rissereignissen in dem in Ziffer 1 genannten Gebiet bis zum Ausbleiben von Schäden zulässig, wobei ein enger räumlicher Zusammenhang bis zu einer Entfernung von 150 m zu dem Ort des Rissereignisses und ein enger zeitlicher Zusammenhang innerhalb von sieben Tagen seit einem Rissereignis besteht. Ziffer 3 der Genehmigung regelt die Durchführung der Entnahme durch Jagdausübungsberechtigte, Ziffer 4 die Verwendung von Nachtsichtgeräten und Nachtzieltechnik. Nach den in Ziffer 5 der Genehmigung geregelten Auflagen muss unter anderem nach jeder Entnahme eines Einzeltieres zwei Wochen abgewartet werden, ob im Revier des sog. O. Rudels die Nutztierrisse aufhören bzw. soweit möglich mittels genetischer Untersuchung ermittelt werden, ob tatsächlich N. entnommen wurde. In Ziffer 6 wurde die Genehmigung bis zum 29.02.2024 befristet und in Ziffer 7 die sofortige Vollziehung angeordnet. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin unter anderem an, dass die gemeldeten Wolfsrisse in der Region eine deutliche Konzentration im Großraum J. zeigten, sich insbesondere seit dem Frühjahr 2022 häuften und zu wirtschaftlichen Schäden geführt hätten. Überwiegend handele es sich um den Wolf N., welcher an den Rissen beteiligt gewesen sei. Aus einer im Bescheid enthaltenen Aufstellung ergibt sich, dass insgesamt 14 Fälle dem Wolf N. zugeordnet worden sind:

- am 14.01.2023, ein Schaf mit Schutzvorkehrungen

- am 25.10.2022, zwei Schafe ohne Schutzvorkehrungen,

- am 15.09.2022, drei Schafe mit Schutzvorkehrungen,

- am 05.09.2022, ein Schaf und eine Ziege mit Schutzvorkehrungen,

- am 02.09.2022, ein Pferd,

- am 25.08.2022, ein Schaf mit Schutzvorkehrungen,

- am 20.08.2022, vier Schafe mit Schutzvorkehrungen,

- am 14.07.2022, ein Schaf ohne Schutzvorkehrungen,

- am 20.03.2022, zwei Schafe ohne Schutzvorkehrungen,

- am 15.03.2022 zwei Schafe mit Schutzvorkehrungen,

- am 14.03.2022 ein Schaf mit Schutzvorkehrungen,

- am 03.03.2022, ein Schaf mit beeinträchtigten Schutzvorkehrungen,

- am 15.10.2021, zwei Schafe ohne Schutzvorkehrungen sowie

- am 01.10.2021, ein Rind.

Von weiteren 12 Rissvorfällen im Zeitraum August 2022 bis September 2023 hätten bislang zwar - bis auf einen Vorfall - alle Risse pauschal Wölfen, aber keinem individuellen Wolf zugeordnet werden können. In drei Fällen sei eine Individualisierung der Mischprobe nicht möglich gewesen, drei weitere Fälle (Zeitraum Juni bis September 2023) seien in Bearbeitung und in den übrigen Fällen sei die Bestimmung des Individuums nicht beauftragt worden. Auf der Grundlage dieser Nutztierrisse könne ein ernster wirtschaftlicher Schaden prognostiziert werden, nämlich für die bedrohten Interessen der Weidetierhalter. Durch die inzwischen mehrjährige Statistik zeige sich, dass das Rissgeschehen einem jahreszeitlichen Zyklus folge. Während des späten Frühjahrs und des frühen Sommers gingen die Nutztierrisse regelmäßig zurück. Das Rudel ziehe sich in dem Zeitraum offenbar in den Kernlebensraum zurück. Ab Spätsommer bis in den frühen Frühling stiegen die Nutztierrisse an. Die Schadensprognose müsse diese jahreszeitliche Varianz einbeziehen. Es gäbe auch keine zumutbaren Alternativen, weil der Wolf nicht vergrämt werden könne und es die Grenze des Zumutbaren überschreite, nicht nur für Schafe, Ziegen und Gatterwild, sondern auch für große Huftiere wie Pferde und Rinder aufwändige Herdenschutzmaßnahmen umzusetzen. Schließlich verschlechtere sich der Erhaltungszustand der Population nicht, da in Niedersachsen aktuell mindestens 48 Wolfsrudel lebten und die Entnahme einer oder mehrerer besonders problematischer Wölfe auch in dem konkreten Gebiet wegen des Vorkommens mehrerer reproduzierender Wolfsrudel ausgeglichen werden könne. Die Entnahme sei auf das räumliche Gebiet des Vorkommens des Rudels in und um J. beschränkt und zeitlich bis zum 29.02.2024 befristet.

Unter dem 03.10.2023 legte der Antragsteller Widerspruch gegen diesen Bescheid ein, über den noch nicht entschieden wurde.

Am 04.10.2023 hat der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs beim Verwaltungsgericht gestellt. Zur Begründung seines Eilantrags trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor, die Schadensprognose der Antragsgegnerin sei unzutreffend. Insbesondere drohe bereits kein kurzfristiger Schaden aufgrund einer plötzlichen Veränderung des Jagdverhaltens. Es bestehe mit einer Einzäunung eine zumutbare Alternative zur Tötung des betroffenen Wolfs. Zudem gehe die Antragsgegnerin zu Unrecht davon aus, dass sich Hausrinder und Hauspferde selbst verteidigen könnten und eine Einzäunung daher nicht erforderlich sei. Da sich die Antragsgegnerin nach Eingang des Antrages auf Erteilung bzw. Verlängerung der Ausnahmegenehmigung über acht Monate Zeit bis zur Erteilung der Genehmigung gelassen habe, sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht gerechtfertigt. Außerdem handele es sich bei dem Beigeladenen nicht um einen Landwirt und damit nicht um den richtigen Antragsteller für die Erteilung der Ausnahmegenehmigung.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 03.10.2023 gegen die Ausnahmegenehmigung der Antragsgegnerin vom 02.10.2023 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie wiederholt im Wesentlichen die Begründung aus der Ausnahmegenehmigung vom 02.10.2023. Ergänzend trägt sie vor, der im Januar 2023 gestellte Antrag auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung hätte aufgrund des Elterntierschutzes zum damaligen Zeitpunkt abgelehnt werden müssen, da in dem Zeitraum von März bis September dem Schutz zur Aufzucht der Welpen Rechnung zu tragen sei. Daher sei der Antrag mit Einverständnis des Beigeladenen ruhend gestellt worden. Mittlerweile sei ein weiterer Riss vom 06.10.2023 in K. bekannt geworden, die Untersuchungsergebnisse stünden aber noch aus. Hinsichtlich des Rissgeschehens vom 20.09.2023 habe der Verursacher - das Individuum P. - identifiziert und für das Rissgeschehen vom 04.09.2023 der Wolf allgemein als Verursacher ausgeschlossen werden können. Für das Rissgeschehen vom 29.06.2023 habe die verursachende Art nicht festgestellt werden können.

Der Beigeladene hält die Ausnahmegenehmigung ebenfalls für rechtmäßig und trägt vor, es bestünden keine materiell-rechtlichen Bedenken an der Antragsberechtigung für die erteilte Ausnahmegenehmigung. Einen Antrag hat der Beigeladene nicht gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

Der Antrag hat Erfolg.

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig, insbesondere statthaft. Der Widerspruch des Antragstellers hat keine aufschiebende Wirkung, da die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Abschussgenehmigung angeordnet hat. Der Antragsteller ist als nach § 3 UmwRG anerkannte Vereinigung auch antragsbefugt, da die Erteilung der angefochtenen Ausnahmegenehmigung vom Tötungsverbot zum Abschuss eines Wolfs, der zu den streng geschützten Arten nach § 7 Abs. 1 Nr. 14 lit. b BNatSchG gehört, eine Zulassungsentscheidung darstellt, auf die die umweltbezogenen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (vgl. hierzu nur OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.06.2020 - 4 ME 116/20 -, Rn. 11-14, juris).

Der Antrag ist begründet.

Zwar hat die Antragsgegnerin das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausnahmegenehmigung im Sinne von § 80 Abs. 3 VwGO in formeller Hinsicht ausreichend damit begründet, dass die besondere Gefahr des Eintritts ernster landwirtschaftlicher Schäden durch weitere Rissereignisse durch den Wolf N. ein schnelles Handeln erfordert. Ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, ist nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses. Vielmehr trifft das Gericht in der Sache eine eigene Abwägungsentscheidung.

Allerdings fällt die im Rahmen von § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zu Lasten der Antragsgegnerin aus.

Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i. V. m. § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO bedarf es einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten. Maßgeblich ist, ob das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs oder das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Genehmigung überwiegt. Für das Interesse des Antragstellers, einstweilen nicht dem Vollzug der behördlichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, sind die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache einzulegenden Rechtsbehelfs von besonderer Bedeutung. Ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel anzunehmen, wenn bereits die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass der Verwaltungsakt voraussichtlich Rechte des Antragstellers verletzt. Umgekehrt überwiegt bei voraussichtlicher Rechtmäßigkeit in der Regel das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der Genehmigung.

Gemessen an diesen Maßstäben überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Bei summarischer Prüfung erweist sich die Ausnahmegenehmigung als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen satzungsmäßigen Rechten.

Rechtsgrundlage für die angefochtene Abschussgenehmigung ist § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 Bundesnaturschutzgesetz (im Folgenden: BNatSchG). Nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG kann die für Naturschutz und Landschaftspflege zuständige Behörde von dem in § 44 geregelten Tötungsverbot, das auch für den streng geschützten Wolf gilt, im Einzelfall unter anderem Ausnahmen zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher oder sonstiger ernster wirtschaftlicher Schäden zulassen. Dabei ergibt sich aus der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, dass es nicht darauf ankommt, ob bereits ein erheblicher Schaden entstanden ist, sondern ob ein solcher Schaden droht, so dass eine Schadensprognose erforderlich ist (Beschl. v. 24.11.2020 - 4 ME 199/20 -, Rn. 11, juris; Beschl. v. 26.06.2020 - 4 ME 116/20 -, Rn. 24, juris, jeweils mit weiteren Nachweisen). In diesem Zusammenhang hat das OVG Lüneburg in seinem Beschluss vom 24.11.2020 (4 ME 199/20 - Rn. 17, juris m. w. N.) ausgeführt:

"In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass die Frage, welche Herdenschutzmaßnahmen zur Abwendung von Nutztierrissen geeignet und zumutbar sind, erst im Rahmen von § 45 Abs. 7 Satz 2 BNatSchG umfassend zu prüfen ist, der die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nur dann zulässt, wenn keine zumutbaren Alternativen bestehen (Senatsbeschl. v. 26.6.2020 - 4 ME 97/20 - u. - 4 ME 116/20 -). Im Rahmen der Gefahrenprognose kommt es nur darauf an, ob die Rissereignisse den Schluss zulassen, dass bei dem Wolf, dessen Tötung genehmigt wird, der Angriff auf die betroffenen Nutztiere als erlerntes und gefestigtes Jagdverhalten anzusehen ist. Dies verbietet es, Rissereignisse in die Schadensprognose einzubeziehen, bei denen die Weidetiere dem Wolf geradezu schutzlos ausgeliefert waren. In diesem Fall wäre nämlich nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Riss um ein Zufallsereignis handelt, bei der ein oder mehrere Wölfe, die ansonsten ein unauffälliges Jagdverhalten zeigen, lediglich eine leichte Gelegenheit zum Beutemachen ausgenutzt haben. Das spricht dafür, dass ein Rissereignis nur dann in die Gefahrenprognose einbezogen werden kann, wenn für die betroffenen Nutztiere ein Mindestmaß an wolfsabweisendem Schutz gegeben war."

Es ist somit eine Gefahrenprognose erforderlich, die ausgehend von bereits erfolgten Rissvorfällen die Einschätzung rechtfertigt, dass ein Wolf, bei dem das Überwinden von Schutzvorkehrungen zum erlernten und gefestigten Jagdverhalten gehört, bei ungehindertem Geschehensfortgang in naher Zukunft eine größere Zahl von Nutztieren reißen und dadurch erhebliche Eigentumsschäden verursachen wird (vgl. VG Oldenburg, Beschl. v. 22.03.2022 - 5 B 294/22 -, Rn. 44, juris).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend bei summarischer Prüfung aller Voraussicht nach nicht erfüllt. Anders als noch in der Entscheidung der Kammer vom 30.01.2023 betreffend die Abschussgenehmigung vom 06.10.2022 (9 B 707/23) rechtfertigen die dem Wolf N. zugeordneten Rissereignisse nicht mehr die Annahme, dass dieser Wolf auch in naher Zukunft regelmäßig Nutztiere reißen und den betreffenden Weidetierhaltern erhebliche Eigentumsschäden zufügen wird.

Seit dem Erlass der Ausnahmegenehmigung vom 06.10.2022 konnten lediglich zwei Rissvorfälle dem Individuum N. zugeordnet werden. Bei einem der beiden Rissvorfälle, nämlich am 25.10.2022, war laut der in der Ausnahmegenehmigung enthaltenen Risstabelle der "Mindestschutz" nicht gegeben. Wie sich dieser "Mindestschutz" definiert, ist in der Ausnahmegenehmigung nicht angegeben. Auch enthält die Ausnahmegenehmigung keine Angaben zu der Art und Weise der konkreten Einzäunung der jeweils gerissenen Tiere. Allerdings lassen sich diese Informationen der tabellarischen Übersicht auf S. 9-11 des Verwaltungsvorgangs entnehmen. Unabhängig davon liegt zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausnahmegenehmigung lediglich ein zuletzt am 14.01.2023 erfolgter Nutztierriss vor. Der Zeitraum zwischen dem Rissereignis und dem Erlass der Ausnahmegenehmigung beträgt achteinhalb Monate. Auch in den letzten Monaten vor dem Rissereignis vom 14.01.2023 lässt sich lediglich der Riss vom 25.10.2022 dem Wolf N. zuordnen. Andere Rissereignisse durch das betroffene Wolfsindividuum im Oktober, November oder Dezember 2022 waren nicht zu verzeichnen. Auch wenn aufgrund der in den Jahren 2021 und 2022 dem Wolf N. zugeordneten Rissereignisse der Angriff auf Nutztiere bei diesem Individuum als erlerntes Jagdverhalten anzusehen ist und es ihm am 14.01.2023 gelungen ist, einen 100-105 cm hohen Elektrozaun zu überwinden (vgl. Tabelle auf S. 9 des Verwaltungsvorgangs), so kann daraus aufgrund der seit dem 14.01.2023 ausgebliebenen bzw. ihm nicht zuzuordnenden Nutztierrisse nicht gefolgert werden, dass der Wolf dieses Jagdverhalten verfestigt hat und in absehbarer Zeit durch das betroffene Wolfsindividuum weitere Nutztierrisse drohen. Es ist zum Entscheidungszeitpunkt auch nicht ersichtlich oder vorgetragen, dass seit dem Erlass der Ausnahmegenehmigung weitere Nutztierrisse dem Individuum N. zugeordnet werden konnten. Das Ausbleiben weiterer Nutztierrisse durch N. bzw. die fehlende Zuordnung von Rissen zu diesem Individuum spricht eher dafür, dass nicht gerissene Nutztiere, sondern Wildtiere die Hauptquelle der eigenen Ernährung und der Ernährung des Rudels bilden.

Auch die zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausnahmegenehmigung noch hinsichtlich des verursachenden Individuums in Bearbeitung befindlichen Rissvorfälle können für eine ausreichende Schadensprognose nicht herangezogen werden. Hinsichtlich des Vorfalls vom 29.06.2023 konnte die verursachende Art nicht festgestellt und bei einem weiteren Vorfall vom 04.09.2023 konnte der Wolf als verursachende Art sogar ausgeschlossen werden. Der Rissvorfall vom 20.09.2023 ist genetisch einem anderen als dem vorliegend betroffenen Individuum zugeordnet worden. Auch unter Berücksichtigung der noch ausstehenden Untersuchung des Rissereignisses vom 06.10.2023 lässt sich nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit prognostizieren, dass das betroffene Wolfsindividuum für diesen Vorfall mit hoher Wahrscheinlichkeit als Verursacher in Betracht kommt, da dessen Verursachung auch für sämtliche weitere Rissereignisse seit dem 14.01.2023 nicht positiv festgestellt werden konnte.

Die Argumentation der Antragsgegnerin, dass sich die Rissereignisse in einem jährlich wiederkehrenden Zeitraum von ca. September bis Februar häuften und im späten Frühjahr bzw. im frühen Sommer zurückgingen, da sich das Rudel während dieser Zeit offenbar in den Kernlebensraum zurückziehe, lässt sich anhand der verfügbaren Daten seit Herbst 2021 in dieser Form nicht nachvollziehen. So hat es zwischen September 2021 und Februar 2022 lediglich zwei Rissereignisse - am 01.10.2021 und 05.10.2021 - gegeben, wobei bei einem der beiden Ereignisse der erforderliche Grundschutz nicht vorlag. Danach lässt sich eine Häufung von Rissereignissen, auch mit erforderlichem Grundschutz, im März 2022 (vier Rissereignisse), ein Rissereignis im Juli 2022 (fehlender Grundschutz), zwei im August 2022 (mit Grundschutz) und nachfolgend eine erneute Häufung im September 2022 (drei Rissereignisse mit Grundschutz bzw. Grundschutz nicht erforderlich) feststellen. Eine klare jahreszeitliche Schwankung, aufgrund derer ähnliche zeitliche Muster von Rissereignissen auch in naher Zukunft wieder zu erwarten wären, lässt sich dem nicht entnehmen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die entsprechenden Daten lediglich einen Zeitraum von ca. 24 Monaten umfassen. Ob sich aus den innerhalb von zwei Jahren erfassten Daten bereits tragfähige und repräsentative, für die Zukunft gültige jahreszeitliche Schwankungen prognostizieren lassen, ist zweifelhaft. Die einzigen Monate, in denen es in den letzten zwei Jahren keine dem Wolf N. zugeordneten Rissereignisse gegeben hat, sind April, Mai und Juni.

Unabhängig davon liegt - bei summarischer Prüfung - mit der Möglichkeit einer wolfsabweisenden Einzäunung auch eine zumutbare Alternative zur Tötung vor. Innerhalb der letzten 12 Monate vor dem Erlass der streitgegenständlichen Ausnahmegenehmigung konnten dem Wolf N. lediglich zwei Rissereignisse zugeordnet werden. Bei einem der beiden Rissereignisse war der - in der Ausnahmegenehmigung nicht näher definierte - Mindestschutz nicht gegeben. In einer im Verwaltungsvorgang enthaltenen Tabelle mit einer Übersicht der Nutztierschäden bis zum 29.06.2023, in der auch die jeweilige Einzäunung der vom Rissereignis betroffenen Tiere angegeben ist, heißt es für das Rissereignis vom 25.10.2022:

"130cm Knotengeflecht + Stromlitzen innen? Höhe unbekannt, z. T. Stromlitze oberhalb, nicht überall (...), untergraben, min. 40 cm tiefes Loch"

Diese, wenngleich nicht ganz klare Beschreibung lässt jedenfalls erkennen, dass ein wirksamer Herdenschutz bei einem 40cm tiefen Loch im/am/unter dem Zaun nicht gegeben war. Auch wenn es dem Wolf am 14.01.2023 gelungen ist, einen 100-105 cm hohen Elektrozaun zu überwinden, kann daraus nicht geschlossen werden, dass derartige Herdenschutzzäune bei dem Wolf N. generell keinen Schutz mehr bieten, da in der Folgezeit keine weiteren Risse durch N. erfolgt bzw. diesem nicht zugeordnet worden sind. Auch bei den weiteren Rissereignissen aus dem Jahr 2023, die mangels Beauftragung einer DNA-Analyse keinem Wolfsindividuum zugeordnet werden konnten, war ein Mindestschutz nicht vorhanden. Solange die gebotenen Maßnahmen zum Herdenschutz nicht getroffen werden, kann die Kammer nicht feststellen, dass die Tötung des Wolfsindividuums N. zur Vermeidung ernster wirtschaftlicher Schäden bei Nutztierhaltern erforderlich wäre.

Auch die Voraussetzungen für den Abschuss anderer Individuen des O. Rudels im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang nach Ziffer 2 der Ausnahmegenehmigung liegen bei summarischer Prüfung nicht vor. Nach § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, der der Regelung in Ziffer 2 zugrunde liegt, gilt die Ausnahmemöglichkeit nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG mit der Maßgabe, dass der Abschuss von einzelnen Mitgliedern des Wolfsrudels in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen auch ohne Zuordnung der Schäden zu einem bestimmten Einzeltier bis zum Ausbleiben von Schäden fortgeführt werden darf, wenn Schäden bei Nutztierrissen keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind nicht erfüllt. Die innerhalb der letzten 12 Monate vor dem Erlass der Ausnahmegenehmigung vom 02.10.2023 registrierten Nutztierrisse konnten nicht etwa - wie von § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG gefordert - einem Wolfsrudel, aber keinem bestimmten Wolf dieses Rudels zugeordnet werden. Vielmehr sind teilweise DNA-Analysen gar nicht erst in Auftrag gegeben worden. In anderen Fällen konnte der Wolf als die schadensverursachende Art nicht festgestellt bzw. sogar ausgeschlossen werden. In einem weiteren Fall wurde der Riss einem konkreten weiblichen Wolfsindividuum zugeordnet. Lediglich bei einem Rissereignis aus dem Jahr 2022, bei dem zwei Rinder betroffen waren, war eine Individualisierung wegen einer Mischprobe nicht möglich. Auch soweit die Antragsgegnerin vorträgt, bei den Wolfsindividuen, denen die Risse vom 19.09.2022 und 29.09.2022 zugeordnet worden sind, handele es sich um Nachkommen des Wolfs N., erfüllt dies nicht die Voraussetzungen des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, da diese Vorschrift gerade die fehlende Zuordnung des Rissereignisses zu bestimmten Wolfsindividuen fordert. Darüber hinaus ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG weder vorgetragen noch ersichtlich, dass innerhalb der letzten 12 Monate vor dem Erlass der Ausnahmegenehmigung - bzw. nach den Rissereignissen vom 19.09.2022 und 29.09.2022 - Rissereignisse anderen Mitgliedern des O. Rudels, dem auch das Individuum N. angehört, zugeordnet werden konnten.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht auf der Grundlage des Beschlusses der Umweltministerkonferenz vom 01.12.2023 zur geplanten Ausweisung von sog. Abschuss-Gebieten und der anschließenden Möglichkeit, nach einem Rissereignis 21 Tage lang im Umkreis von 1.000 m Abschüsse vorzunehmen, da es sich dabei noch nicht um geltendes Recht handelt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nicht nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil sich der Beigeladene mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko im Sinne des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat und er selbst im Falle einer Antragstellung als Inhaber der Ausnahmegenehmigung "im Lager" der unterliegenden Antragsgegnerin stehen würde.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 1 GKG in Anlehnung an Ziffer 1.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach Ziff. 1.5 des Streitwertkataloges ist dieser Betrag in Fällen des vorläufigen Rechtsschutzes, wie hier, um die Hälfte zu reduzieren. Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor, da mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nur eine vorläufige Regelung getroffen wird.