Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 28.10.1997, Az.: 5 U 191/96

Darlegungslast und Beweislast im Arzthaftungsprozess; Ursächlichkeit des behaupteten Behandlungsfehlers für den Schadenseintritt; Voraussetzung für eine Beweislastumkehr bei groben Behandlungsfehlern; Anforderungen an die Annahme einer unzutreffenden Diagnoseerstellung; Behandlung einer Hodentorsion

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
28.10.1997
Aktenzeichen
5 U 191/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 21779
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1997:1028.5U191.96.0A

Fundstellen

  • OLGReport Gerichtsort 1998, 111-114
  • VersR 1999, 1284-1286 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Zum grob fehlerhaften ärztlichen Verhalten bei einer Hodentorsion

Gründe

1

Der Kläger trägt die Beweislast dafür, dass der behauptete Behandlungsfehler ursächlich für den Schadenseintritt war. (vgl. BGH NJW 1987,705,706 [BGH 24.06.1986 - VI ZR 21/85]; OLG Celle VersR 1988, 158 - ebenfalls eine Hodentorsion betreffend -). Diese Beweislast kehrt sich hier nicht aus dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers um. Ein grober Behandlungsfehler kann zu Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr führen (BGHZ 72,132,133) [BGH 15.06.1978 - VI ZR 183/76]. Ein solcher ist hier jedoch nicht festzustellen. Zwar haben die Beklagten zu 1), 3) und 4) bei der Behandlung eine im Nachhinein gesehen falsche Diagnose abgegeben, indem sie von einer Epididymitis ausgingen. Gegenüber dem Vorwurf unzu- treffender Diagnoseerstellung ist aber Zurückhaltung geboten (Senat Urteil vom 18.12.1990 -5 U 82/90 - VersR 1991,1141). Ein Diagnoseirrtum darf nur dann als ,grob" bezeichnet werden, wenn es sich um einen fundamentalen Diagnoseirrtum handelt (BGH VersR 1981,1033,1034; VersR 1988,293,294) [BGH 10.11.1987 - VI ZR 39/87]. Auch wenn der Senat es offen lässt, ob sich aus der im Nachhinein gesehen falschen Diagnose ein Behandlungsfehler ergibt, so schließt er gleichwohl einen groben Behandlungsfehler unter Berücksichtigung aller vorliegenden Gutachten auf Grund der konkreten Situation aus. Der erstinstanzliche Sachverständige Prof. Dr. R... hat einen Behandlungsfehler der Ärzte verneint. Er hat dazu u.a. ausgeführt, der sonographische Befund spreche eher für die Beeinträchtigung des Nebenhodens. Insgesamt weiche der Befund deutlich von den üblichen Befunden ab, so dass es nachvollziehbar sei, dass die behandelnden Ärzte von einer Freilegung des Hodens abgesehen hätten. Soweit sich Prof. Dr. R... dabei auf vorliegende Sonographiebilder gestützt hat, besteht kein Zweifel daran, dass die in den Krankenakten vorhandenen Sonographiebilder solche sind, die den Hoden des Klägers zeigen. Zwar sind keine Namen auf den Bildern angegeben, jedoch zeigen die Aufnahmen jeweils Bilder eines Hodens. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen anderen Patienten handelt. Vielmehr ist es so, dass sich ein Sonographiebild der urologischen Klinik mit Datum 26.8.1991 und Uhrzeit 15.28 Uhr in der Krankenakte befindet, während ein weiteres mit selbem Datum und Uhrzeit 15.29 Uhr Teil der von Dr. E... eingereichten Krankenunterlagen ist. Beide zeigen einen Hoden. Sie unterscheiden sich in der Beschriftung außer in der Uhrzeit im Textteil nur dadurch, dass beim Ersten ,Tief 50", beim Zweiten ,Tief 65" angegeben ist. Dies lässt den Schluss zu, dass diese beiden Sonographiebilder in zeitlichem Zusammenhang gefertigt wurden. Daraus folgt aber gleichfalls, dass beide Aufnahmen den Hoden desselben Patienten zeigen. Dabei handelt es sich um den Kläger, entsprechend der Angabe auf den Krankenakten des Krankenhauses und von Dr. E....Weiterhin ist Prof. Dr. R... der Auffassung, es bestehe kein Zweifel, dass im Fall einer Hodenfreilegung bei schwerer Nebenhodenentzündung das Risiko bestanden habe, den Hoden entfernen zu müssen. Es sei korrekt, dass man eine frische Nebenhodenentzündung freilegen könne, ohne große Schwierigkeiten für den Hoden zu befürchten. Im Falle des Klägers habe aber am 17./18.8.91 keine frische Nebenhodenentzündung vorgelegen, wenn man bedenke, dass erste Symptome am 7.8.1991 und schwer wiegende Symptome eindeutig am 12.8.1991 bestanden hatten und behandelt wurden. Man könne den betroffenen Ärzten keinen Vorwurf machen, weil sie in Anbetracht dieser besonderen Krankheitsvorgeschichte, der Vorbehandlung sowie des Tast- und Ultraschallbefundes des Hodens zu dem Schluss gekommen seien, dass viele Zeichen für eine Nebenhodenentzündung sprächen und es bei der Differentialdiagnose Hodentorsion für eine Rettung des Hodens zu spät gewesen wäre.

2

Zwar vertritt Prof. Dr. P... in dem vom Kläger vorgelegten Gutachten die Auffassung, dass dann, wenn bei der Annahme einer Epididymitis eine Hodentorsion durch andere Untersuchungen nicht ausgeschlossen werden könne, aus kinderurologisch-kinderchirurgischer Sicht eine Hodenfreilegung immer stattfinden müsse. Die Argumentation Prof. Dr. R..., dass bei der Annahme der Diagnose einer schweren Epididymitis durch eine Hodenfreilegung der Hoden existenziell gefährdet werde, sei irrelevant. Im Kindesalter habe eine Hodenfreilegung bei Vorliegen einer Epididymitis so gut wie niemals die Hodenentfernung zur Folge.

3

Auch Prof. Dr. P... bezeichnet aber die seitens der Beklagten zu 1), 3) und 4) erhobenen Befunde nicht als klassische Zeichen; er spricht vielmehr davon, die klinischen Zeichen begännen auch protahiert und stellten sich wechselhaft ein. Damit greift Prof. Dr. P... die Befundsituation als solche nicht an.

4

Zwar kann es grob fehlerhaft sein, wenn beim Verdacht auf eine Hodentorsion die Freilegung des Hodens unterlassen wird (dahingehend auch das Urteil des Senates vom 15.3.1994 - 5 U 152/93 -), hier liegen aber bereits am 17.8.1991 und erst recht an den Folgetagen so viele besondere Umstände vor, dass ein grobes Fehlverhalten der Beklagten zu 1), 3) und 4) auszuschließen ist. Der Kläger hatte am 17.8.1991 bereits seit fast 10 Tagen eine Schwellung des Hodens, eine Torsion war bereits in der Schweiz ausgeschlossen worden, er war seit dem 12.8.1991 in Behandlung des Facharztes Dr. E.... Von diesem wurde er medikamentös behandelt. Die Schwellung war zwischenzeitig rückläufig gewesen. Zwischendurch hatte der Kläger auch Fieber. Dies alles - also auch den Gedanken an eine Torsion - nahm der Beklagte zu 4) bei der Anamnese anlässlich der ersten Untersuchung auf, wie der Einlagebogen zum Krankenblatt belegt. Damit waren schon zwei Ärzte - davon ein Facharzt - vor der Krankenhausbehandlung nicht von einer Hodentorsion ausgegangen. Zudem handelte es sich, wie dargestellt, um einen untypischen Befund. Eine Beweislastumkehr könnte weiterhin in Betracht kommen, wenn - wie der Kläger behauptet - der Beklagte zu 1) am 19.8.1991 den Eltern des Klägers gegenüber erklärt hätte, auf Grund des Ultraschallbefundes sei eine Hodentorsion ausgeschlossen, es liege eine Nebenhodenentzündung vor. Dadurch könnte er in fehlerhafter Weise eine Klärung des Ursachenzusammenhangs durch die sonst beabsichtigte Operation verhindert haben. Eine Ultraschalluntersuchung mit dem B-Bild- Verfahren, wie sie in der Klinik der Beklagten zu 2) durchgeführt wurde, ist nach den Ausführungen von Prof. Dr. R... und Prof. Dr. P... keine Untersuchungsmethode, die zum Ausschluss einer Hodentorsion geeignet ist. Die Beweisaufnahme hat aber nicht ergeben, dass der Beklagte zu 1) sich gegenüber den Eltern des Klägers tatsächlich in dieser Weise geäußert hat.