Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.02.2022, Az.: 14 Sa 602/21

Zulässigkeit einer tariflichen Regelung zum Mehrarbeitszuschlag in Abhängigkeit von der Gesamtbelastung der Arbeitnehmer; Kein Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB bei korrekter Beachtung des § 4 TzBfG

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
11.02.2022
Aktenzeichen
14 Sa 602/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 18812
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2022:0211.14Sa602.21.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Verden - 20.05.2021 - AZ: 1 Ca 88/21

Fundstelle

  • EzA-SD 18/2022, 15

Amtlicher Leitsatz

§ 7a MTV Einzelhandel Niedersachsen hat hinsichtlich der Mehrarbeitszuschläge den Leistungszweck der Vermeidung bzw. Honorierung einer bestimmten Gesamtbelastung der Arbeitnehmer. Soweit hierbei keine Unterscheidung zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten vorgenommen wird, verstößt dies nicht gegen § 4 Abs. 1 TzBfG.

Redaktioneller Leitsatz

Ist der Leistungszweck von tariflichen Mehrarbeitszuschlägen die Vermeidung bzw. die Honorierung einer bestimmten Gesamtbelastung des Arbeitnehmers, ist es im Hinblick auf § 4 TzBfG unschädlich, dass keine Zuschläge wegen Nichterreichung der von den Tarifvertragsparteien missbilligten Gesamtbelastung fällig werden. Da die Norm und der Normzweck des § 4 TzBfG nicht verletzt werden, scheidet ein Schadensersatzanspruch des Teilzeitbeschäftigten aus.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden vom 20.05.2021 - 1 Ca 88/21 - wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Der Gegenstandswert wird für das Berufungsverfahren auf 180,13 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Mehrarbeitszuschläge im Rahmen eines Teilzeitarbeitsverhältnisses.

Die Klägerin ist bei der Beklagten als kaufmännische Angestellte, zuletzt mit einer Wochenarbeitszeit von 27,29 Stunden und einem monatlichen Bruttoentgelt von 1.974,09 Euro beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für den Einzelhandel Niedersachsen vom 08.06.2012 Anwendung (Anl. K 2 zur Klagschrift). Darin heißt es u. a.:

"§ 4b Teilzeitarbeit

1. Teilzeitbeschäftigte sind Arbeitnehmer, deren vertraglich vereinbarte Arbeitszeit die tariflich vereinbarte Wochenarbeitszeit unterschreitet.

...

6. Die Teilzeitbeschäftigten sind anteilig an den tariflichen Leistungen zu beteiligen.

...

§ 5 Arbeitszeit und Pausen

1. Die regelmäßige Arbeitszeit ausschließlich der Pausen beträgt 37,5 Stunden in der Woche oder 75 Stunden in der Doppelwoche. ... Wird die regelmäßige Arbeitszeit an einzelnen Werktagen verkürzt oder verlängert, so kann diese Arbeitszeit zuschlagsfrei innerhalb von 14 Tagen ausgeglichen werden. (Satz 5:) Die über 40 Stunden hinausgehende Arbeitszeit ist gemäß § 7 Abs. 5 und 6 zu vergüten.

...

2.1 Abweichungen von § 5 Ziff. 1 sind zulässig, wenn dadurch eine im Voraus festgelegte, zusammenhängende regelmäßige Freizeit gewährt wird. ...

2.2 Eine von § 5 Ziffer 1. abweichende Regelung kann getroffen werden, sofern bei Arbeitszeitsystemen

- Arbeitszeit und Freizeit in Abschnitten von sechs Wochen oder Quartalen im Voraus geregelt werden oder

- ...

- Arbeitszeitregelungen eine systematische und im Voraus planbare Arbeitszeit- und Freizeitregelung enthalten (roulierendes Freizeitsystem, feste Wochen, Freizeittage usw.) oder

- ...

3. Abweichend von Ziff. 1. Satz 1 kann eine wöchentliche Arbeitszeit bis 40 Stunden vereinbart werden. In diesem Fall ist die über die 37,5-Stunden-Woche hinausgehende Mehrarbeitszeit bis zu 40 Stunden zuschlagsfrei zusätzlich zu vergüten.

...

§ 7a Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit

1. Mehrarbeit ist jede über die im § 5 festgelegte regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit.

...

4. Mehr- und Nachtarbeit sowie Arbeit an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie darf nur nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen angeordnet werden und ist zu leisten, es sei denn, dass der Arbeitnehmer nachweislich aus wichtigem Grund verhindert ist.

...

5. Die Vergütung der angeordneten Mehr- und Nachtarbeit sowie die Arbeit an Sonn- und Feiertagen erfolgt je Arbeitsstunde mit 1/163 des Monatsentgeltes.

Außerdem sind folgende Zuschläge zu zahlen:

...

5.2. für Mehrarbeit

25 %

5.3 für Mehrarbeit ab der fünften Mehrarbeitsstunde in der Woche

50 %

...

6. Mehr- und Nachtarbeit und die entsprechenden Zuschläge können in beiderseitigem Einvernehmen durch Freizeit abgegolten werden. Die Zuschläge nach Ziff. 5.1. sind vorrangig in Freizeit zu gewähren und können auf Wunsch des Arbeitnehmers im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber auch finanziell abgegolten werden.

..."

Im Juli 2020 erbrachte die Klägerin insgesamt 43 Stunden und 33 Minuten Arbeitsleistung über ihre vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus. Die Beklagte zahlte hierauf für sieben Minuten einen Mehrarbeitszuschlag, sodass für 43 Stunden und 26 Minuten (= 43,43 Stunden) keine Zuschläge gezahlt wurden. Hierbei handelte es sich nicht um über 40 Stunden hinausgehende Arbeitszeit gemäß § 5 Nr. 1 S. 5 MTV.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dass es sich bei diesen 43,43 Stunden um zuschlagspflichtige Mehrarbeit im Sinne des MTV handele, weil sie ansonsten unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ohne Sachgrund schlechter behandelt würde als ein vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer. Die Schwelle, von der an ein Anspruch auf Mehrarbeitszuschlag entstehe, müsse für Teilzeitbeschäftigte proportional zu ihrer individuellen Arbeitszeit abgesenkt werden. Der Anspruch berechne sich wie folgt: 43,43 Überstunden x 16,59 Euro brutto x 25 % = 180,13 Euro brutto.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 180,13 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.11.2020 zu zahlen.

Die Beklagten hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, eine rechtlich zu beanstandende Ungleichbehandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigen liege nicht vor, weil die Mehrarbeitszuschläge nach den tarifvertraglichen Regelungen dem Ausgleich besonderer Belastungen dienten und nicht lediglich den individuellen Freizeitbereich schützen sollten.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klagbegehren weiter: Aus dem Programmsatz des MTV, nach dem Mehrarbeit zu vermeiden sei, lasse sich nicht der Rückschluss ziehen, dass damit besondere Belastungen vermieden werden sollten. Genauso gut könne damit zum Ausdruck gebracht werden, dass die Mehrarbeit zu vermeiden sei, damit der Freizeitbereich geschützt werde. Dies ergebe sich etwa aus § 5 Ziffer 2.1 S. 1 MTV. Auch in § 5 Ziffer 2.2 und Ziffer 5 MTV spiele die Freizeit eine entscheidende Rolle. Besonders deutlich werde das freizeitliche Schutzwürdigkeitsverständnis auch in Anbetracht der freizeitlichen Bedeutung von Sonn- und Feiertagen und der Regelung in § 7a Ziffer 6. MTV, nach der Zuschläge nach § 7a Ziffer 5.1 MTV vorrangig in Freizeit zu gewähren seien. Darüber hinaus würden auch Frauen wegen ihres Geschlechts diskriminiert, die bekanntermaßen hauptsächlich in Teilzeit arbeiteten. Jedenfalls ergeben sich bei einer Anrechnung von 2,5 zuschlagsfrei zu arbeitenden Stunden pro Woche ein Anspruch auf Zahlung von 35,55 Stunden x 16,59 Euro x 25 % = 147,44 Euro brutto. Davon unabhängig ergebe sich der Anspruch der Anspruch auch als Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. 4 TzBfG.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Verden vom 20.05.2021 - 1 Ca 88/21 - abzuändern und

die Beklagte zu verurteilen, 180,13 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinnsatz hieraus seit dem 01.11.2020 an die Klägerin zu zahlen;

hilfsweise

die Beklagte zu verurteilen, 147,44 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 01.11.202 an die Klägerin zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Zu Recht ist das Arbeitsgericht davon ausgegangen, dass der Klägerin der streitgegenständliche Anspruch auf Mehrarbeitszuschläge für 43,43 im Juli 2020 geleistete Stunden nicht zusteht. Ein solcher Anspruch besteht auch nicht anteilig gemäß dem Hilfsantrag der Klägerin.

Es kann dahinstehen, welche Methodik für die Prüfung, ob Teilzeitbeschäftigte hinsichtlich des Entgelts benachteiligt werden, anzuwenden und ob in einem ersten Schritt vorliegend von einer Ungleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten bei der Leistung von Zuschlägen für Mehrarbeit auszugehen ist (vgl. die EuGH-Vorlage in BAG 11.11.2020 - 10 AZR 185/20 -). Denn jedenfalls liegt vorliegend ein sachlicher Grund für eine anzunehmende Ungleichbehandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 TzBfG vor. Leistungszweck der Zuschläge für Mehrarbeit nach § 7a Nr. 5.2 und 5.3 MTV ist der Ausgleich einer besonderen Belastung und nach Möglichkeit ihre Vermeidung.

Gemäß § 5 Nr. 1 MTV beträgt die regelmäßige Arbeitszeit 37,5 Stunden in der Woche. Diese Stundenzahl ist als Vollzeitarbeit im Sinne der Regelungen des Manteltarifvertrags anzusehen. Teilzeitarbeit ist daher gemäß § 4b Nr. 1 MTV jede dieses Maß unterschreitende Stundenzahl. Die Regelung in § 5 Nr. 3 MTV stellt insoweit eine Ausnahme von der regelmäßigen Vollzeitarbeit dar, ebenso wie die Regelung für Kraftfahrer usw. in § 5 Nr. 6 MTV.

Eine Überschreitung der Vollzeittätigkeit von 37,5 Wochenstunden allein führt noch nicht zu einer Verpflichtung des Arbeitgebers, einen Zuschlag zu bezahlen. Erst wenn die Arbeitszeit über 40 Stunden hinausgeht, wird der Zuschlag ausgelöst, wie sich aus dem redaktionell noch nicht auf § 7a MTV angepassten § 5 Nr. 1 S. 5 und § 5 Nr. 3 MTV ergibt. Daher wird somit erst ab der 40. Stunde ein Zuschlag von 25 % und ab der 45. Stunde ein Zuschlag von 50 % ausgelöst, § 7 a Nr. 5.2 und 5.3 MTV.

§ 7a Nr. 4 MTV enthält eine ausdrückliche Regelung, nach der Mehrarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden ist. Insoweit wird mit den Regelungen zu Zuschlägen für Mehrarbeit ab 40 Wochenstunden nicht die Einschränkung des individuellen Freizeitbereichs durch eine Abweichung von der individuell vereinbarten Arbeitszeit, sondern die Überschreitung eines bestimmten wöchentlichen Arbeitszeitvolumens honoriert, das gerade nicht an die tarifvertragliche regelmäßige Arbeitszeit von 37,5 Wochenstunden für Vollzeitbeschäftigte anknüpft. Das Arbeitszeitgesetz sieht insbesondere aus Gründen des Gesundheitsschutzes eine Begrenzung der täglichen Arbeitszeit vor und lässt Ausnahmen nur unter bestimmten Bedingungen zu. Die Tarifvertragsparteien gingen ersichtlich davon aus, dass das Überschreiten der Arbeitszeit ab der 40. bzw. der 45. Stunde unter Berücksichtigung der sich seit Jahrzehnten im deutschen Arbeitsleben tarif- und einzelvertraglich herausgebildeten Gepflogenheiten eine so erhebliche Inanspruchnahme des Arbeitnehmers darstellt, dass sie eine Honorierung bzw. einen Ausgleich zu erfahren hat und gleichzeitig einen nicht unerheblichen finanziellen Anreiz für den Arbeitgeber gibt, diese Inanspruchnahme nach Möglichkeit zu vermeiden.

Soweit die Klägerin insbesondere in ihrer Berufungsbegründung verschiedene Regelungen im MTV hervorgehoben hat, die einen Bezug zu "Freizeit" haben, lassen diese nicht erkennen, dass hiervon die klare Regelungskette von § 5 Nr. 1, Nr. 3 iVm § 7a Nr. 1, Nr. 4, Nr. 5.2. und Nr. 5.3 MTV erfasst und in Frage gestellt werden soll. Es handelt sich schlicht um andere Regelungsgegenstände. Wenn der MTV an anderer Stelle planbare Freizeit bzw. einen Freizeitausgleich anstelle einer Abgeltung regelt, lässt dies keinen Schluss auf den Zweck der streitgegenständlichen Mehrarbeitszuschläge zu.

Wenn aber der Leistungszweck der Mehrarbeitszuschläge nach dem MTV die Vermeidung bzw. Honorierung einer bestimmten Gesamtbelastung des Arbeitnehmers ist, fehlt es auch an einer Anspruchsgrundlage für den Hilfsantrag der Klägerin, die sich insoweit 2,5 Stunden anrechnen lassen würde, weil die vom Tarifvertrag missbilligte Gesamtbelastung nicht erreicht wird. Mangels einer Verletzung von § 4 TzBfG scheidet weiterhin ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB aus.

Auch die von der Klägerin angeführte mittelbare Benachteiligung als Frau begründet ihren Anspruch nicht. Selbst wenn man davon ausginge, was vorliegend nicht feststellbar ist, dass Vollzeitbeschäftigte die genannte Belastung mit dem Überschreiten der zuschlagfrei abzuleistenden 2,5 Stunden in nennenswertem Umfang häufiger erfahren sollten, als Teilzeitbeschäftigte wie die Klägerin, wäre ihr der Zuschlag weder mittelbar noch unmittelbar wegen des geringeren Umfangs ihrer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit und ihres Geschlechts verwehrt, genauso wenig, wie etwa ein Erschwerniszuschlag für länger andauernde Arbeiten bei erheblichem Lärm und Staub geringfügig Teilzeitbeschäftigte diskriminiert, die diesem Ungemach nur kurzzeitig und weniger gesundheitsschädlich und deshalb nicht zuschlagpflichtig ausgesetzt sind.

Auch eine Würdigung des weiteren Sachvortrags der Parteien, von deren Darstellung im Einzelnen Abstand genommen wird, führt zu keinem abweichenden Ergebnis.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Zulassung der Revision folgt aus § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG im Hinblick auf die Entscheidung des 10. Senats vom 11.11.2020 - 10 AZR 185/20 -.