Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.09.1997, Az.: XV 380/97 Ki
Voraussetzungen des Anspruchs auf Kindergeld; In der Bundesrepublik Deutschland lebendes ausländisches Kind; Vorliegen einer Aufenthaltsgenehmigung; "Wohnsitz" oder "gewöhnlicher Aufenthalt" im Inland
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 30.09.1997
- Aktenzeichen
- XV 380/97 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 16217
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1997:0930.XV380.97KI.0A
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs. 1 S. 3 EStG
- § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG
- § 8 AO
- § 62 Abs. 2 S. 1 EStG
Verfahrensgegenstand
Aufenthaltsgenehmigung eines ausländischen Kindes als Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld
Kindergeld
In dem Rechtsstreit
hat der XV. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 30. September 1997,
an der mitgewirkt haben:
Richter am Finanzgericht ... als Vorsitzender
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtliche Richter in ...
ehrenamtlicher Richter ...
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Das Arbeitsamt ... - Familienkasse - wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 4. März 1997 sowie des hierzu ergangenen Einspruchsbescheids vom 28. April 1997 verpflichtet, an den Kl. für das Kind ... ab Juli 1996 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Bekl ....
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
- 2.
Die Revision wird zugelassen.
- 3.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vollstreckbar. Dem Bekl ... wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an den Kl. zu erstattenden Kosten abzuwenden, sofern nicht der Kl. seinerseits Sicherheit leistet.
Tatbestand
Streitig ist, ob für ein in der Bundesrepublik Deutschland lebendes ausländisches Kind das Vorliegen einer Aufenthaltsgenehmigung Voraussetzung für die Gewährung von Kindergeld ist.
Im September 1996 stellte der Kl. und Kindesvater unter Vorlage einer Haushaltsbescheinigung einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für sein am 25. März 1996 in ... geborenes Kind .... Laut Meldebescheinigung des Einwohnermeldeamtes der Stadt ... ist ..., der die polnische Staatsangehörigkeit besitzt, seit dem 29. Juli 1996 mit alleiniger Wohnung im Haushalt des Kl. gemeldet. Mit Schreiben vom 2. Oktober 1996 teilte der Kl. mit, daß er mit der Mutter von ... - in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebe. Die Kindesmutter halte sich zur Zeit in Polen auf, da sie dort ihre Ausbildung ..., die noch ca. 18 Monate fortdauern werde - beende. Es erfolge jedoch ein regelmäßiger Besuch im Abstand von zwei Wochen. Auf Antrage des Arbeitsamtes ... - Familienkasse - machte der Landkreis ... - Ordnungsamt - unter dem 25. Februar 1997 folgende Mitteilung:
"Der angebliche Vater des Kindes ... wurde am 24.2.1997 aufgefordert, umgehend für die Abmeldung des Kindes zu sorgen und dieses zu seiner polnischen Mutter nach Polen zu bringen. Eine Aufenthaltsgenehmigung kann das Kind nicht erhalten." (Bl. 58 R der Kindergeldakte).
Daraufhin lehnte das beklagte Arbeitsamt ... - Familienkasse - mit Bescheid vom 4. März 1997 die Gewährung von Kindergeld für ... wegen fehlender Aufenthaltsgenehmigung des Kindes ab.
Den hiergegen eingelegten Einspruch wies es mit Einspruchsbescheid vom 28. April 1997 als unbegründet zurück. Kinder von Ausländern und Staatenlosen könnten einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Verbindung mit §§ 8, 9 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) nur begründen, wenn davon ausgegangen werden könne, daß einem Aufenthalt im Inland keine ausländerrechtlichen Hinderungsgründe entgegenstünden. Dies sei regelmäßig aber nur dann der Fall, wenn die Kinder eine Aufenthaltsgenehmigung besäßen. Nach der Mitteilung des Ausländeramtes beim Landkreis ... erfülle das Kind ... diese Voraussetzungen mit der Folge nicht, daß ein Kindergeldanspruch nicht gegeben sei.
Hiergegen wendet sich der Kl. mit seiner mit Schreiben vom 29. Mai 1997 form- und fristgerecht erhobenen Klage. Er ist der Auffassung, daß sein Kind ... seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gemäß § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG habe. Denn unabhängig von der Frage, ob sein Kind die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung erfülle, habe das Kind seinen tatsächlichen Aufenthalt im Einverständnis mit der Mutter bei ihm - dem Kl. - genommen. Es bestehe keine Verpflichtung für ihn, für eine polizeiliche Abmeldung des Kindes zu sorgen und es nach Polen zu verbringen. Vielmehr obliege es ihm, der das Kind in seinem Haushalt aufgenommen habe, gemäß § 1615 f. des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) den Unterhalt des Kindes sicherzustellen.
Im übrigen habe das Kind im Rahmen des Familienschutzes einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel. Das Recht der Eltern, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen und das Recht des Kindes, bei seinem Vater zu leben, ergebe sich auch aus Art. 6 Abs. 2, 3 und 5 des Grundgesetzes (GG).
Der Kl. beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 4. März 1997 sowie des hierzu ergangenen Einspruchsbescheids vom 28. April 1997 das Arbeitsamt ... - Familienkasse - zu verpflichten, an den Kl. für das Kind ... ab dem 29. Juli 1996 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen.
Das Arbeitsamt ... - Familienkasse - beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es verweist im wesentlichen auf seine Ausführungen im Einspruchsbescheid und darauf, daß Ihm keine Entscheidungskompetenz bezüglich der Feststellung des aufenthaltsrechtlichen Status eines Kindes zustehe. Das Arbeitsamt habe sich vielmehr insoweit an die Entscheidung der zuständigen Behörde - das Ausländeramt des Landkreises ... - zu halten.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen ihres weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakte sowie die Kindergeldakte des Kl. - ...- Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Klage ist zulässig und begründet.
Dem Kl. ist für seinen am 25. März 1996 geborenen Sohn ... Kindergeld zu gewähren.
1.
Denn für ... besteht ein Anspruch auf Kindergeld gemäß § 63 Abs. 1 EStG.
a)
Nach der Vorschrift des § 63 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zählen zu den im Rahmen der Gewährung von Kindergeld zu berücksichtigenden Kinder, die im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandten Kinder. Diese Voraussetzung ist vorliegend in der Person des Kl., der der leibliche Vater von ... ist erfüllt.
b)
Dieser Kindergeldanspruch ist im Streitfall auch nicht durch die Vorschrift des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG ausgeschlossen. Hiernach werden u.a. solche Kinder nicht berücksichtigt, die weder einen Wohnsitz noch Ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Die Frage, ob ein Kind seinen "Wohnsitz" oder "gewöhnlichen Aufenthalt" im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG im Inland hat, beurteilt sich nach Auffassung des Gerichts ausschließlich anhand der Begriffsbestimmungen der §§ 8 und 9 AO. Dabei setzt der Wohnsitzbegriff im Sinne des § 8 AO neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben einer Wohnung in dem Sinne voraus, daß tatsächlich über sie verfügt werden kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit - wenn auch in größeren Zeitabständen - aufgesucht wird. Soweit demgegenüber die Arbeitsverwaltung die Auffassung vertritt, daß Kinder von Ausländern einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nur begründen können, wenn davon ausgegangen werden kann, daß einem Aufenthalt im Inland keine ausländerrechtlichen Hinderungsgründe entgegenstehen (vgl. Dienstanweisung - DA - 63.6.1 Abs. 4, Bundessteuerblatt - BStBl - 1997 Teil 1, Seite 7 (30)) vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn eine derartige Einschränkung des Begriff des "Wohnsitzes" bzw. des "gewöhnlichen Aufenthaltes" läßt sich weder den Vorschriften der §§ 8, 9 AO noch § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG entnehmen.
Da die §§ 8 und 9 AO lediglich an die tatsächlichen Verhältnisse bzw. äußeren Merkmale anknüpfen, ist für eine einschränkende Auslegung der Begriffsbestimmungen "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" des Kindes im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG dergestalt, daß Kinder von Ausländern einen inländischen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen der Kindergeldbestimmungen grundsätzlich nur dann begründen können, wenn sie im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung sind (vgl. DA 63.6.1 Abs. 4 Satz 2, a.a.O.), kein Raum. Denn das Abstellen auf (ausländer-)rechtliche Gesichtspunkte im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen der §§ 8 und 9 AO steht im Widerspruch zu der insoweit unter tatsächlichen Gesichtspunkten vorzunehmenden Prüfung.
Gegenteiliges läßt sich auch aus der Vorschrift des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht herleiten. Zwar ist für den Bezug von Kindergeld nicht nur der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt der Eltern/eines Elternteils im Inland, sondern zusätzlich auch der des Kindes maßgebend (Stichwort: Territorialitätsprinzip: vgl. H/H/R - Bergkemper, Kommentar zum EStG und KStG, Rz. 17 zu § 63 EStG). Aber allein aus dieser Verknüpfung läßt sich die von der Arbeitsverwaltung vertretene einschränkende Auslegung der Begriffe "Wohnsitz" bzw. "gewöhnlicher Aufenthalt" nicht entnehmen. Im Gegenteil:
Vielmehr ist aufgrund der vom Gesetzgeber in § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG ausdrücklich vorgenommenen Einschränkung des Kindergeldanspruchs für Ausländer - wegen Fehlens einer entsprechenden Regelung für berücksichtigungsfähige ausländische Kinder im Rahmen des § 63 Abs. 1 EStG - davon auszugehen, daß eine derartige Einschränkung bei den zu berücksichtigenden Kindern vom Gesetzgeber gerade nicht gewollt ist. So hat gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG nur der Ausländer Anspruch auf Kindergeld, der - zusätzlich zum Inländischen Wohnsitz/gewöhnlichen Aufenthalt - im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist.
Gegen die vom beklagten Arbeitsamt - Familienkasse - vertretene Auslegung spricht zudem, daß es des vom Gesetzgeber in § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG ausdrücklich verlangten Vorliegens einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis als Anspruchsvoraussetzung für die Gewährung von Kindergeld nicht bedurft hätte, wenn im Rahmen der Bestimmungen des X. Abschnitts des Einkommensteuergesetzes - Kindergeld - ein Ausländer einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt ohnehin nur dann begründen könnte, sofern seinem Aufenthalt im Inland keine ausländerrechtlichen Hinderungsgründe entgegenstehen. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber im Hinblick auf die Verwendung der Begriffe "Wohnsitz" bzw. "gewöhnlicher Aufenthalt" in § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG bzw. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen ist. Hiergegen spricht sowohl die Verwendung einheitlicher Begriffe innerhalb des X. Abschnitts des Einkommensteuergesetzes als auch im gesamten Einkommensteuergesetz (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG).
Im Streitfall hat der Sohn ... des Kl. seinen inländischen Wohnsitz in der in ... belegenen Wohnung seines Vaters und Kl.. Denn ausweislich der Meldebescheinigung der Stadt vom 8. Oktober 1996 ist ... dort ab dem 29. Juli 1996 mit seiner alleinigen Wohnung gemeldet. Entsprechendes ergibt sich auch aus der vom Einwohnermeldeamt der Stadt ... ausgestellten "Haushaltsbescheinigung zur Vorlage beim Arbeitsamt - Kindergeldkasse -" (vgl. Bl. 36 sowie Bl. 46 der Kindergeldakte des Kl.).
2.
Der Kl. ist zudem auch Anspruchsberechtigter gemäß § 62 EStG. Denn der Kl., der türkischer Staatsangehöriger ist, hat einen inländischen Wohnsitz (vgl. § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG; ... in ...: vgl. Meldebescheinigung vom 8. Oktober 1996) und ist im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsberechtigung (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG; Bescheinigung vom 15. Juni 1990, Bl. 5 R. der Kindergeldakte des Kl.).
3.
Der Kindergeldanspruch für ... besteht - ausgehend von dem insoweit im September 1996 gestellten Antrag - ab Juli 1996, da das Kind des Kl. ausweislich der Meldebescheinigung der Stadt ... erst unter dem 29. Juli 1996 zugezogen ist (§ 66 Abs. 2 und 3 EStG).
Die Höhe der Kindergeldzahlungen richtet sich nach § 66 Abs. 1 EStG.
4.
Nach alledem war der Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (vgl. § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 1 FGO stattzugeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozeßordnung (ZPO).
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird gemäß § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO für notwendig erklärt.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zugelassen.
Gegen dieses Urteil ist die Revision zugelassen worden.