Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 07.05.2008, Az.: 8 C 39/08
Vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin; Volle Ausschöpfung von Aufnahmekapazitäten einer Hochschule; Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung; Verordnung über die Kapazitätsermittlung zur Vergabe von Studienplätzen als Maßstab der Bemessung der Zulassungszahl; Berechnung einer jährlichen Aufnahmekapazität auf der Grundlage der Daten eines Stichtags; Begrenzung einer Kapazität mangels ausreichender Patienten für einen klinischen Studienabschnitt
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 07.05.2008
- Aktenzeichen
- 8 C 39/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 17825
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2008:0507.8C39.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO
- § 123 Abs. 3 VwGO
- § 294 ZPO
- § 920 Abs. 2 ZPO
- § 2 S. 2 KapVO
- § 5 Abs. 1 KapVO
- § 5 Abs. 2 KapVO
- § 17 Abs. 1 KapVO
Verfahrensgegenstand
Zulassung zum Studium der Humanmedizin (Klinische Semester) - Sommersemester 2008 -
Redaktioneller Leitsatz
Unterschreitet die - rechnerisch korrekt ermittelte - tatsächliche Kapazität einer Hochschule in einem bestimmten Studienbereich die festgesetzte Zulassungszahl, kommt ein Anspruch auf die Vergabe von Studienplätzen an weitere Studienbewerber von vornherein nicht in Betracht.
Dabei ist hinsichtlich der Zulassung zum Studium der Humanmedizin im Bereich der klinischen Medizin die Berücksichtigung eines Ausbildungsengpasses zur Begrenzung der Aufnahmekapazität nicht zu beanstanden.
In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Göttingen - 8. Kammer -
am 07. Mai 2008
beschlossen:
Tenor:
- I.
Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes werden abgelehnt.
- II.
Die Antragsteller/innen tragen die Kosten des jeweiligen Verfahrens.
- III.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für jedes Verfahren auf 5000,-- EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen und Antragsteller (im Weiteren: Antragsteller) begehren im Wege der einstweiligen Anordnung ihre vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin an der Antragsgegnerin zum Sommersemester 2008 auf einem Vollstudienplatz im 1. klinischen Fachsemester. Die Antragsteller zu 4. und 5. begehren darüber hinaus hilfsweise die Zulassung zum Studium im 4. bzw. 1. vorklinischen Semester. Zur Begründung ihrer Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes tragen die Antragsteller im Wesentlichen vor, die Antragsgegnerin schöpfe ihre Aufnahmekapazität nicht aus und sei in der Lage, über die (durch Verordnung) festgesetzte Zahl von zu vergebenden Studienplätzen hinaus weitere Studienbewerber aufzunehmen. Wegen des Vorbringens im Einzelnen wird auf die Antragsbegründungen verwiesen. Die Antragsgegnerin beantragt die Ablehnung der Anträge. Unter Vorlage von Kapazitätsberechnungsunterlagen trägt sie vor, sie habe ihre Ausbildungskapazität bezüglich der Vollstudienplätze ausgeschöpft.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Generalakten Humanmedizin Sommersemester 2008 Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Grundlage dieses Beschlusses gewesen.
II.
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung haben keinen Erfolg.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Die besondere Dringlichkeit (Anordnungsgrund) einer solchen Entscheidung sowie ein Anspruch auf Zulassung zum Studium wegen nicht vollständig ausgenutzter Aufnahmekapazität (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen ( §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Die Zahl der bei der Antragsgegnerin im 5. und in höheren Semestern des Studiengangs Humanmedizin zu vergebenden Studienplätze ist vom Nds. Ministerium für Wissenschaft und Kultur für das Sommersemester 2008 auf jeweils 136 Studienplätze festgesetzt worden (§ 1 Abs. 1 i.V.m. Anl. 1, Abschn. II B, Universität E., der Verordnung über Zulassungszahlen für Studienplätze zum Wintersemester 2007/2008 und zum Sommersemester 2008 vom 3.7.2007, Nds. GVBl. S. 248 ff. - ZZ-VO 2007/2008 -).
Maßstab für die Überprüfung der von der Antragsgegnerin ermittelten Zulassungszahl ist die Verordnung über die Kapazitätsermittlung zur Vergabe von Studienplätzen vom 23.06.2003 (Nds. GVBl. S. 222) - KapVO -. Gegen die Rechtmäßigkeit der in diesen Verfahren anzuwendenden Vorschriften der KapVO, insbesondere gegen das Curricularnormwert- Verfahren, bestehen keine durchgreifenden Bedenken (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18.09.1981 - 7 N 1.79 -, BVerwGE 64, 77). Für die Berechnung geht die Kammer von Folgendem aus: Gemäß § 5 Abs. 1 KapVO wird die jährliche Aufnahmekapazität auf der Grundlage der Daten eines Stichtags ermittelt, der nicht mehr als neun Monate vor Beginn des Zeitraums liegt, für den die zu ermittelnden Zulassungszahlen gelten (Berechnungszeitraum). Vorliegend entspricht der Berechnungszeitraum dem Studienjahr 2007/2008, das mit dem 01.10.2007 begonnen hat. Die Antragsgegnerin hat als Stichtag den 01.02.2007 gewählt, was nicht zu beanstanden ist. Nach dem Stichtag eintretende wesentliche Änderungen der Berechnungsdaten sind gemäß § 5 Abs. 2 KapVO nur für die Zeit bis zum Beginn des Berechnungszeitraums zu berücksichtigen. Die Kammer sieht sich aufgrund dieser Regelung gehindert, wesentliche Änderungen zu berücksichtigen, die sich nach dem 30.09.2007 ergeben haben. Sie folgt insoweit der Rechtsprechung des Nds.OVG (Beschluss vom 10.11.2003 - 2 NB 155/03 u.a. -), auf deren Grundlage sie ihre frühere Praxis aufgegeben hat, auch nach Beginn des Berechnungszeitraums eintretende wesentliche Änderungen zu berücksichtigen.
Die Berechnung aufgrund der KapVO, die bis zu vier Stellen hinter dem Komma und ohne Rundung durchgeführt wird, ergibt bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung für den von den Antragstellern gewählten Studiengang für das Studienjahr 2007/2008 (Wintersemester 2007/2008 sowie Sommersemester 2008) eine Aufnahmekapazität von 133 bzw. 134 Vollstudienplätzen im Bereich des klinischen und jeweils 134 Vollstudienplätzen im Bereich des vorklinischen Studienabschnitts (so bereits Beschluss der Kammer vom 17.01.2008 - 8 C 648/07 u.a. -, S. 26ff).
Die Aufnahmekapazität wird grundsätzlich anhand der Ausstattung der Lehreinheit mit Lehrpersonal unter Berücksichtigung des jeweiligen Lehrdeputats berechnet (personalbezogene Kapazität,§§ 1, 3 Abs. 1, 6 ff. KapVO i.V.m. §§ 3 ff. der Verordnung über die Lehrverpflichtung an Hochschulen - LVVO - vom 02.08.2007, Nds. GVBl. S. 408, die am 01.09.2007 in Kraft getreten ist und deren Neuregelungen gemäß § 5 Abs. 2 KapVO als wesentliche Änderungen zu berücksichtigen sind). Die Aufnahmekapazität der Antragsgegnerin wird durch einen Ausbildungsengpass im klinischen Studienabschnitt begrenzt, weil die zu Ausbildungszwecken im klinischen Studienabschnitt zur Verfügung stehende Zahl von Patienten zu gering ist (patientenbezogene Kapazität, § 17 Abs. 1 KapVO). Die ständige Rechtsprechung der Kammer zur Berücksichtigung eines Ausbildungsengpasses ist zuletzt durch Beschluss des Nds.OVG vom 10.05. 2004 - 2 NB 856/04 - bestätigt worden.
Zur Berechnung der patientenbezogenen Kapazität wird zunächst ermittelt, wie viele der der Antragsgegnerin zur Verfügung stehenden Betten vollständig belegt waren (tagesbelegte Betten). Die Kammer leitet die Zahl der tagesbelegten Betten - wie auch die Antragsgegnerin - aus der für den Zeitraum eines Jahres ermittelten Zahl von Pflegetagen her und dividiert diese durch die Zahl der Tage im Kalenderjahr. Maßgeblich sind grundsätzlich die Ergebnisse des dem Berechnungszeitraum vorangegangenen Kalenderjahres, sofern diese Werte den aktuellen Stand einer kontinuierlichen Entwicklung wiedergeben, die sich in der Zukunft voraussichtlich fortsetzen wird; andernfalls ist der Mittelwert der vergangenen drei Jahre zu bilden. Die Zahl der tagesbelegten Betten hat sich in den Jahren 2004 bis 2006 wie folgt entwickelt: 2004: (411.850 Pflegetage : 366 =) 1.125,2732; 2005: (385.784 Pflegetage : 365 =) 1.056,9424; 2006: (378.836 Pflegetage : 365 =) 1.037,9068. Da die Zahlen der drei Jahre eine kontinuierliche Entwicklung widerspiegeln, geht die Kammer für die Kapazitätsermittlung vom Wert des Jahres 2006 (1.037,9068 tagesbelegte Betten) aus.
Hiervon können lediglich 15,5 v. H. für die Ausbildung herangezogen werden (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 KapVO). Daraus ergibt sich eine (vorläufige) patientenbezogene Kapazität von 160,8755 Studienplätzen. Ist die so errechnete patientenbezogene Ausbildungskapazität niedriger als die personalbezogene Kapazität, erhöht sie sich um jeweils einen Platz pro 1.000 poliklinische Neuzugänge, jedoch höchstens um 50 v. H. (§ 17 Abs. 1 Nr. 2 Kap- VO). Das Nds. Ministerium für Wissenschaft und Kultur hat den Höchstsatz von 50 v. H. aufgeschlagen. Dadurch erhöht sich die jährliche patientenbezogene Aufnahmekapazität auf insgesamt 241,3132 (160,8755 + 80,4377) Studienplätze.
Dieses Berechnungsergebnis ist um die durch Vertrag mit dem Krankenhaus Lenglern in die Ausbildung einbezogenen 26 Studienplätze zu erhöhen. Für die klinischen Semester ergibt sich somit eine Jahreskapazität von (241,3132 + 26 =) 267,3132, gerundet 267 Vollstudienplätzen. Weil für den Studiengang Humanmedizin während eines Jahres zwei Vergabetermine bestehen, wird die Jahreskapazität gemäß § 2 S. 2 KapVO auf die einzelnen Vergabetermine aufgeteilt (vgl. Nds.OVG, Beschluss vom 26.06.2002 - 10 NB 93/02 u.a. -). Sie hat somit - abweichend von der Festsetzung in der ZZ-VO 2007/2008 auf 136 Plätze - bezogen auf das gesamte Studienjahr einen Umfang von 133 bzw. 134 Vollstudienplätzen pro klinisches Semester.
Die tatsächliche Kapazität der Antragsgegnerin im Bereich der klinischen Medizin unterschreitet daher die festgesetzte Zulassungszahl. Im Übrigen hat die Antragsgegnerin laut Mitteilung vom 07.05.2008 im laufenden Sommersemester mindestens 150 und damit eine wesentlich höhere Anzahl von Studierenden als kapazitätsrechtlich geboten auf Vollstudienplätzen im 1. klinischen Fachsemester zugelassen. Dies dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass eine die rechnerisch vorhandene Kapazität erheblich überschreitende Anzahl von Prüfungsabsolventen mit Vollplatz in das 1. klinische Fachsemester zuübernehmen war. Weil die Anzahl der Inhaber von Vollstudienplätzen im klinischen Studienabschnitt die rechnerisch vorhandene Kapazität in der Vergangenheit jeweils z.T. erheblich überschritten hat und gleiches auch derzeit der Fall ist (vgl. die Angaben zu den sechs klinischen Fachsemestern im o. g. Schriftsatz vom 07.05.2008), hält die Kammer eine Schwundberechnung für die klinischen Fachsemester, wie sie die Antragsgegnerin für das laufende Studienjahr erstmals durchgeführt hat, für entbehrlich.
Weitere Kapazitäten stehen somit nicht zur Verfügung, so dass der Hauptanträge der Antragsteller keinen Erfolg haben.
Soweit die Antragsteller zu 4. und 5. hilfsweise eine außerkapazitäre Zulassung in das 1. bzw. 4. vorklinische Semester erstreben, sind die Anträge ebenfalls abzulehnen. Für Studierende, die bereits den Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung absolviert haben, besteht kein Rechtsschutzinteresse dahingehend, nochmals in ein niedrigeres Fachsemester eines Studienabschnitts eingestuft zu werden, dessen Wissensstoff sie bereits kennen und dessen Scheine und Prüfungen sie bereits absolviert haben (vgl. VG Sigmaringen, Beschluss vom 31.03.2008 - NC 6 K 318/08 -, [...]; ebenso VG Ansbach, Beschluss vom 22.03.2006 - AN 2 E 05.10669 -). Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Studienbewerber auf seinen Anrechnungsstatus zulassungsrechtlich verzichten kann, um seine Zulassung zu erreichen; in der Bewerbung für ein niedrigeres Fachsemester kann demgemäß ein - zumindest teilweiser - Verzicht auf einen bereits erworbenen Zulassungs- und Ausbildungsstatus liegen, sodass die Frage, in welches Fachsemester der Studienbewerber aufzunehmen ist, grundsätzlich allein von seinem Antrag abhängt (vgl. VG Sigmaringen, a.a.O.., m.w.N.). Dies kann jedoch bei einem außerkapazitären Streit jedenfalls dann nicht gelten, wenn das Studium sowohl ausbildungs- (§ 1 Abs. 3 ÄAppO) als auch kapazitätsrechtlich (§§ 7 Abs. 3, 18 KapVO VII) in getrennte Studienabschnitte aufgeteilt ist, die von unterschiedlichen Lehreinheiten angeboten werden, wenn der Studienbewerber nochmals in den bereits vollständig und erfolgreich absolvierten Studienabschnitt zurückgestuft werden möchte und wenn zudem - wie hier - für die klinischen Fachsemester niedrigere Zulassungszahlen bzw. Auffüllgrenzen festgesetzt sind als für die vorklinischen Fachsemester. Im Übrigen könnten die Antragsteller über den "Umweg" der späteren ausbildungsrechtlichen Höherstufung durch eine zunächst erfolgende Zulassung in ein vorklinisches Semester die im Grunde begehrte spätere Zulassung für die Klinik ohnehin nicht erreichen, weil die erreichbare einstweilige Anordnung allenfalls bis zum Abschluss der Vorklinik reicht.
Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Rechtsgrundlage in den §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und entspricht der ständigen Rechtsprechung der niedersächsischen Verwaltungsgerichte (u.a. Nds. OVG, Beschluss vom 3.5.2005 - 10 OA 217/05 -).