Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 20.01.2023, Az.: 12 B 4654/22
Änderung der Wohnsitzauflage; Ausbildung zum Pflegefachmann; Dauerverwaltungsakt; Duldung; Ermessensfehler; Erwerbstätigkeitsverbot; Gesamtverantwortung der Pflegeschule; gewöhnlicher Aufenthalt; humanitäre Gründe; Passivlegitimation; Pflegeberufegesetz; schulische Ausbildung; Wohnsitzauflage; Zuständigkeit der Ausländerbehörde
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 20.01.2023
- Aktenzeichen
- 12 B 4654/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 10670
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2023:0120.12B4654.22.00
Rechtsgrundlagen
- VwGO § 123 Abs. 1
- PflBG § 19
- VwVfG § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst a)
- AufenthG § 60b Abs. 5 Satz 3
- AufenthG § 61 Abs. 1d
- AufenthG § 61 Abs. 1d Satz 3
- AufenthG § 71 Abs. 1
Amtlicher Leitsatz
Soweit einer Behörde wie ausnahmsweise in § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG gesetzlich normiert die Möglichkeit eröffnet ist, durch eigene Entscheidung eine Zuständigkeit abzugeben, setzt der Übergang der Zuständigkeit schon wegen des Grundsatzes der Rechtmäßigkeit der Verwaltung zwingend voraus, dass die Entscheidung rechtmäßig erfolgt. Mit einem rechtswidrigen Verwaltungsakt der wie vorliegend nicht bestandskräftig geworden ist kann sich eine Ausländerbehörde ihrer Zuständigkeit nicht entledigen. Bei der Ausbildung zum Pflegefachmann handelt es sich um eine schulische Ausbildung, die keine Erwerbstätigkeit darstellt, welche dem Inhaber einer Duldung mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" nicht erlaubt ist.
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zum 31.03.2023 eine Duldung mit einer Wohnsitzauflage für die Stadt A-Stadt zu erteilen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers,
ihm weiterhin eine Duldung zu erteilen und sich als ausländerrechtlich zuständig für ihn zu erklären und es ihm zu ermöglichen, seine Ausbildung zum Krankenpfleger in Bad Nenndorf abzuschließen,
ist wie aus dem Tenor ersichtlich auszulegen.
Allein diese Auslegung erweist sich als sachdienlich, da der Antragsteller derzeit in A-Stadt wohnt und bis zum 31.03.2023 eine Ausbildung macht und der Antragsgegner der von ihm unter dem 31.08.2022 ausgestellten Bescheinigung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) eine Wohnsitzauflage für die Beigeladene beigefügt hatte. Die Erteilung einer Duldung ohne die Verfügung einer Wohnsitzauflage kommt als Rechtsschutzziel nicht in Betracht, da der Antragsteller als Person mit ungeklärter Identität gemäß § 60b Abs. 5 Satz 3 AufenthG zwingend einer Wohnsitzauflage unterliegt.
Der Antrag ist auch in Bezug auf die Wohnsitzauflage zulässig, da die - zeitgleich mit dem vorläufigen Rechtsschutzantrag - vom Antragsteller am 27.10.2022 erhobene Klage, mit der er in der Hauptsache die Verpflichtung des Antragsgegners zur Änderung der Wohnsitzauflage verfolgt, fristgerecht erhoben worden ist. Bei der Wohnsitzauflage handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt (vgl. VG Münster, Beschl. vom 31.03.2014 - 8 L 711/13 -, juris Rn. 9), dem eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt war, so dass der Antragsteller ihn binnen eines Jahres angreifen konnte, § 58 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 VwGO.
Der so verstandene Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden nötig erscheint (sogenannte Regelungsanordnung). Dazu muss der Antragsteller gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch).
Die Eilbedürftigkeit der Entscheidung ist offensichtlich, da sich weder der Antragsgegner noch die Beigeladene derzeit als für den Antragsteller zuständig ansehen, weshalb der Antragsteller seit dem 01.10.2022 keine ausländerrechtliche Bescheinigung, mit der er sich ausweisen könnte, mehr besitzt.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch auf die Erteilung einer Duldung mit einer Wohnsitzauflage für die Stadt A-Stadt glaubhaft gemacht.
Der Antragsgegner ist passivlegitimiert, denn er ist die für die Duldungserteilung zuständige Ausländerbehörde im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG.
Örtlich zuständig ist in Angelegenheiten eines Ausländers gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) VwVfG, der gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG Anwendung findet, die Behörde, in deren Bezirk der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Für die Auslegung des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) VwVfG ist die Legaldefinition aus § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I heranzuziehen. Danach hat der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt, sondern vielmehr auf unabsehbare Zeit an diesem Ort lebt. Dies setzt eine aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse zu treffende Prognose voraus, wofür nicht allein der auf ein dauerhaftes Verweilen gerichtete, nach außen erkennbar dokumentierte innere Wille des Betroffenen genügt. Hinzukommen muss auch die Möglichkeit, auf unabsehbare Zeit an dem gewählten Ort bleiben zu können, weshalb bei der Prognose räumliche Beschränkungen des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet - namentlich Wohnsitzauflagen - maßgeblich zu berücksichtigen sind, da diese die Möglichkeit zum nicht nur vorübergehenden Verbleiben ausschließen können (vgl. OVG Bremen, Urt. vom 17.09.2020 - 2 B 148/20 -, juris Rn. 12; Nds. OVG, Beschl. vom 05.12.2017 - 13 ME 181/17 -, juris Rn. 28 - 29 unter Bezugnahme auf die Rspr. des BVerwG).
Danach hat der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt derzeit in A-Stadt. Dort wohnt er seit dem 15.09.2021 und ist er melderechtlich auch erfasst. Bis zum 22.06.2022 war er darüber hinaus auch im Besitz einer Duldung mit einer Wohnsitzauflage für A-Stadt, welche ihm am 12.04.2022 von der seinerzeit noch zuständigen Beigeladenen ausgestellt worden war. Mit der Erteilung dieser Wohnsitzauflage war es dem Antragsteller rechtlich ermöglicht worden, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach A-Stadt zu verlegen und dort seinen Wohnsitz zu nehmen (vgl. zur Möglichkeit der Wohnsitzverlegung Nds. OVG, Beschl. vom 09.09.2020 - 13 ME 226/20 -, juris Rn. 7; OVG Bremen, Urt. vom 17.09.2020 - 2 B 148/20 -, juris Rn. 16).
Aus dem gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers in A-Stadt, das im Landkreis des Antragsgegner liegt, resultierte ab dem 12.04.2022 die Zuständigkeit des Antragsgegners.
Die Zuständigkeit des Antragsgegners für den Antragsteller besteht auch weiterhin. Insbesondere ist diese nicht wieder auf die Beigeladene übergegangen.
Zwar hatte der Antragsgegner der dem Antragsteller zuletzt am 31.08.2022 erteilten Duldung wieder eine Wohnsitzauflage für die C. beigefügt. Der Antragsgegner konnte die Wohnsitzauflage auch ändern, denn er war zu dem Zeitpunkt der Änderung für den Antragsteller ausländerrechtlich zuständig und bedurfte für die Änderung der Auflage keiner Zustimmung der Beigeladenen als Behörde des Zuzugsortes (ganz überwiegende Auffassung in der Rspr., vgl. OVG Berlin, Beschl. vom 27.01.2021 - OVG 3 S 106/20 -, juris Rn. 7; Nds. OVG, Beschl. vom 09.09.2020 - 13 ME 226/20 -, juris Rn. 7; OVG Bremen, Urt. vom 17.09.2020 - 2 B 148/20 -, juris Rn. 17; OVG Schleswig, Beschl. vom 30.07.2020 - 4 MB 23/20, 4 O 20/20 -, juris Rn. 32; anders nur VG Trier, Beschl. vom 27.07.2022 - 11 L 1950/22.Tr -, juris).
Die Änderung der Wohnsitzauflage konnte einen Übergang der Zuständigkeit auf die Beigeladene jedoch nicht bewirken, da die Verfügung der Wohnsitzauflage rechtswidrig war. Soweit einer Behörde - wie ausnahmsweise in § 61 Abs. 1d) Satz 3 AufenthG gesetzlich normiert - die Möglichkeit eröffnet ist, durch eigene Entscheidung eine Zuständigkeit abzugeben, setzt der Übergang der Zuständigkeit schon wegen des Grundsatzes der Rechtmäßigkeit der Verwaltung zwingend voraus, dass die Entscheidung rechtmäßig erfolgt. Mit einem rechtswidrigen Verwaltungsakt kann sich eine Ausländerbehörde ihrer Zuständigkeit nicht entledigen. Die Entscheidung des Antragsgegners am 31.08.2022, die Wohnsitzauflage zu ändern, war jedoch ermessensfehlerhaft.
Nach § 60b Abs. 5 Satz 3 AufenthG unterliegt der Inhaber einer Duldung nach § 60b AufenthG - wie hier der Antragsteller - einer Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d) AufenthG. Nach Satz 1 des § 61 Abs. 1d) AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, dessen Lebensunterhalt nicht gesichert ist, verpflichtet, an einem bestimmten Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen (Wohnsitzauflage). Nach Satz 3 desselben Absatzes kann die Ausländerbehörde allerdings die Wohnsitzauflage von Amts wegen oder auf Antrag des Ausländers ändern; hierbei sind die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht zu berücksichtigen.
Der Antragsgegner hat von Amts wegen die Wohnsitzauflage für den Antragsteller geändert. Ausweislich des Anschreibens an den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bei Übersendung der Duldung vom 31.08.2022 hat er dabei auch Ermessen ausgeübt. Die Ausübung des Ermessens stellt sich allerdings als fehlerhaft dar.
Soweit der Antragsgegner ausgeführt hat, dass "aufgrund des vorliegenden Sachverhaltes und des weiterhin bestehenden sozialhilferechtlichen Bedarfs eine Wohnsitzauflage für das Gebiet der C. verfügt" worden sei, hat er nicht sämtliche relevanten Umstände in seine Ermessensentscheidung eingestellt.
Nach dem Willen des Gesetzgebers zählen zu den in § 61 Abs. 1d) Satz 3 AufenthG genannten humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht insbesondere erhebliche persönliche Gründe wie beispielsweise "konkret bestehende Ausbildungsmöglichkeiten" (BT-Drs. 18/3144 S. 13), weshalb der Antragsgegner in seiner Ermessensentscheidung die Ausbildung zum Pflegefachmann hätte berücksichtigen müssen, die der Antragsteller seit dem 01.04.2021 absolviert. Einer Berücksichtigung der Ausbildung stand auch nicht entgegen, dass nach § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG dem Inhaber einer Duldung mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" wie dem Antragsteller die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht erlaubt ist, da es sich bei der Ausbildung, die der Antragsteller absolviert, nicht um eine Erwerbstätigkeit handelt.
Zwar hat das erkennende Gericht in seinem Beschluss vom 10.08.2022 (12 B 2853/22) in dem vorangegangenen Verfahren derselben (Haupt-)Beteiligten noch die Auffassung vertreten, dass die Ausbildung des Antragstellers zum Pflegefachmann dem Erwerbstätigkeitsverbot unterfalle und dazu ausgeführt, dass unter der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsausbildung zu verstehen sei (so zum Begriff der Erwerbstätigkeit VG Bayreuth, Beschl. vom 11.05.2021 - B 6 E 21.407 -, juris Rn. 51; VG München, Beschl. vom 22.04.2020 - M 9 E 19.5879 -, juris Rn. 26). An dieser Auffassung hält das Gericht jedoch in Bezug auf die vom Antragsteller begonnene Ausbildung zum Pflegefachmann nicht länger fest. Eine Erwerbstätigkeit ist einschränkend nur bei solchen Berufsausbildungen anzunehmen, die tatsächlich in Betrieben der Wirtschaft durchgeführt werden und gemäß § 2 Abs. 1 BBiG als "betriebliche Berufsbildung" gelten. Demgegenüber handelt es sich nach der Konzeption des Gesetzes über die Pflegeberufe (Pflegeberufegesetz - PflBG -, in Kraft seit dem 01.01.2020) bei der Ausbildung zum Pflegefachmann um eine schulische Ausbildung, die keine Erwerbstätigkeit darstellt (a.A. VG Bayreuth, Beschl. vom 11.05.2021 - B 6 E 21.407 -, juris Rn. 61).
Die Ausbildung zum Pflegefachmann/zur Pflegefachfrau erfolgt sowohl in einer Pflegeschule als auch bei einem Träger der praktischen Ausbildung. Nach § 19 PflBG hat der Träger der praktischen Ausbildung der oder dem Auszubildenden auch für die gesamte Dauer der Ausbildung eine angemessene Ausbildungsvergütung zu zahlen. Die Ausbildung ist trotzdem als schulische Ausbildung anzusehen, da nach § 10 Abs. 1 PflBG die Pflegeschule die Gesamtverantwortung für die Koordination des Unterrichts mit der praktischen Ausbildung trägt. Nach § 10 Abs. 2 Satz 2 PflBG unterstützen die an der praktischen Ausbildung beteiligten Einrichtungen die Pflegeschule bei der Durchführung der von dieser zu leistenden Praxisbeteiligung.
Dass der Antragsteller einen Anspruch auf die Erteilung einer - weiteren - Duldung hat, stellt auch der Antragsgegner nicht in Frage. Ihm ist eine Duldung nach § 60b AufenthG - Duldung für Personen mit ungeklärter Identität - zu erteilen, da er offenbar zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nicht vornimmt. Der Antragsteller hatte früher einen Nationalpass seines Herkunftslandes Simbabwe, den er allerdings als verloren gemeldet hat, weshalb er nicht abgeschoben werden kann.
Der Antragsteller dürfte schließlich auch einen Anspruch auf die Erteilung einer Wohnsitzauflage für die Stadt A-Stadt haben. In die Ermessensentscheidung des Antragsgegners nach § 61 Abs. 1d) Satz 3 AufenthG ist neben dem Umstand, dass der Antragsteller eine Ausbildung zum Pflegefachmann macht, die nach dem Willen des Gesetzgebers als sonstiger humanitärer Grund zu berücksichtigen ist, auch einzustellen, dass die Ausbildung sich bereits ihrem Ende nähert und bei erfolgreicher Abschlussprüfung in gut zwei Monaten beendet sein wird. Das Ermessen des Antragsgegners dürfte sich - zumindest inzwischen - auf die vom Antragsteller im Klageverfahren begehrte Änderung der Wohnsitzauflage auf die Stadt A-Stadt verdichtet haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an Nr. 8.3 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da der Antragsteller bis heute weder das gemäß § 117 Abs. 4 ZPO notwendige Formular noch die nach § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlichen Belege seiner wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt hat.